~ Triskellion-Tal, sechs bis sieben Tage zuvor ~
Kerbholz-Stanley rannte durch den Wald. In sämtliche Himmelsrichtungen war es dunkel und unwegsam; Er war desorientiert, brauchte dringend einen Schluck Schnaps und hatte bisher keine Verfolger ausmachen können. Seine Waden taten weh. Doch wenn er jetzt stehen blieb, konnte das trotzdem seinen Tod bedeuten, das wusste er ganz genau. Nur kurz anhalten, für eine Minute oder zwei. Oder auch dreißig. Sich kurz hinsetzen und verschnaufen. Vielleicht sogar ein wenig schlafen. Nichts hätte je eine süßere Versuchung sein können, sah man von der Flasche ab. Doch er durfte nicht stehen bleiben. Nur noch ein Stück weiter. Nur noch ein Stück. Er wankte und stolperte über unebenen Grund, pflügte knöcheltief durch herbstliche Blätterhaufen und fing sich wieder, nur um abermals Fahrt aufzunehmen.
Obwohl es schon seit Tagen immer kühler wurde, schwitzten seine Hände beinahe bis zum Punkt der Schlüpfrigkeit, und um nicht den Griff um die Waffe zu verlieren, fingerte er alle paar Herzschläge lang hektisch am Lauf seines Gewehres herum. Pausenlos also, denn sein Herz donnerte wild vor lauter Hast. Er keuchte unablässig, der Atem war zu einem ungesunden Pfeifen verkommen und seine Lungen brannten schmerzhaft. Nicht zum ersten Mal an diesem Abend wünschte Stanley sich, er wäre nur ein einziges Mal, nur einmal im Leben ein Mann seines Wortes gewesen und hätte das Rauchen tatsächlich aufgegeben. Doch das hatte er nicht getan, und jetzt straften die Ungesehenen Götter ihn dafür. Stanley hatte keine Ahnung, ob es die Ungesehenen Götter überhaupt gab, aber jetzt betete er zu ihnen, dass sie ihn noch ein wenig durchhalten ließen. Er betete auch zu den Sechsen, zu denen seine alte Ma immer gebetet hatte, obwohl er sich nicht erinnern konnte, dass sie ihr je geantwortet hätten.
Als Boss Nair unten auf Naylors Hof in einem Regen aus Blut und Schrapnellen explodiert war, hatten Stanley und seine drei Kameraden auf ihren Schützenposten oben im Wald genau das getan, was der Boss ihnen für den Notfall befohlen hatte - sie hatten sich umgedreht und waren geflohen.
Der Plan war gründlich schief gegangen, die Tarnung war aufgeflogen, und irgendwie waren diese verdammten Bauern viel zu wehrhaft gewesen. Aber vermutlich, das wurde ihm jetzt klar, waren es garkeine Bauern gewesen. Das hatte ihm langsam zu dämmern begonnen, als der Kornspeicher aufbarst, um einen roten Metallriesen auszuspucken, der dem Idioten von Balthasarpriester verdächtig ähnlich sah, auf den sie ein paar Wochen zuvor noch beherzt hatten ballern können. Die vier Schützen waren darauf vorbereitet gewesen, den Hof aus der Distanz zu verwüsten, aber mit dem Rest der Truppe mittendrin hatten sie kein freies Feld gehabt und waren machtlos gewesen. Bricks, 32, die beiden neuen Fotzen aus Brisban, allesamt verloren, zusammen mit Nair Kell höchstpersönlich. Stanley hätte gern gesagt, dass er gleich gewusst hatte, dass 'was faul war, aber wann immer er bisher mit seiner Flinte auf der Lauer gelegen hatte, war alles gelaufen wie am Schnürchen. Auch wenn er tatsächlich hätte schwören können, dass die Zweige, mit welchen er sein Gewehr und den Sprengstoffrucksack zwei Tage vorher bedeckt hatte, heute nicht mehr ganz identisch gelegen hatten, als sie das Zeug vor dem Einsatz wieder ausbuddelten. Jetzt stolperte er durch den Forst wie ein Trottel. Immerhin, dachte er sich in zorniger Genugtuung, hatte der Boss die blonde Schlampe mit in den Tod gerissen, auch wenn Stanley wegen einem seltsamen blauen Leuchten leider keine Details hatte sehen können. Aber wenn er ehrlich mit sich selbst bleiben wollte, war es ihm in dem Moment auch nicht sonderlich wichtig gewesen, das Ganze noch länger mit anzusehen. Sie waren einfach weggelaufen, und das nicht nur weil es Boss Nairs letzter Befehl gewesen war.
