"Nehmt die Lappen ab, wir sind fast da."
Boss Nair war ein harter Kerl, bullig und wettergegerbt. Er zog sich das rote Halstuch von Mund und Nase und steckte sich eine dicke Zigarre an. Aber Boss Nair war auch ein fairer Kerl, dachte sich der Vagabund, während Bricks und der Bub, den sie nur '32' nannten, ebenfalls ihre Masken lösten. Ohne den Führungswechsel im Trupp wäre sein eigener Kopf inzwischen vom Henker des Aufsehers abgetrennt worden, da war er sich ziemlich sicher. Gewissermaßen konnte er nicht nur Nairs Fairness dankbar sein, sondern auch der Schwäche des Vorgängers, und, streng genommen, der Ungnade des Aufsehers. Der Vagabund befand, dass es vermutlich das Beste war, nicht zu genau darüber nachzudenken. Sein Halstuch ließ er trotzdem noch oben.
"Sicher dass wir dem Kerl all unsere Gesichter zeig'n wollen, Boss?", warf er misstrauisch ein, entschärfte seinen Zweifel an der Entscheidung des Bandenführers allerdings hastig: "Nur so'n Gedanke..."
"Würdest du mit einem Geschäfte machen, der dir nich'ma sein Gesicht zeigt?" Das war eine gute Frage, und Boss Nair blieb immerhin vernünftig. Das konnte man nicht von allen Anführern sagen, die der Vagabund in seiner Laufbahn erlebt hatte. "Scheiße, er zeigt uns sein Gesicht und wir zeigen ihm uns're. Wenn er Mucken macht od'r wir denken er is nich' sauber, wird er erschoss'n. Wir sind doch in kein'm Grosch'nroman in dem die Räuber nur mit'm Halstuch rum renn'n un' die Piraten Hakenhände ham.."
Dem Vagabunden fielen dennoch tausend Gründe ein, ihrem neuen Geschäftspartner nicht zu vertrauen, doch er behielt sie brummend für sich. "Klar, wie du meinst.", antwortete er und entblößte schließlich ebenso sein Gesicht. Das schmutzige rote Halstuch stopfte er sich unter den Gürtel. Bricks sagte irgendwas dazu, aber er horchte nicht hin. 32 murmelte schon die ganze Zeit über in seinen nicht vorhandenen Bart und kaute nervös auf seiner Unterlippe herum, wie er es überhaupt die meiste Zeit des Tages zu tun schien. Der weißhaarige Junge war ein Schwächling, und vor allem war er Frischfleisch. Das waren Gründe genug, ihn zu verachten - aber die Führungsebene hatte beschlossen, dem Hosenscheißer, wie der alte Schnitzer ihn immer nur nannte, eine Chance zu geben. So fing jeder mal an, und wie jeder andere zuvor musste man eben Scheiße fressen, bis irgendwann das nächste Frischfleisch kam. Oder auch ein bisschen länger. Der Vagabund fand das nur gerecht.
Schon von Weitem hatten sie ihr Ziel erspähen können, obwohl die Abenddämmerung bereits einsetzte. Ein einst stolzes Herrenhaus auf einem grünen Hügel, mitten in den Gendarran-Feldern. Nun war es eine baufällige Ruine. Hohe, verkohlte Hecken schirmten die Sicht auf eingestürzte Dächer und zerstörtes Mauerwerk ab. Seltsam isoliert war die Lage in einem so unruhigen Landstrich, und womöglich lag darin auch der Grund für den aktuellen Zustand des Anwesens.
Der Weg schlängelte sich über einen kleinen Privatweg den Hügel hinauf. Es gab wenige Bäume in der Gegend, und so hatten sie die große Landstraße, welche unterwegs gemieden worden war, jetzt direkt im Rücken. Obwohl dem Vagabunden nach einem langen Marsch alles wehtat, sah er immer wieder über die Schulter und bedachte die sich entfernende Straße angespannt mit Blicken. Er hielt Ausschau nach durchreisenden Händlern oder Seraphen auf Patrouille, die sie hier sehen könnten. Doch es kamen keine, und darüber konnte man von Glück sprechen. Er fragte sich, was der Boss wohl getan hätte, wenn man sie jetzt für eine Wegkontrolle angehalten hätte. Hätte, hätte, Kerkerkette. Er zwang sich dazu, sich auf den Weg voraus zu konzentrieren.
