"Sir, wenn mir die Frage erlaubt ist... warum tun wir das hier?"
Der Inquisitor hielt still und zählte gelangweilt die Speichen im vorderen rechten Kutschenrad, während Billy ihm die Schärpe anlegte und den Sitz aller Knöpfe und Schlaufen prüfte. Aber er musste das Gesicht des Banditen nicht sehen, um dessen Grübelei zu erkennen. Also schnaufte er in milder Belustigung. "Zweifelst du etwa, mein treuer Freund? Viele Männer kostet das den Kopf."
"Mich aber nicht." Billys verschmitztes Grinsen war deutlich herauszuhören.
Godfrey schmunzelte ebenfalls. "Dich aber nicht."
Sie schwiegen daraufhin eine Weile. Billy genoss seine Freiheiten, ebenso wie Frank, aber er wusste ganz genau, welche Scherze er nicht zu weit treiben durfte. Schließlich strich der kahlköpfige Grobian ihm die weiß-rote Robe glatt und trat mit einem bestätigend erhobenen Daumen neben ihn. Godfrey vertraute auf das Urteil des Mannes und nickte, bevor sie sich gemeinsam in Bewegung setzten und die Kutsche in der Obhut der vier Wachmänner zurück ließen. Sie zogen an finster empor ragenden Nadelbäumen vorbei, umrahmt von kahlen Sträuern, deren längst gefallenes Laub unter ihren Schritten raschelte. Godfrey hatte die Ritualroben stets gehasst und musste auch jetzt höllisch aufpassen, nicht auf den weiten Saum des frommen Gewandes zu treten. Es fiel ihm nicht schwer, sich auszumalen wie Billy sich fühlte, der seine schlichtere Version der Roben zum ersten Mal trug und gepresst fluchend hinter ihm her stakste wie ein Storch im Salat, weil er immer wieder stolperte und der Stoff viel zu eng um seine harten Muskeln spannte. Es war dunkel im Wald, und in dieser Region wehte inzwischen auch eine recht kühle Brise, obwohl der krytanische Winter stets ein milder war. In dieser Tracht wurde ihm darob noch kälter als bereits in seinem Mantel.
"Erinnere mich nochmals daran, dass ich mir einen schicken Pelzmantel zulegen muss, Billy."
"Werd' ich tun, Sir.", knurrte der Bandit und striff sich mit wütendem Schnauben den Überwurf seiner Robe vom Bart, nachdem ein tiefhängender Ast das weiße Tuch hatte verrutschen lassen.
"Sehr gut. Bei Saul... zu denken, dass ich den Dschungel je vermissen würde. Eine Frage der Konditionierung, was Billy?" Godfrey fröstelte und winkte ab. "Der Gefangene?"
"Ist jetzt gut verschnürt, Sir. Aber er hat uns ganz schön Probleme bereitet."
"So?"
"Er hat einen von den Tränenbringern umgelegt und zwei weitere übel zugerichtet, obwohl wir ihn unbewaffnet erwischt haben." Der Bandit verzog das Gesicht. "Und er hat Lady Cochrane volle Kanne ins Gesicht gerotzt."
Godfrey kicherte. "Ein Jammer, dass ich das verpasst habe. Vissarion ist eingetroffen?"
"Jawohl, Exzellenz. Er ist bereits oben."
"Gut. Ich werde später mit ihm sprechen. Und um nun deine vorige Frage zu beantworten; Wir tun es, weil es getan werden muss."
"Aber wäre es nicht... lukrativer für Euch, ihn einfach an Agent Qayy zu überstellen? Er wollte doch gesunde, starke Testpersonen."
"Versuche besser nicht, mich mit meinen eigenen Waffen zu schlagen, Billy."
"Ich mein' ja nur, Sir."
"Was meinst du?", fragte der Inquisitor scharf und fixierte seinen Gefolgsmann mit einem naserümpfenden Seitenblick.
Billy ließ sich nicht beirren; Godfrey stellte erstaunt fest, dass die Züge des Banditen immer noch grüblerisch aussahen. Offenbar war es ihm ernst mit seiner Frage. "Das Ritual, Sir.", brummte der durchtrainierte Kahlkopf und schlug einen weiteren Ast beiseite. "Es hat einen Nutzen, einen heiligen Zweck, oder nicht? Es wird durchgeführt, um die Kraft der Seelen verwenden zu können. Aber das können wir hier doch überhaupt nicht..."
"Ich sehe, du hast deine Hausaufgaben gemacht, mein treuer Freund. Sehr lobenswert."
"Aber warum tun wir es?"
"Weil es ein hübscher alter Brauch ist." Er lächelte sacht, als zwischen den Bäumen Fackelschein auftauchte und das gleichmäßige Brummen tiefer Stimmen an ihre Ohren drang. "Und hübsche alte Bräuche halten die Leute bei der Stange."