Nachdem sie weit genug vom Hof fortgekommen waren, um dem zweiten Teil des Befehls zu entsprechen und sich aufzuteilen, war ihnen allen aufgefallen, dass Boss Nair ihnen garnicht gesagt hatte, wohin sie eigentlich fliehen sollten. Nach einem wilden Durcheinander war Karl nach Norden weiter gelaufen, um sich durch die Berge zurück zum Lager durchzuschlagen, aber bis dahin würde er im Morgengrauen immer noch marschieren. Und wenn er erstmal angekommen war, würde er vor dem Problem stehen, dass es dort zwar eine Menge Leute, aber keinen Boss gab, um die nächsten Schritte zu beschließen. Als Stanley deswegen mit seiner eigenen Idee gekommen war, hatten Rufus und Streitkolbi ihn für lebensmüde erklärt, aber er hatte sie einfach stehen lassen. Er war überzeugt, dass es noch lebensmüder wäre, es nicht zu tun. Er musste es versuchen, und es war der schnellste Weg. Eine Zeit lang war er direkt auf der Straße gelaufen, um seine Spur zu zerstreuen, aber als ihm in der Distanz plötzlich zwei patrouillierende Zentauren entgegen kamen, hatte er sich hastig wieder in den Wald geschlagen, war bis zur Hüfte durch einen mockigen Tümpel gewatet, der seine Fährte bestimmt endgültig schlucken würde, nur um schließlich wieder den direkten Weg einzuschlagen. Den Weg zur Rettung. Er war sich sicher, dass er belohnt werden würde. Vielleicht würde er ja sogar Boss Nairs Platz bekommen. Dann würde er als Erstes Letha flachlegen, und danach jede andere Fotze, nach der ihm gerade der Sinn stand. So würde er es machen. So und nicht anders.
Die Chance, sich zu beweisen, war in unmittelbarer Reichweite. Nachdem er sich japsend und mit schlammverklebten Stiefeln einen kurzen Abhang hinauf gemüht hatte, konnte er zwischen den Büschen voraus ein kleines Lagerfeuer flackern sehen. Er hatte es geschafft! Er konnte nicht sagen, wie lange er gelaufen war - auf jeden Fall für mehrere Stunden, gemessen an der Distanz - aber jetzt erfasste ihn ein letzter Schub. Nur noch ein paar Schritte weiter, dann konnte er sich ausruhen. Nur n- Sein rechter Stiefel verfing sich an irgendetwas, und weil er viel zu schnell gelaufen war, fetzte es ihn der Länge nach in den Dreck, Gesicht voran. Etwas knackte, und ein heißer Schmerz schoss in seine Nasenwurzel. Er stöhnte benommen und wusste sofort, dass er sich mal wieder die Nase gebrochen hatte. Dem zum Trotz blieb Stanley einen Moment lang einfach liegen. Immerhin war der Zinken nicht das einzige, was ihm wehtat. Er hatte das Gefühl, dass seine Muskeln so oder so bald den Geist aufgegeben hätten, derart übel stach es ihm in den Beinen.
Schließlich tastete er blind nach seinem Gewehr, das er beim Sturz verloren hatte. Bevor er es jedoch finden konnte, hörte er leise Stimmen und dann Schritte auf dem Waldboden. Natürlich, sie hatten ihn bestimmt längst entdeckt. Jetzt wo er darüber nachdachte, war es verwunderlich, dass sie ihm bei seiner nicht sonderlich diskreten Ankunft keine Kugel in den Kopf gejagt hatten. Stanley gab ein weiteres dumpfes Stöhnen von sich, ließ seine Hände wo sie waren und wälzte sich auf den Rücken. Als er sich auf die Ellbogen hochstützte, stellte er fest, dass Jemand anderes das Gewehr bereits aufgehoben hatte und er nun geradewegs in den Lauf seiner eigenen, geladenen Waffe starrte.
"Kerbholz-Stan.", knurrte eine aggressive Stimme. "Scheiße, bist du das?!"
"Urgh.. meine Nase.."
"Scheiße, du bist es! Du verfickter Vollidiot, was soll das denn?!" Eine wütende, tomatenrote Totschlägerfratze mit schwarzem Stoppelbart starrte auf ihn herab. Dirk, so hieß der sehnig-muskulöse Gewehrdieb, war einer von den Übelsten hier, das hatte Stanley gut in Erinnerung. Und er schien nicht geneigt, die Waffe wieder auszuhändigen oder überhaupt erst zu senken. "Du elender Schwachkopf, du kennst das Protokoll!"
"Es ist ein Notfall!", betonte Stanley und hob die rechte Hand in abwehrender Geste. Er wusste natürlich, dass er Scheiße gebaut hatte, doch er wusste auch, dass er mit allen anderen Optionen noch größere Scheiße gebaut hätte.