Um seine Nervosität zu vertuschen, plauderte er gedämpft drauf los: "Ich weiß, was das hier für'n Ort ist. Habt ihr von diesem Anwes'n gehört, das niedergebrannt ist, nachdem Piraten angegriff'n haben? Angeblich ham' die Seraphen hier noch für Wochen die Ruine durchsucht. Verfickte Taubenhelme. Ich wett', hier war irgendwas Großes am Laufen. Seltsame Wahl für'nen Umschlagsort."
"Hrm.", brummte Nair, während sie weiter gingen. "Vielleicht war'er Teil der Piraten. Dann isses vertrautes Terrain für ihn."
"Hmm."
"Wem hat das denn gehört?", erkundigte 32 sich mit seiner zaghaften Stimme. Ängstlich hielt der Bursche nach links und rechts Ausschau. "Denkst, dass hier Seraphen auftauchen?"
"Irgendein Adelsgeschlecht. Rodenbich oder so?" Der Vagabund zuckte in demonstrativem Desinteresse mit den Achseln und ließ die zweite Frage unbeantwortet, um nicht zu zeigen, dass er genau dieselbe Sorge hegte.
"Man erzählt sich auch, dass dabei ein paar Piraten draufgegangen sind." Das war Daniel Bricks. Viele hatten damit gerechnet, dass er der neue Boss werden würde. Ein bäriger Schlägertyp in schwerer Rüstung. Er trug einen Irokesenschnitt und war berüchtigt für seine beherzte Liebe zur Gewalt. Aber Bricks war auf Einsatz gewesen, als der Aufseher seine Geduld mit Telvin Ohnebart verloren hatte, und so waren es Nairs Hände gewesen, die dem kränklichen Versager, welcher seinerseits einen unvorsichtigen ersetzt hatte, das Leben aus dem Leib würgten. Bricks störte sich daran vermutlich wenig, solange er weiter Schandtaten verüben konnte. "Vielleicht wollte man da Jemanden... mit großem Bums los werden?"
Der Vagabund zuckte wieder nur mit den Achseln. Sie kamen am Tor an, oder besser gesagt an dem schäbigen Abklatsch eines solchen. Die Pforte war behelfsmäßig aus alten Holzresten zusammen gezimmert und in Angeln gehoben worden, die wahrscheinlich einmal etwas Verlässlicheres gehalten hatten. Es standen nichteinmal Wachen draußen. Boss Nair entholsterte gelassen seinen völlig übertrieben verzierten Revolver und kontrollierte die goldgravierte Waffe. "Eure Waff'n bereit?", knurrte er nach hinten.
"Jo.", sagte der Vagabund, und packte seinen alten Hexerstab mit den vielen rostigen Metallringen und runenbemalten Stoff-Fetzen fester.
"Hrm.", brummte Bricks nur zustimmend.
32 linste auf seine abgegriffene Steinschlosspistole herab, umfasste vorsichtshalber den Griff und prüfte mit der Hand den Sitz eines mickrigen Messers, das er stets in seinem Mantel verborgen trug, und das ihm im Falle eines Hinterhaltes nicht das Mindeste nutzen würde. "Joa..", murmelte der Bursche unsicher, während er am Tor empor sah.
"Dann woll'mer ma'." Boss Nair spuckte trotz qualmender Zigarre im Mundwinkel formschön zur Seite aus, steckte seinen Revolver ebenso furchtlos wieder fort, wie er ihn gezogen hatte, und drückte das Tor auf. Die drei anderen folgten ihm mit einigem Abstand.
Auf der Innenseite der angeschlagenen Hecke konnten sie sehen, dass von dem Herrenhaus selbst wirklich kaum noch mehr als die Grundmauern übrig geblieben waren. Es sah danach aus, als hätte man eine ganze Menge Trümmer fortgeschafft, und überall standen Baugerüste. Nur Arbeiter waren keine zu sehen. Dafür zwei Männer, die an einem ruinierten Durchgang zum Innenhof der Anlage herumlungerten. Als aufmerksame Wachtposten konnte man sie beileibe nicht bezeichnen - im Lager der Truppe hätten sie schnell ihre Köpfe verloren, wenn der Aufseher in der Gegend war. Beide Männer waren offensichtlich Piraten, oder entstammten ihrer Aufmachung nach zumindest den schlechteren Löwensteiner Hafenvierteln - das konnte man sehen... und auch riechen, als die Vierergruppe auf sie zutrat. Nicht dass sie selbst nach Rosen geduftet hätten. Bricks spielte am Griff seines schweren Streitkolbens herum, als sie vor den Wachen zum Stillstand kamen.
