Blut
Sie zog die Klinge ihres Dolchs durch die Kehle des Dorogon-Söldners. Mit weit aufgerissenen Augen starrte er sie an. Er war kaum älter als sie. Das Blut quoll pulsierend im Takt seines sterbenden Herzschlags aus der Wunde. Verzweifelt versuchte er, seine Hände auf den Schnitt zu pressen, um die Blutung zu stillen. Doch die dicke Flüssigkeit rann zwischen seinen Fingern hindurch und färbte seine Kleidung dunkelrot.
Elyzabet konnte nicht sagen, wie lange sie ihm gegenüberstand und seinem Sterben zusah. Als die Beine des jungen Mannes nachgaben und er in sich zusammensackte, lag blankes Entsetzen und Verzweiflung in seinem Blick. Fast sah er aus wie ein kleiner Junge, dem eine schreckliche Wahrheit offenbart worden war. Auf dem Boden liegend streckte er eine blutverschmierte Hand nach ihr aus und schien etwas sagen zu wollen. Doch sie stand zu weit von ihm entfernt, um seine letzten Worte zu verstehen. Als das Licht in seinen Augen erloschen war und seine Muskeln erschlafften, stürzte sie, ohne darüber nachzudenken, zu ihm und begann seine Taschen zu durchsuchen. Viel hatte er nicht bei sich. Doch sie nahm, was sie fand: ein kleiner Lederbeutel mit Münzen, ein Dolch, eine Pistole und ein kleines Bündel mit Briefen.
Langsam stieg Panik in ihr auf. Sie hatte ihn getötet, einen Söldner des Hauses Dorogon, den Mirage geschickt hatte, um sie zurück zu bringen. Und ihre ehemalige Freundin würde noch mehr schicken. Davon war sie nun überzeugt.
Sie stand auf, trat einige Schritte von dem Toten zurück. Der Boden unter ihren Füßen schien zu wanken. Mit zitternden Fingern verbarg sie ihre Beute in den Taschen ihres Mantels.
Dann begann sie zu rennen. Die Straßen von Götterfels verwandelten sich in ein Labyrinth. Es fiel ihr schwer sich zu orientieren. Obwohl sie es gewohnt war zu rennen, raste ihre Herz und sie konnte das Rauschen ihres eigenen Blutes in ihren Ohren hören. Immer lauter und lauter. In ihrem Sichtfeld begannen graue Flecken zu tanzen und das Atmen fiel ihr zunehmend schwer. Doch sie rannte weiter. Sie musste sich verstecken. Die Seraphen durften sie nicht erwischen. Aber wichtiger noch war, dass die Söldner sie nicht finden durften – sie konnte nicht zu Mirage zurück!
Es war spät in der Nacht und die Stadt lag ruhig. Ihre Schritte hallten überlaut durch die Straßen. Sie wusste nicht, wohin sie fliehen konnte, also rannte sie einfach weiter. Vielleicht aus Götterfels hinaus? Königintal! Das Rauschen in ihren Ohren wurde unerträglich laut. Beetletun oder Tonteich und von dort aus weiter! Ihr Herz schlug so schnell, dass es schmerzte und sie fürchtete, ihr Brustkorb würde jeden Augenblick auseinander gerissen. Löwenstein! Wenn sie es nur nach Löwenstein schaffen konnte, aus dem Einflussbereich der Dorogons hinaus...
Als sie um eine Häuserecke in eine kleine Seitengasse einbog, tauchten plötzlich die Umrisse einer vertrauten Gestalt auf – Mirage! In ihrer rechten Hand hielt sie ihren Dolch, in ihrer linken eine Laterne, deren Lichtkegel kaum bis zum Pflaster der Straße reichte. Doch es reichte, um Elyzabet zu blenden.
„Da bist du!”, fauchte Mirage und sprang ihr entgegen.
Elyzabet versuchte auszuweichen, doch der erste Hieb erwischte sie am Oberarm und schnitt tief durch den Ärmel ihres Mantels in ihre Haut. Sofort konnte sie spüren, wie ihr eigenes Blut warm aus der Wunde hervorquoll.
„Bitte hör auf, Mirage”, brachte sie atemlos hervor.
„Du hast uns verraten!”, knurrte die Dunkelhaarige nur, ließ die Laterne fallen und holte zu einem weiteren Angriff aus.
„Bitte hör auf! Wenn ich dir noch irgendwas bedeute...”
„Du weißt, welche Strafe auf Verrat steht!”
„Wir waren doch Freundinnen... Schwestern, Mirage!”, Elyzabet spürte, wie ihr Tränen in die Augen stiegen, „Bitte lass mich gehen!”
„Das kann ich nicht und du weißt wieso!”, erwiderte Mirage nur mit eisiger Stimme und drängte den Rotschopf in eine kleine Nische zwischen zwei Häusern.
„Bitte!”
Der Rotschopf stand mit dem Rücken an eine Mauer gepresst. Mirage hielt die Klinge ihres Dolchs direkt an ihre Kehle.
„Du hast dich so verändert! Ich erkenne dich nicht wieder, seit du auf diesem verfluchten Stuhl sitzt”, brachte Elyzabet flüsternd hervor. Tränen rannen über ihre Wangen.