"Das ist mir sowasvon egal, du Depp. Du bist nicht angekündigt. Jetzt bist du geliefert, wenn dein Boss dich nicht geschickt hat."
"Der ist tot, verdammt, deswegen bin ich doch hier!"
"Ach?", knurrte Dirk und fletschte verächtlich seine schlechten Zähne. "Dann kannst du es ihm jetzt hübsch gleich tun."
Dann krümmte der wutstarrende, gehässig funkelnde Wachposten einen Finger um den Abzug des Steinschloss-Gewehres. Stanley weitete die Augen. Ihm wurde mit einem Mal ganz kalt ums Herz. Im nächsten Moment begann es wieder zu hämmern wie wahnsinnig, und in einem Schub abrupter Panik kroch er über den Boden ein Stück nach hinten, abwehrend mit der Hand wedelnd. "Nein!", kreischte er angsterfüllt, doch Dirk legte lediglich die Flinte an und zielte sorgfältig und grinsend, obwohl sein Ziel sich direkt vor ihm durch den Dreck wälzte. "Es ist wichtig! Bitte nicht umbringen! Nein! Neeeiiii-" PENG.
~ * ~
Inquisitor Godfrey brütete seit Stunden über seiner Situation. Es war sein freier Abend, doch wirkliche Ruhe konnte er nicht finden. Streng genommen hatte er immer dann einen freien Abend, wenn es ihm gerade beliebte und keine dringlichen Entwicklungen der Aufmerksamkeit bedurften, doch heute hatte er sich ausdrücklich Entspannung vorgenommen. Nur konnte er sie nicht finden. In Gedanken war er seit Tagen immer nur doch wieder bei einer gewissen Hochgelehrten, und allein die Tatsache, dass das elende Drecksluder es bewerkstelligte, seinen Kopf derart zu vereinnahmen, machte ihn ganz rasend. Wie werde ich sie los, wie werde ich sie los, wie werde ich sie los! Entnervt schubste er den aufgeschlagenen Roman vom Tisch, an dem er eben erst zu lesen begonnen hatte. Das Buch, irgendein lächerliches Fantasiewerk über 'Crogan, den Helden von Blashyrkh', war ohnehin bestenfalls mittelmäßig und er hatte auch keine Konzentration dafür.
Mit ärgerlich gerunzelter Stirn, aber trotzdem ruhigen Händen goss er sich sein Weinglas bedeutend voller mit tiefrotem Inhalt, als es stilvoll gewesen wäre, aber immerhin sah ihm Niemand zu. Aus diesem Grund ließ er sich auch schlaff im Polstersessel zurücksinken und trank mit geschlossenen Augen einen großen Schluck. Er saß lediglich in Hemd und Hosen da, und im Inneren der kleinen Jagdhütte war es vergleichsweise warm, doch die Gedanken an Charity Cochrane ließen ihm trotzdem kalt werden. Nicht dass er sie fürchtete, nein, diesen Gefallen würde er ihr nicht tun. Nein, er verachtete die Frau. Du verschlagenes Mesmer-Miststück, mich erwischst du kein zweites Mal auf dem falschen Fuß. Oh, wie er sie verachtete. Sie war ein Risiko - ein Risiko, das all seine sorgfältig konzipierten Pläne durcheinander warf. Und noch schlimmer war, dass er dieses Risiko selbst verschärft hatte. Einstweilen musste er mit ihr zusammen arbeiten, war auf die gemeinsame Arbeit angewiesen. Einstweilen. Das war das große Stichwort. Denn am Ende kann es von uns beiden nur einen geben. Keine Risiken. Das war einer seiner großen Grundsätze, und er hatte ihn durch schlichte Leichtfertigkeit gebrochen. Es war eine Sache, Grundsätze diskret nach eigenem Willen zu verbiegen, wo es erforderlich war, doch eine gänzlich andere, sich ungeplant zu vergessen.
Er öffnete die Augen, stellte angewidert sein frisch befülltes Weinglas beiseite und beschloss, heute Abend keinen weiteren Tropfen zu trinken. Die Entspannung war ohnehin gescheitert, und Frustsaufen war die Tat eines Verzweifelten. War er, Seine Exzellenz, Inquisitor Godfrey der Erlauchte, jemals verzweifelt? Niemals. Eine Weile lang ging er mit hinterm Rücken verwobenen Fingern durch den Raum, warf einen Blick auf das verhangene Gemälde nahe der Frachtkisten, das er nach wie vor nicht einsah, sich an die Wand zu hängen. Ein echter d'Antonio in dieser mageren Holzhütte? Im Leben nicht. Schließlich kam er zu dem Entschluss, seine Zeit lieber sinnvoll zu nutzen. So wandte er sich wieder dem Schreibtisch zu, um einen Brief an das Haus Ainsworth aufzusetzen, schritt gen seines Sessels und - PENG!