"'N'abend Mädels.", grüßte Boss Nair. "Wir woll'n zu euerm Boss."
"Seid ihr die Taschentuchbrigade?", krächzte der rechte Pirat und erntete dafür das Beifallgelächter des linken. "Der Kapitän ist im Hof. Er wartet scho' auf euch."
32 murmelte schon wieder irgendeinen nutzlosen Unsinn vor sich hin, und der Vagabund hörte garnicht erst hin. Er war zu sehr damit beschäftigt, den provokanten Piraten ein abfälliges Schnauben und einen grimmigen Blick zu schenken. Für diesen Job, immerhin, hatte Nair sie mitgenommen.
"Hm-hm.." Der Boss selbst blieb lässig, wie fast immer. Er stapfte zwei gemächliche Schritte weit nach vorne und saugte kräftig an der dicken Zigarre. Dann pustete er den Qualm in Richtung des lachenden Piraten, schnipste das noch glimmende Rauchwerk in Richtung von dessen vorlautem Kollegen und stiefelte schlicht zwischen ihnen hindurch.
"Ohh..", lachte jetzt auch der sprechende Pirat. "Jetzt habt ihr es uns gezeigt."
"Hast Mumm, Großer.", sprach Nair, während er die wenigen Treppenstufen nahm, ohne sich umzusehen. "Gefällt mir."
Der nicht länger vorhandene Flur des geräumigen Durchganges führte sie in den ebenfalls recht verwüstet anzuschauenden Innenhof, der sicher einmal ein ansehnlicher Prachtgarten gewesen war. Doch es bot sich ein seltsames Bild. Inmitten der Ruinen stand ein Gartentisch mit zwei Stühlen unter einem hübschen roten Sonnenschirm, und über den Hof selbst verteilt lungerten weitere Piraten herum, die sich unterhielten, miteinander lachten, Rum soffen und den Neuankömmlingen kaum Beachtung zollten. Der Herzschlag des Vagabunden hatte einen winzigen Aussetzer und pochte dann schneller, als er sich blinzelnd umsah. Mindestens ein Dutzend der Löwensteiner Halunken. Das war nicht vereinbart gewesen, und das konnte Nichts Gutes bedeuten. Er straffte seine Schultern und sah sich wachsam in alle Richtungen um. Es waren noch zwei große, abgeladene Ochsenkarren zu entdecken, beladen mit schweren Frachtkisten.
"Hm." Bevor man Zeit hatte, wirklich unruhig zu werden, erhob Boss Nair auch schon wieder die Stimme. Man hätte fast meinen können, er besäße ein Gespür dafür. "Haltet die Augen offen.", trug er ihnen auf und stiefelte ohne großes Zögern in den Hof hinab, auf den hergerichteten Gartentisch zu.
"So viele... so viele Piraten...", brach es stammelnd aus 32 hervor, während er sich mit großen Augen umblickte. Der Vagabund war genauso nervös wie er, nur hatte er schon vor Langem gelernt, das der Außenwelt nicht zu zeigen.
"Und alle stinken nach Rum und Pisse." Bricks fürchtete sich nicht, er stiefelte dem Boss bereits hinterher. Vermutlich hoffte er noch darauf, ein paar Köpfe einschlagen zu können. Auch er schaute sich um, allerdings nur, um einigen der Piraten herausfordernde Blicke zuzuwerfen. "Oder ist es diese Ruine?"
"Mh-hm.", machte der Vagabund noch, dem Boss hinterher, bevor er den eingeschüchterten Jungen neben sich mit einem finsteren Blick bedachte, indem auch sie beide die nächsten Stufen hinab in den Hof traten. "Such' mal deinen Arsch in der Hose.", zischte er dem anderen dabei leise und feindselig zu. "Auftreten is' hier alles." 32 funkelte ihn daraufhin verkniffen an, traute sich in seiner schwachen Wut allerdings nicht, etwas zu erwidern. Das war gut so, denn der Vagabund war schon weiter gegangen, um sich seitlich hinter Boss Nair in Position zu begeben. Sie alle taten das.
Largo Goldklinge lungerte auf einem der Stühle unter dem Sonnenschirm herum, das Holzbein ausgestreckt. Sein alberner Freibeuterhut mit den langen Federn lag auf dem Tisch. Er sah ihnen allen - eigentlich aber nur Nair - bereits schmunzelnd entgegen, und der Vagabund erkannte den Hehler noch vom letzten Treffen, das im Sumpf stattgefunden hatte.
