Wir. Töten. Diese. Ratte.
Die Nacht hatte Götterfels fest im Griff, durch die Straßen zog ein sanfter Nebel und es war geisterhaft still.
Die Bewohner hatten sich längst in ihre Häuser zurückgezogen, nur ein Raum in der zweiten Etage des Dorogon-Hauses war hinter den geschlossenen Fensterläden spärlich von Kerzenschein beleuchtet. Eine junge Frau – Mirage Varghes – saß in diesem Zimmer an ihrem Schreibtisch und studierte den Bericht des letzten Einsatzes: Sie hatte sechs ihrer Söldner verloren. Und Elyzabet war entkommen.
Wütend schlug sie mit der Faust auf den Holztisch, so dass ihr Weinglas gefährlich ins Wanken geriet und zu Boden fiel.
„Dafü wird sie bezahlen!“, knurrte sie und strich mit ihrer anderen Hand über den Verband, der sorgfältig über die Wunde in ihrem Gesicht gelegt worden war, die bald Narben bilden und die helle Haut ihres schönes Gesichts für immer entstellen würde.
Es klopfte und ein Mann öffnete zögerlich die Tür. „Alle sind versammelt, auch die Söldner. So wie Ihr es wolltet, Meisterin Varghes“, brachte er mit einem leichten Zittern in seiner Stimme hervor.
Die junge Frau betrachtete einen Moment lang die Lichtreflexe in den Scherben des Weinglases und dem dickflüssigen Rot, das sich langsam in einer Lache auf dem Boden ausbreitete. Dann erhob sie sich und ging zu ihrem Bett, um sich dort ihrer Kleider, die sie seit der Auseinandersetzung mit Elyzabet an diesem Tag nicht gewechselt hatte, zu entledigen. Dem Mann, der noch immer in der Tür stand, schenkte sie keine weitere Beachtung.
Auch der Rest ihres Körpers war mit kleineren und größeren Verletzungen bedeckt, die ebenso wie die Wunde in ihrem Gesicht auf das Konto ihrer ehemaligen Freundin gingen. Doch sie hatte sich geweigert, auch diese von Ponta versorgen zu lassen.
Unter leisem Ächzen und Schmerzen schlüpfte sie in die frische Kleidung und zog den schwarzen Mantel ihres Vaters über, auf dessen Rücken ein Auge in blutroter Farbe – das Zeichen ihrer Familie – gestickt war.
Sie atmete noch ein mal tief ein, bevor sie zur Tür marschierte. Der Mann, der regungslos dort gewartet hatte, wich eingeschüchtert zurück, als ihre Blicke sich kreuzten. Er stieß die Tür ganz auf, um den Weg für die dunkelhaarige Frau freizugeben und folgte ihr in gebührendem Abstand.
In der Küche im Erdgeschoss knisterte das Feuer, über dem das Abendessen in einem Kessel vor sich hin köchelte. Zwei Küchenmädchen blickten von ihrer Arbeit auf und nickten der Vorbeigehenden schüchtern zu. Mirage erwiderte den Gruß beiläufig und hielt zielstrebig auf die Flügeltür zu, die zu der Treppe in den Keller führte. Laut ächzend gab diese dem Druck der jungen Kartellmeisterin nach und öffnete sich. Im Gang dahinter herrschte Totenstille. Die Treppe führte Mirage und ihren Gefolgsmann weit hinunter in eine Art Katakomben, die unter dem Anwesen lagen.
Je tiefer hinab sie die Treppe führte, desto schmaler wurde der Gang. Das Geräusch ihrer Stiefelabsätze, die hart auf den Boden stießen, hallte durch durch die spärlich vom Licht flackernder Fackeln erleuchteten Gemäuer und kündete ihr Erscheinen an.
Am Ende des Treppenaufgangs befand sich eine weitere Tür, die von zwei Söldnern bewacht wurde. Als sie die dunkelhaarige Frau erblickten, wichen auch sie zurück und gaben ihr den Weg in eine große, unterirdische Kammer, mit gesenkten Köpfen frei.
Sofort drangen die lauten Stimmen der Versammelten, die hitzig durcheinander brüllten in den Gang.
An drei Wänden der Kammer waren die Sechs und ihre Geschichten verewigt. Am hinteren Ende des Raumes hing die Karte der Stadt. Darunter standen drei massive. hölzerne Stühle, deren Polster mit kostbaren Stoffen bespannt und deren Armlehnen mit kunstvollen Schnitzereien verziert waren. Zwei der Stühle waren bereits besetzt: Der linke von einem jungen Mann – Kylar, der rechte von einem grimmigen Norn – Grindir. Ihr Platz war in der Mitte. Dahinter stand Albus Ponta, das älteste Mitglied des Kartells, Gelehrter, Archivar und Chronist des Dorogon-Hauses.