Sie traten ins Freie. Auf dem grasbewachsenen Hügel war ein gewundener Pfad mit langen, mannshohen Fackelstangen abgesteckt worden, und die Flammen hoben sich in verheißungsvollen Flackern gegen den dunklen Nachthimmel ab. Kein Sternenzelt erstreckte sich über ihnen, denn die Wolken hatten sich bereits tagsüber zu verdichten begonnen. Godfrey und Billy striffen sich nun auch ihre weißen Hauben über, welche das Gesicht teilweise maskierten, und schritten in andächtigem Schweigen in Richtung Hügelkuppe empor. Das vorige Hintergrundbrummen war nun zu einem dunklen, okkulten Sprechchor angeschwollen, der sich wie ein zähflüssiger Schleier über den Hügel legte. Monoton und rituell wiederholten ein Dutzend Kehlen die Litaneien der Unsichtbaren, unablässig, wobei die Worte selbst kaum herauszuhören waren und dem Bevorstehenden doch unausweichlich den Weg ebneten. Der Verschworene war wie immer der Einzige, der stumm verblieb - er bewachte auswärts stehend den letzten freien Platz, der im Stehkreis auf der Kuppe des Hügels geblieben war. Godfrey schritt an dem riesigen Großschwertträger vorbei durch die Lücke, und Billy schloss sie direkt hinter ihm. Somit war er umringt von weiteren Gestalten in ebenso weiß-roten Roben und weißen Maskenhauben, und als der Inquisitor huldvoll stehen blieb, verstummten ihre Sprechgesänge und tauchten die Szenerie in allumfassende Stille.
Nur ein Geräusch hielt sich widerspenstig - das Knurren und Schnaufen des oberkörperfreien Mannes, der im Zentrum des Kreises auf den Knien hockte. Seine Beine waren verschnürt und beschwert, seine Hände hinterm Rücken gefesselt und der Mund geknebelt, doch er wand sich trotzdem zornig hin und her, als könne er noch frei kommen. Trotzig bis zum bitteren Ende. So heroisch, so edel und furchtlos. So fruchtlos, vor allem. Der Mann war groß und kräftig, breitschultrig und gut bemuskelt, ohne bullig zu sein. Seine Haut war so blass wie frisch gefallener Schnee, und die herben Züge hatten einen unverkennar canthanischen Einschlag, mit flacher Nase und mandelförmigen Augen. Vielleicht Anfang Vierzig, aber mehr als gut in Schuss. Ein feuchter Maidentraum, fleischgeworden. Das dicke, schwarze Haar hing ihm heute allerdings recht zerzaust ins Gesicht, und die Schrammen, welche seinen Körper bedeckten, legten Zeugnis über seine schroffe Behandlung ab. Godfrey lächelte auf ihn herab, bevor er seine Gesichtszüge in Ernst tauchte, wie es dem Anlass angemessen war. Der Gefangene hockte in einem kunstvoll ins Gras geritzten Ritualkreis. Das Werk der Gelehrten Cochrane, die nun mit einigen ihrer Hausdiener unter den umstehenden Berobten war, ebenso wie Vissarion und Frank. Godfrey würdigte keinen von ihnen eines Blickes, ganz wie es erwartet wurde, und konzentrierte sich stattdessen auf den Gefesselten in der Mitte.
"Nun denn.", eröffnete er und hob die Rechte in einer weisenden Geste. "Sehen wir, ob unser Gast letzte Worte zu sprechen hat."
Zwei der Robenträger traten vor, um dem gefesselten Canthaner den Knebel aus dem Mund zu winden, welcher den Kopf widerspenstig hin und her drehte, um ihre Hände prompt wieder loszuwerden. "Ihr dreckigen Sektenspinner!", brüllte er stimmkräftig, kaum dass er es wieder konnte. Etwas heiser zwar, doch eindeutig ungebrochen. "Na los, macht schon! Zu solchen wie euch habe ich Nichts mehr zu sagen."
Der Inquisitor runzelte die Stirn, während die beiden Kultisten wieder in Reih und Glied traten. "Seid Ihr Euch sicher?", fragte er. "Das ist Eure letzte Gelegenheit, ein paar Worte von Bedeutung über die Lippen zu bringen."
"Ihr wahnsinnigen Bastarde. Ich war lange genug bei der Ministerialwache, ihr könnt mir keinen Schrecken mehr einjagen. Jetzt bin ich frei. Frei von denen. Und frei von euch. Meine Schwester wird eure Lügen aufdecken. Sie wird euch finden, früher oder später."
"Vortrefflich. Wir werden sie erwarten."
"Fahrt zur Unterwelt."
"Dorthin werdet höchstens Ihr fahren, für den unwahrscheinlichen Fall, dass Euer falscher Totengott sich für Eure wertlose Seele interessiert." Godfrey legte nüchtern die Finger hinterm Rücken zusammen. "Und die Annahme von Wahnsinn würde implizieren, dass wir uns unserer Taten nicht bewusst wären." Er legte den Kopf ein wenig schräg, hörte allerdings rasch wieder damit auf, als er spürte dass ihm dadurch beinahe die Haube vom Kopf gerutscht wäre.