"Das erste Ma' alleine und's zweite mit halb Löwenstein, wie ich sehe." Es sprach nur der Boss. So gehörte sich das, und keiner stellte das je infrage. Zumindest keiner, der seinen Kopf gerne behalten wollte.
"Ich kann ja schlecht die Ware allein herbringen, hm?" Largo, dessen braunes Haar ihm lang auf die Schultern fiel, nickte gen der beiden Karren hinüber.
"Wenn ich mich recht erinner'-", sagte Nair, "-hatten wir'ne Flasche Rum vereinbart."
"Ihr gefallt mir." Der Korsarenkapitän grinste immer noch vor sich hin, ziemlich dämlich, wie der Vagabund insgeheim fand. Als Largo den ausladenden Hut beiseite zog, kamen daruner die vom Boss angesprochene Flasche und eine geladene Pistole zum Vorschein. "Erst wird getrunken, dann über das Geschäft gesprochen."
"Aye." Boss Nair trat an den Tisch heran. "..'ch habe Jemanden dabei, der sich die Waffen ansehen wird." Das brachte den Vagabunden zum Blinzeln. Er linste dann jedoch kurz in Richtung Bricks hinüber und nickte für sich selbst.
"Geht klar. Ich habe aber unsere Vereinbarung etwas abgeändert." Goldklinges Worte saugten alle Aufmerksamkeit magisch wieder nach vorn. Boss Nair verschränkte seine muskelbepackten Arme und starrte schweigend drein, aber Largo lachte nur leise, fischte statt der Flasche sein Schießeisen von der Tischplatte und erhob sich lässig. "Wisst ihr, ich dachte mir, mit Seraphen-Waffen seid ihr sehr auffällig.. also habe ich noch etwas mehr mitgebracht."
"Hrm-hrm. Ich höre." Boss ließ sich nicht beeindrucken, aber der Vagabund spürte, wie sich jede Faser seines eigenen Körpers anspannte. Er hielt seinen Stab gepackt wie schon die ganze Zeit über, war aber bereit, den ersten Zauber zu schleudern, sobald der schmierige Piratenkapitän eine falsche Bewegung machte.
Largos kleine Spielerei gipfelte allerdings darin, dass er seine Pistole schlicht ins Holster an der Hüfte gleiten ließ. "Seht lieber.", sagte er, bevor er gen der Ochsenkarren im Hintergrund losstapfte. Für einen Mann, dessen rechtes Bein mit einem hölzernen Stumpf ersetzt worden war, bewegte er sich überraschend unbeschwert. Der Kapitän war ein beschissener Angeber, so viel war schonmal sicher.
Während sie Goldklinge folgten, warf der Vagabund Bricks einen weiteren Seitenblick zu, doch der zuckte nur mit den Schultern und erzeugte dabei ein Klackern und Rasseln schwerer Panzerung. Sie blieben ein Stück im Hintergrund stehen. Ringsum schienen Largos Gefolgsmänner ihnen kaum Beachtung zu schenken. Die schäbigen Seeleute schwätzten und soffen einfach weiter und wirkten wenig aufmerksam, aber das verschaffte dem Vagabunden kein größeres Vertrauen in die Situation. Die Ruinen ringsum konnten den überschaubaren Innenhof binnen kürzester Zeit in einen Kessel des Todes verwandeln. Er hatte einfach schon viel zu viele schiefgegangene Deals erlebt, um Vertrauen an den Tag zu legen.
"Soetwas bekommt ihr nur von dem Piraten Eures Vertrauens.", sagte Largo passenderweise. Er nickte zweien seiner Männer zu, die daraufhin eine schwere Kiste vom vorderen Karren hievten und diese mit einem dumpfen Wummern zu seinen Füßen abstellten. Boss Nair stand schon mit vorne und gab jetzt 32 einen stummen Wink. Nachdem der schmächtige Bursche sich nach vorn getraut hatte, deutete Nair auf die Kiste, und nachdem deren Abdeckung aufgehebelt worden war, machten sie sich gemeinsam an die Inspektion. Der Vagabund glaubte, nicht richtig zu sehen. Ungläubig blinzelte er nochmals zu Bricks, aber der Bandenoffizier trat nicht vor. Er war fest davon ausgegangen, dass der hartgesottene Krieger sich die Sachen anschauen würde. Wer auch immer dem Boss ins Hirn geschissen hatte, stattdessen den unerfahrensten, grünschnäbligsten Nichtsnutz der ganzen Truppe darauf anzusetzen... wer auch immer es war, er hatte ganze Arbeit geleistet. Es schien kein Scherz zu sein. 32 beugte sich über die Kiste und die Beschauung nahm ihren Lauf. Der Vagabund setzte einen nüchternen Blick auf und behielt die Umgebung im Auge, aber es wollte ihm trotzdem nicht aufgehen, was das nun werden sollte. Für den Moment begnügte er sich damit, gemeinsam mit Bricks bedrohlich auszusehen und die Kiste aus der Distanz zu beglotzen. Von hier aus konnte er allerdings unmöglich sehen, was darin war, selbst wenn der den Hals langmachte.