Mirage atmete tief durch, ehe sie den Saal betrat. Ein mulmiges Gefühl machte sich in ihrem Magen breit. Sie spürte, wie die Wut im Inneren brodelte – nein, der Hass.
Mit schnellen und sicheren Schritten bahnte sie sich ihren Weg durch die Versammelten, der schwarze Mantel wehte im Takt ihrer Schritte.
Sie nahm ihren Platz zwischen Kylar und Grindir auf dem mittleren Stuhl ein. Ihr Blick flog über die Anwesenden hinweg. Sie wusste, was sie fordern würden. Es war kein Geheimnis, dass Elyzabet sie alle verraten hatte.
„Werfen wir diese Ratte zu den Hunden!“
Die Wut der Anwesenden entlud sich in Tiraden aus Hassbekundungen und Vorwürfen. Auch gegen die junge Kartellmeisterin.
„Du hast dich von ihr um den Finger wickeln lassen, Varghes!”
Mirages Blick wanderte zu Kylar, dann zu Grindir. Sie kannte die Meinungen der beiden.
Die junge Frau lehnte sich zurück, die Unterarme auf die Lehnen gestützt und die Beine überschlagen, schloss sie ihre Augen für einen kurzen Moment.
„Wenn wir das Miststück damit davon kommen lassen, bringt sie uns alle in den Kerker!“
War sie zu weit gegangen? Hatte sie sich so von der Frau täuschen lassen, die einst wie eine Schwester für sie war? – Kylar hatte Elyzabet nie gemocht. Und Ponta hatte sie davor gewarnt, jemand blind zu vertrauen.
Sie verharrte schweigend. Die Stimmen um sie herum wurden lauter. Sie solle ihnen antworten!
Mirage betrachtete die wütende Meute mit zusammengekniffenen Augen. Die Finger ihrer linken Hand umgriffen die Lehne angespannt, als wollte sie diese zerdrücken. Dann riss sie ihren rechten Arm hoch und schlug ihre Faust auf das Holz der Armlehne: „RUHE!“
Die Anwesenden verstummten. die dunkelhaarige Frau erhob sich langsam und ging einige Male vor den Stühlen auf und ab. Kylar wagte kaum zu atmen, auch Grindir wirkte einen Moment lang irritiert.
„Ich spüre und teile euren Hass“, begann sie schließlich zu sprechen. Es waren die ersten Worte, die seit diesem Vorfall über ihre Lippen kamen, „Sechs unserer Freunde sind tot! Und die Verantwortliche ist auf der Flucht. Das Haus Dorogon kennt keine Gnade und ihr wisst welche Strafe auf Verrat steht!“
Sie machte eine kleine Pause und musterte die Gesichter der Anwesenden eindringlich, bevor sie weitersprach: „Diese Ratte glaubt, sie könne uns aufhalten?! Wir werden sie eines besseren belehren! Wir werden sie aufspüren! Wir werden sie jagen! Wir werden sie töten! Ihr Gott hat sie verlassen, als sie sich gegen uns gestellt hat! Wir. Töten. Diese. Ratte.“
Die Söldner hoben ihre rechte Hand, zur Faust geballt in die Luft und skandierte ihre letzten Worte zustimmend.
„WIR TÖTEN DIESE RATTE!”
Mirages Mundwinkel zuckten kurz nach oben ehe sie nach hinten blickte.
„WIR TÖTEN DIESE RATTE!”
Kylar grinste zufrieden.
„WIR TÖTEN DIESE RATTE!”
Ponta nickte knapp.
„WIR TÖTEN DIESE RATTE!”
Nur Grindir schüttelte leicht seinen Kopf und sah noch grimmiger aus, als sonst.
„WIR TÖTEN DIESE RATTE!”
Mirage würde ihre Position an der Spitze des Kartells behaupten. Doch zu welchem Preis?
Intro
Es gibt zwei Sorten von Ratten
Die gemeinsame Kindheit mit Mirage
Ein Tag wie jeder andere
Geburtstag
Seraphen und andere Probleme
Der neue Klingenmeister
Weil sie uns niemals kleinkriegen werden
Henry von Greifenstein
Das Ende der Freundschaft zu Mirage
Blut
Wir. Töten. Diese. Ratte.
Kein Feuer so heiß *Spoilerwarnung*
Das Feuer
Erinnerungen
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