Der Gefangene lachte gehässig auf, doch es lag keine Freude in dem Geräusch, und das vereitelte Malheur war ihm zum Glück ebenso wenig aufgefallen wie allen anderen. Der kräftige Kiefer des blassen Canthaners spannte sich an, während er aus dunkelblauen Augen zornig nach oben stierte. "Dann korrigiere ich mich. Ihr seid einfach nur bösartig."
"Bösartig?" Godfrey schnaubte verächtlich, um höhnisches Gelächter zu unterdrücken. Er löste den Blick von dem Gefesselten, breitete die berobten Arme aus und ließ den Blick bedeutungsschwanger in die Runde seiner verhüllten Gleichgesinnten schweifen. "Was ist schon Gut und Böse? Eine reine Frage der Perspektive, Nichts weiter. Früher wurde unser Orden für seine Heldentaten bejubelt. Für echte Heldentaten. Heute bejubelt man schwache Monarchen, die mit unseren alten Feinden paktieren, und unter denen das Land verkomm-"
"Ihr ermordet Unschuldige!", brüllte der Canthaner dazwischen. "Und lügt den Überlebenden ins Gesicht!"
"WIR LÜGEN-", schnappte der Inquisitor zurück, "-wo immer es eben sein muss. Wir täuschen das Volk zu seinem eigenen Wohl. Bis es die Wahrheit anerkennt." Sein Mundwinkel zuckte, und die Rechte schweifte in einer schlenkernden Geste umher. "Oder auch nicht. Dann bleibt es zufrieden, sobald Wohlstand gewährleistet ist. Was ist die Lüge noch für den Bauern, wenn er sie nicht erkennt, im Lichte einer besseren Zukunft? Der wahrhaft Gläubige folgt blind. Und was unterscheidet die eine Lüge nennenswert von der anderen? Vor nicht allzu langer Zeit hat Eure gepriesene Königin behauptet, dass das Volk den Weißen Mantel nicht fürchten müsse. Dass unsere Aktivitäten sich auf den fernen Maguuma beschränken, dass wir keine organisierte Gruppe sind, nicht mehr als eine Hand voll verwirrter Leute. Wie wahrhaftig erscheinen Euch diese Worte jetzt? Stellt Euch die Frage, mein Freund, welcher Lügner der schlimmere ist: Derjenige, der die Lüge anerkennt als essenzielles Mittel zum Zweck - oder derjenige, der sich in ihr verstrickt und sich bald schon selbst zu belügen versucht, in der Hoffnung, auch noch Bestätigung und Liebe dafür zu ernten."
"An euch Verrückten ist alle Menschlichkeit verloren."
"Menschlichkeit, oh, Menschlichkeit. Was unterscheidet den Menschen vom Tier? Gewiss, seine Fähigkeit zur Freundschaft, zur Gerechtigkeit, zur Gnade. Tugenden, auf deren Fundament unser geliebter Gründervater den Weißen Mantel aufgebaut hat. Und die nächste Ebene menschlicher Vollkommenheit zeichnet sich aus durch eine einzige, großartige Erkenntnis." Er schwieg für die Dauer einiger Herzschläge vollständig, lächelte nur mit den Augen, einzig und allein für den blassen Mann bestimmt, der ihm gegenüber auf den Knien saß und seinem Blick mit ungebrochenem Hass begegnete. "Dass nur die Erleuchteten dieser Tugenden auch würdig sind.", hauchte Godfrey.
Als der Gefangene den Rotz hochzog, neigte der Inquisitor sich gekonnt zur Seite, und der Speichelbatzen segelte daneben. Eins zu Null für mich, Charity.
"Ich werte das als Ausdruck Eurer argumentativen Ohnmacht.", fügte er an, während die beiden Kultisten wieder nach vorn traten und zupackten.
Der ehemalige Ministerialwächter warf sich in ihren Griffen wild hin und her, während ihm der Knebel wieder zwischen die Zähne gezwungen wurde. Ein hellblaues Glimmen magischer Kraft erwachte in den mandelförmigen Augen, verschwand allerdings wieder, fernab der Möglichkeiten, seine Kräfte zu kanalisieren. Wäre der Mann nicht so gründlich verschnürt gewesen, dachte sich Godfrey, er hätte seine Häscher gewiss binnen kürzester Zeit überwältigt. Eine Fantasie klassischer Heldengeschichten; Die romantische Vorstellung, dass der strahlende Widerstandskämpfer im letzten Moment das Blatt zu wenden vermag.
Die Klinge schimmerte im schwachen Kontrast flackernder Fackeln vor endloser Dunkelheit, als der Inquisitor seinen Dolch zückte. Die Sprechchöre erwachten ringsum zu neuem Leben, als er den kalten, scharfen Stahl in die Höhe reckte.
"Ich bin der Sensenmann, der Erlöser!", rezitierte er mit klarer Stimme, übertönte das Gebetsmurmeln im Hintergrund. "Und ich ernte die Seelen der Ungläubigen. Denn ihr Gestank, er verweilt. Bis die falschen Götter verschwunden sind."
Er nahm sich einen kurzen Moment Zeit, Distanz und Winkel makellos zu kalkulieren. Dann ließ er den Schnitt durch die Luft sausen.
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