"Als guter Verkäufer erzählt man'n bisschen was über seine Ware, hm?", brummte Boss Nair in unbeeindruckter Attitüde. "Also, was haben'wer hier?" Derweil stammelte und räusperte 32 nutzlos vor sich hin, während er eine Hand ausstreckte, um mit den Fingern über was auch immer in der Kiste war zu streichen.
Der Vagabund kratzte sich am Kinn und bemerkte, dass Bricks es ebenso hielt. "Mir gefällt das hier nich'.", sprach er dann leise zu dem Gerüsteten hinüber, ohne mit einem weiteren Seitenblick Aufmerksamkeit zu erwecken. "Zu viele von diesen Hafenratten hier. Das war nich' geplant." Der Boss sprach derweil vorne mit Largo und sagte etwas von Rüstungen, wegen denen sie nicht hier waren.
"War's nicht?" Auch Bricks' Augen wichen nicht von den Kisten, während sie sich gedämpft unterhielten. "Wir wollten uns mit Ratten treffen... in der Regel kommen Ratten immer im Rudel... hrm. Oder sind das Herden?" Nun warf er doch einen Seitenblick hinüber und hob die Augenbraue, als müsste der Vagabund das wissen.
Er hatte keine Ahnung, bezweifelte aber, dass Bricks es richtig formuliert hatte. Also gab er lieber garkeine Antwort und konzentrierte sich stattdessen auf das Geschäftsgespräch weiter vorn.
"...zeig' uns wofür wir hergekommen sin', oder wir sind wieder weg un' du kannst dir dein Zeug in deine Visage schmieren." Boss Nair klang nicht sonderlich begeistert. Er zog 32 mit einem starken Griff von der Kiste zurück, hielt den Blick aber bei Largo.
"He, glaubt ihr wirklich, ich erfülle unsere Abmachung nicht?", pikierte sich der Schmuggler. "Die Waffen sind auf dem anderen Karren, die Seraphenkleidchen sind nur eine Dreingabe. Ein Geschenk, wenn ihr so wollt." Der Vagabund hob darüber eine Augenbraue und betrachtete nochmals die Kiste, während er stumm im Hintergrund lungerte. Uniformen also. Das könnte vielversprechend sein, doch der Boss schien die Dinge anders zu sehen.
"Dann würde ich vorschlag'n, dass wir uns jetzt die Waff'n ansehen."
"Aye, sollten wir. Jungs!" Largos Grobiane schafften eine weitere Kiste von dem zweiten Karren herab und öffneten auch diese in geübter Geschwindigkeit.
"Rüstungen..", flüsterte Bricks plötzlich weiter und fing das Gehör seines Nebenmannes. Offenbar hatte er sich dasselbe zusammengereimt: "Ob die auch von den Möwen sind? Damit könnte man 'ne Menge interessanter Sachen anstellen... sofern man sie tragen kann."
"Hmm.", machte der Vagabund heiser, während Nair im Vordergrund die nächste Ladung durch seinen neuen Schoßhund beschauen ließ. Doch die Augen des Vagabunden kamen auf Largo zu ruhen. "Mir juckt's in den Fingern, dieses Arschloch zu fragen, wie er sich den Standort verschafft hat. Wenn's zum Kampf kommt, haben die uns hier in der Falle."
Bricks wirkte nicht überzeugt. Er lachte nur knurrig, blieb dabei allerdings leise. "Es wäre schon verdammt schräg, wenn sie uns erst ihre Spielsachen zeigen und uns dann umbringen würden. Ich denk' sie hätten bereits auf dem Weg hierher zugeschlagen." Der breitschultrige Krieger sah sich flüchtig um, doch sonderlich sorgenvoll erschien er nicht. "Aber wer weiß? Vielleicht hast du ja recht?"