Der laute Knall von draußen ließ Godfrey herumfahren. Angreifer? Verdammt, verdammt, verdammt. Das Luder, das Luder, das Luder! Sie hat mich verraten. Irgendwie hat sie herausgefunden, wo ich residiere. Sonst kann es Niemand sein. Nein, nein, nein! Er hetzte nun erst recht zum Schreibtisch, tastete panisch nach seinem Schlüsselbund, ließ ihn fast fallen, fummelte wild und fand den richtigen Schlüssel. Sperrte die mittlere rechte Schublade auf. Griff hinein. Zog den Blutsteinrevolver heraus. Spannte klickend den Hahn; Richtete die blutrot glimmende Waffe auf die Tür. Er fand eine gewisse ruchlose Kälte in seinem Herz, sobald er die Waffe parat hatte, konzentriert und mit den Gedanken beim Fluchtweg, während die Finger seiner noch freien Linken nun schneller agierten, die nächste, unverschlossene Schublade aufzogen und -
Es klopfte kräftig an der Tür. "Inquisitor!"
Franks Stimme. Godfrey erstarrte, engte die Lider, gab keinen Ton von sich, lauschte.
"Herr Inquisitor!", rief jetzt auch sein zweiter Leibwächter, Billy. "Euer Exzellenz!"
Keine weiteren Schüsse. Keine Kampfgeräusche. Kein Gebrüll. Offenbar gab es doch keinen Angriff.
"Ihr müsst unbedingt kommen!", warf Frank nun wieder ein, gedämpft durchs Türgebälk.
Ach, muss ich das?, erboste Godfrey sich innerlich. Er schob sich den Revolver unter den Gürtel, trat mit weiten, aber geräuschlosen Schritten links um den Schreibtisch herum und sah zum dortigen Frontfenster hinaus vor die Hütte. Und tatsächlich schien alles in bester Ordnung zu sein. Billy und Frank standen vor der Tür im nächtlichen Wald. Aber abgesehen davon, dass sie ein wenig grimmig und aufgeregt erschienen, wirkten sie nicht, als fühlten sie sich von irgendetwas bedroht. Godfrey hatte beide Männer zu lange an seiner Seite gehabt, um ihre Regungen fehlzudeuten, und so stellte er sich an die Tür und tat auf, womit er sämtlichen Restschrecken aus seinen Zügen verbannte und frostige Autorität an den Tag legte. "Was ist denn los, bei den Ungesehenen!", fauchte er streng. "Erklärt diese Störung!"
"Es ist ein Mann da-", sagte Billy sofort. "-und er bringt Neuigkeiten betreffs Nair Kell."
"Betreffs? Nicht von? Was soll das denn jetzt heißen? Es ist Niemand angefordert worden. Und was war das für ein Knall?"
Der kahlköpfige Schläger verzog missmutig das Gesicht. "Ein kleiner Unfall. Seht am Besten selbst, Sir."
Godfrey schnaubte verächtlich, trat aber hinaus in die Kälte, sein Frösteln verbergend. Frank flankierte ihn ohne Aufforderung, während Billy zielstrebig vor ihnen den Weg führte, ein ganzes Stück abseits ins umliegende Unterholz der bescheidenen Forstresidenz.
Nahe des Abhangs, der vom Hügel hinab führte, fanden sie zunächst den Banditen Dirk, einen der Halsabschneider von besonders ruchlosem und bösartigem Temperament, den Godfrey in vollem Bewusstsein für die Garde der Jagdhütte ausgewählt hatte. Der Mann lag zitternd im Moos, verkrüppelte, blutige Hände vors Gesicht geschlagen, denen einige Finger fehlten, und unter denen nur umso mehr Blut aus einer offenbar zerstörten Visage hervor quoll. Dirk wimmerte und heulte wie ein kleines Mädchen, unterbrochen von Schüben erstickten Gurgelns. Neben ihm lagen die rauchenden Überreste eines Gewehres, das aus unerklärlichen Gründen offenbar beim Abschuss halb detoniert war. Einige der anderen Wachen standen recht ratlos um ihren sterbenden Kameraden herum, aber Godfrey rauschte völlig desinteressiert an der Szene vorbei.
Der Neuankömmling, ein magerer Bandit mit fliehendem Kinn und wässrigen Augen, hockte starr wie vom Blitz getroffen am Stamm des nächsten Baumes und wirkte vom Geschehen genauso überrumpelt wie alle anderen, wobei er speziell das ruinierte Schießeisen anstarrte. Seine Nase war schief und leicht blutig, offenbar gebrochen.
Und was er Godfrey zu erzählen hatte, trug nicht dazu bei, die Laune des Inquisitors nennenswert zu heben.
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