Goldklinge faselte vorn irgendwas von einer Prinzessin, meinte damit offenbar 32 und wies seine beiden hartgesotten Kistenschlepper an, dem schmächtigen Angsthasen bei seiner Warenbeschauung zur Verfügung zu stehen. Gerade hob der Bursche ein langes Gewehr an und prüfte den Mechanismus. Ein Bild für die Götter, doch dem Vagabunden war nicht nach Lachen zumute. Er warf Bricks einen mürrischen Seitenblick zu. "Die beste Überraschung kommt dann, wenn man sich schon in Sicherheit wägt..."
Er hatte nur kurz nicht aufgepasst, da stand plötzlich der Boss vor ihnen, breit wie ein Wandschrank und offenbar fertig mit den ersten Gesprächen. Er winkte sie zu sich. Der massige Irokesenträger lehnte sich nur ein Stück nach vorn, der Vagabund selbst trat gehorsam dichter heran.
"Überraschungen, Boss?", fragte Bricks.
"Neh'. Seht euch die Rüstung'n an." Nairs Stimme war rau und befehlsgewohnt. Als er weiter stiefelte, um Largo zurück zum Verhandlungstisch zu folgen, raunte er seinen beiden Gefolgsmännern allerdings noch etwas zu: "Macht das Arschloch sofort kalt, wenn was schief geht."
Das war eine Sprache, die sie alle sprachen, und so nickten die zwei Banditen lediglich, ließen sich Nichts anmerken und stiefelten gen der Kisten, während Boss Nair sich Largo Goldklinge gegenüber unter den lächerlichen Sonnenschirm setzte. Als sie bei der Fracht angelangten, war die Entfernung zu groß, um von den Verhandlungen noch groß etwas mitzubekommen.
Der Vagabund kümmerte sich nicht weiter um 32 und dessen Waffeninspektion, stattdessen umrundete er die zuerst abgeladene Kiste, legte seinen Stab beiseite und stützte sich mit den Unterarmen auf den hölzernen Rand der schweren, ausladenden Box, um einen neugierigen Blick hinein zu werfen. Er stieß einen leisen Pfiff aus, als er festellte, dass sie tatsächlich randvoll mit Seraphen-Rüstungen gepackt war. Brustplatten, Stiefel, Armschienen, sogar verschiedene Dienstabzeichen waren mit dabei, und es sah alles äußerst echt aus. "Hui.", entkam es ihm. "Damit können wir uns ja als ganze Kompanie tarnen. Naja, das vielleicht nicht ganz. Aber... hui."
"Stell' dir nur vor, wie viel Chaos man damit anrichten kann.", lachte Bricks, der ihm gegenüber an der Kiste stand. "...Reisende, die den Seraphen nicht mehr vertrauen..." Er grabschte in die Kiste und befühlte einige Armschienen. Nebenan hantierte 32 weiter an den Gewehren herum, faselte irgendetwas von wegen 'Riffelung' zu sich selbst und schien ganz in seiner eigenen Welt versunken.
Da konnte er, was den Vagabunden anging, gerne bleiben. Er selbst fischte sich per Zufallsprinzip einen Helm hervor und stülpte sich diesen über den Kopf. Das Ding war ihm viel zu groß und rutschte schief, sodass ihm halb die Sicht versperrt wurde, aber das hielt ihn ja nicht davon ab, einmal die Brust herauszudrücken wie ein Pfau, sich so steif zu stellen, wie er konnte und dabei einen soldatischen Salut zu versuchen. Er machte sich ein wenig zum Affen und zog eine blöde Grimasse übertriebener Strenge.
"Hr, hr, hr..", machte Bricks und grinste breit über die Seraphen-Imitation. "Tu' dir bloß nicht weh.."
"Hast vermutlich recht.", gluckste er trocken und zog sich den Helm wieder vom Kopf. Sie warfen die betrachteten Sachen beide wieder in die Kiste zurück. "Ich fürchte, du musst das hier machen. Hab' in meinem ganzen Leben noch keine so'ne Blechdose angehabt."
Der bärige Krieger wurde jetzt ernster, während er eine Brustplatte aus dem metallenen Gewühl hievte. Er überprüfte die Halteriemen, klopfte fachmännisch gegen den gewölbten Stahl. "Aber die Dinger sin' von guter Qualität. 'Ne gute Fälschung, oder echt. Frag' mich wo die das Zeug abgefangen haben." 32 räusperte sich weiter hinten und führte weiterhin Selbstgespräche über die Qualität der Waffen.
Der Vagabund sah ob Bricks' Worten nochmal in die Kiste, bevor er sich mit den Unterarmen auf dem Eck der Frachtbox nach vorn beugte. "Ich wusste garnich', dass unser kleiner Schisser von Neuling Ahnung von Schießeisen hat.", raunte er dem Ranghöheren zu.
"Hey, jeder kann seine Nase ins Buch stecken.. und wer weiß? So'ne Knarre ist doch genau sein Ding, wenn er Schiss hat, was auf die Nase zu bekommen, hm?" Bricks legte den Seraph-Plattenharnisch nieder. Der Vagabund zuckte mit den Achseln.
"Boss?", rief der weißhaarige Angsthase da gerade laut vernehmbar. "Mal die anderen Sachen?"
Nair, der bei Rum mit Largo unter dem Sonnenschirm verhandelte, sah kurz auf und nickte dem Burschen zu. "Wenn das Zeuch alles dieselbe Qualität hat, passt's", rief der bullige Mann zurück. Also widmete sich 32 einigen Schwertern.
Ein allerletztes Mal wühlte der Vagabund in der Kiste mit den Uniformen, auch wenn es eine sinnlose Beschäftigung war. "Gehst du ihm berichten?", fragte er dabei gelangweilt.
Bricks' Erfahrung war die perfekte Ausrede dafür, ihn zum Boss stiefeln zu lassen. Der Gerüstete schnappte sich jetzt den Infanterie-Helm, mit dem sein Kollege zuvor herumgealbert hatte, hielt ihn sich kurz auf Augenhöhe vors Gesicht, bevor er schmunzelnd wieder von der Blechkappe abließ. "Nichts kaputt machen.", meinte er noch, bevor er sich umwandte und zum Verhandlungstisch stiefelte, und der Vagabund hob mit kurzem Grinsen abwehrend die Hände.
Er blieb also untätig zurück, allerdings weiterhin mit dem Rücken zum Gemäuer, sodass er den Blick jederzeit zu Nair und Largo heben konnte. Der Vagabund nahm den geflüsterten Auftrag seines Anführers mehr als ernst, auch wenn es ihm ein mieses Gefühl gab, den anderen Piraten den Rücken zu kehren. Doch Goldklinge versuchte keine Mätzchen, also sah er sich irgendwann gezwungen, stattdessen doch 32 bei seiner Waffenkontrolle zu beobachten. Wenn man denn von einer solchen sprechen mochte. Gerade fuchtelte der Kleine tölpelhaft mit einem Langschwert herum und demonstrierte in etwa die Finesse eines Metzgerlehrlings. Dann balancierte er die flache Klinge auf seinem Zeigefinger und ermittelte so den Schwerpunkt der Waffe, was, zugegeben, nicht mehr ganz so unprofessionell aussah. Da Bricks nun vorne beim Boss stehen blieb, brachte der Vagabund sich irgendwann mit einem Seufzen dazu, einen Schritt hinüber zu gehen und sich mit locker verschränkten Armen neben dem Grünschnabel an die Kiste zu lehnen, der soeben verblüfft das Gewicht einer besonders grobschlächtigen Klinge feststellte. Trotzdem schien er irgendwie zu wissen, was er tat, denn nach der ersten Überraschung nahm er die Waffe wieder an sich, stemmte sie auf den Boden und belastete das Heft, um die Biegsamkeit der Klinge zu testen.
"Hast für deine ollen Adligen wohl doch nich' nur Bückstück gespielt, so wie'ste jetzt mit dem Eisen rumfuchtelst."
32 sah erschrocken und ungläubig zur Seite, als er die Gegenwart des Vagabunden bemerkte, wirkte dabei lächerlich panisch und erwies sich ob der Aussage als so scheu, dass er Nichts sagte und hastig mit seiner Arbeit fortfuhr. Er versuchte, ihm die kalte Schulter zu zeigen, und der Vagabund schüttelte lediglich amüsiert das Haupt darüber, befand den Anlauf für langweilig und sah sich weiter um.
"...Drei-Zwanzig..." "...Drei-Achzig..." schnappte er seitens Boss und Kapitän auf. Jetzt schacherten sie offenbar um die Preise, auch wenn die Summe sich überraschend niedrig anhörte, wenn sie wirklich von der gesamten Lieferung sprachen.
"Ich nehm' alles zurück.", sagte er Vagabund mit kurzem Seitenblick nach links. 32 hatte die Schneide eines Schwertes gerade prüfend an einem dünnen Stück Stoff entlanggezogen und machte jetzt große Augen, als er sah, wie die scharfe Klinge das Material butterweich in zwei Hälften schnitt. "Du hast's dir doch angelesen."
"Kann nich' lesen.."
"Oh? Der Boss hat's dir dann also gezeigt."
"Hä? Nein.. Rufus war es."
"Hmm."
"Sind.. die etwa schon fertig?" Sie sahen zu, wie Nair einen großen Schluck Rum aus der Flasche trank, bevor Largo sie nahm und besiegelnd dasselbe tat.
Der Vagabund wollte gerade etwas dazu sagen, kam allerdings nur noch dazu, seinen Kopf hastig zur Seite zu reißen, als 32 einen unbeholfenen Testschwinger mit dem schweren Langschwert vollführte, dass er ihm als Nebenmann fast die Nase absäbelte. "Pass doch auf, du...!" Idiot, wollte er sagen. Stück Scheiße, wollte er sagen.
"JUNGS!", brüllte Nair und unterbrach die Beinahe-Eskalation, ohne es zu merken. "Bewegt eure Ärsche, wir verpiss'n uns. Geschäft is' in Ordnung, Preis stimmt auch."
"Und die Schwerter?", stammelte 32 laut, der nichtmal bemerkt hatte, dass sein Gefuchtel beinahe ins Auge gegangen wäre.
"..'ch vertrau' einfach mal auf den Lieferanten.", rief Nair ohne Seitenblick, nachdem er mit ebenjenem Lieferanten noch einige Sätze gewechselt hatte. Der Vagabund warf derweil dem Grünschnabel giftige Blicke zu, holte sich seinen Stab und stiefelte zu den anderen hinüber.
"Aye, wie könnte man mir nicht vertrauen?", lachte Largo, der sich gerade erhob, auch hier überraschend mühelos, trotz Holzbein.
Dem Vagabunden fielen abermals tausend Gründe ein, aber stattdessen räusperte er sich und warf ein: "Ich hätte noch'ne Frage, wenn'ch darf."
"Hau raus.", sagte Nair.
Er bedankte sich mit einem Nicken, ließ seinen Blick dann ein letztes Mal über die gesamte Anlage schweifen, die unbesetzten Baugerüste, die man auch im Innenhof vorfand, und die herumlungernden Piraten. Am Ende sah er zu Largo. "Wie kommste an diese Hütte? Wurd'n die Piraten, die das Ding zerlegt haben, nich' niedergemetzelt?"
"Ach, die." Largo schien die Sache kaum nennenswert zu finden und plauderte frei heraus. "Die Baustelle gehört irgendeinem Adligen-Kerl. Er wollt' ein paar Artefakte und ich brauchte 'nen ruhigen Platz für das Treffen. Nur wenn wir erwischt werden, kennt er uns nich'."
"Hm... mutig.", meinte Bricks.
"Hmm.", machte auch der Vagabund nur, auch wenn er Largo kein Wort glaubte. "Verstehe." Sein Blick wanderte zurück zu Boss Nair.
"Seh'n uns.", sagte dieser gerade und zollte dem Kapitän ein unspektakuläres Nicken zum Abschied.
"Ich hoffe nich'.", grinste Largo wieder. "Unser Geschäft läuft am Besten, wenn wir das nicht tun."
"Dann ersetze 'Seh'n uns' mit 'Verpiss dich'." Der muskulöse Bandenführer gab seinen Männern einen laschen Wink. "Abmarsch."
"Viel Spaß euch bei was auch immer ihr mit dem Zeug vorhabt!", rief der Pirat ihnen hinterher, auch wenn sie die Ware ja noch garnicht mitgenommen geschweigedenn bezahlt hatten. Bricks hatte sein rotes Halstuch gezückt und machte sich einen Spaß daraus, es um die rechte Faust zu wickeln, welche er dann zur Fingerpistole formte, um dabei die Wangen zu blähen und ein provokantes Schussgeräusch gen Largo zu senden.
Und damit machten sie sich zum Erstaunen des Vagabunden tatsächlich wieder auf den Weg, ohne dass Blut geflossen war.
((Ausschnitt aus dem Rollenspiel))