„Und du hast dich nie weiter entwickelt, Ely. Du bist immer die dumme, hilflose Kleine geblieben, die ich damals vor den Seraphen retten musste, weil sie zu dämlich war, ein paar beschissenen Kupfermünzen von einem beschissenen Händler zu klauen!”
„Mirage... bitte!”
Die Klinge entfernte sich kurz von Elyzabets Hals, doch dafür holte die Dunkelhaarige mit der anderen Hand aus und schlug ihr so hart ins Gesicht, dass ihr Kopf gegen die Mauer knallte. Ein stechender Schmerz zuckte durch ihren gesamten Körper und ihre Sicht verdunkelte sich.
„Ich bin wirklich froh, dass ich dich selbst töten kann”, Mirages Stimme wurde zu einem Flüstern direkt an ihrem Ohr, „Und ich werde mir viel Zeit dafür nehmen, Ely! All die Jahre warst du ein Klotz an meinem Bein. Du hast mich ausgebremst, gehemmt, verhindert, dass ich mein Potential voll entfalten kann mit all deinem Gejammer und deinem viel zu weichen, kleinen Herz. Aber ich habe das erkannt und werde mich von dir befreien!”
Elyzabet spürte den warmen Atem ihrer ehemaligen Freundin auf ihrem Hals und ihrer Wange. Sie nahm den Geruch der jungen Frau wahr. Ein Geruch, der seit frühen Kindertagen Sicherheit und Geborgenheit bedeutet hatte.
Der Schmerz in Elyzabets Kopf war überwältigend. Ihre Beine versagten ihren Dienst und die Rothaarige sackte zusammen.
Mirage lachte kalt und griff nach ihrem Kragen, um sie wieder hoch zu ziehen: „Nicht mal jetzt bist du in der Lage dich zu verteidigen!”
„Bitte lass mich gehen. Ich verlasse Fels. Du siehst mich nie wieder...”
„Du warst immer eine schlechte Lügnerin”, ihr Griff lockerte sich und Elyzabet fiel wieder zu Boden. Dann begann Mirage auf sie einzutreten, „Aber wenn ich so darüber nachdenke, warst du in allem schlecht, Ely!”
Sie krümmte sich unter den Tritten, versuchte sie vorauszuahnen, doch die Dunkelheit vor ihren Augen und der stechende Schmerz in ihrem Kopf machten es ihr fast unmöglich ihnen auszuweichen.
„Ich konnte dir vieles verzeihen! Sogar deine ständige Unfähigkeit! Aber dass du versucht hast, dich zwischen Kylar und mich zu stellen, war wirklich dumm!”
„Mirage”, wimmerte die am Boden Liegende. Dann traf der Stiefel ihrer ehemaligen Freundin sie im Gesicht. Sie spürte, wie ihre Oberlippe aufplatze und das Blut ihr direkt in den Mund floss. Sie musste es ausspucken! Der metallische Geschmack verursachte ihr augenblicklich Übelkeit und sie begann zu würgen.
Mirage hielt inne und blickte auf das Bündel Elend. „Du warst immer zu weich. Du hättest ohne mich nie überlebt. Doch statt mir dankbar zu sein und meine Stärke anzuerkennen, hast du immer nur versucht, mich weich zu machen, damit ich ich so werde, wie du...” Sie ging in die Hocke und packte Elyzabets Kinn, um ihren Kopf hoch zu reißen. „Aber das hast du nicht geschafft. Und als du das erkannt hast, hast du versucht mir in den Rücken zu fallen und alles kaputt zu machen, was mein Vater für mich aufgebaut hat. Aber auch da hast du wieder einmal versagt, Ely!”
„Ich... verlasse Fels, ich... schwöre es!”
Die Dunkelhaarige drückte Elyzabets Kopf wieder auf das Straßenpflaster: „Nein! Ich kann dich nicht gehen lassen. Du wirst den Tod bekommen, den du verdient hast, du Ratte!”
Elyzabet spürte, dass Mirage ihren Dolch wieder griff, schaffte es aber sich auf dem Boden zu drehen und nach ihr zu treten. Sie erwischte sie und ihr Fuß stieß hart gegen das Brustbein der Dunkelhaarigen. Mirage hatte nicht damit gerechnet. Für einen Augenblick blieb ihr die Luft weg, sie kippte nach hinten und ließ ihren Dolch fallen. Das verschaffte der noch immer Blinden Zeit, um ihren eigenen Dolch zu ziehen und sich aufzurappeln.
Sie konnte Mirage nicht sehen, doch hören, wie diese sich wieder sammelte und ihre Waffe aufhob.
„Ich muss gestehen, dass ich mich fast schlecht gefühlt habe, als du so gewimmert und um dein Leben gebettelt hast. Danke, dass du es mir so leicht machst, Ely!”
Elyzabet spürte wieder die Mauer in ihrem Rücken, an der sie sich aufrichtete. Dann lenkte sie ihren verdunkelten Blick dorthin, wo sie ihre ehemalige Freundin vermutete: „Nicht heute!”
Mirage lachte, „Sieh dich an. Du kannst kaum stehen. Du hast keine Chance!”, und holte zu einem Hieb mit ihrer Waffe aus.
Als Kinder hatten die beiden oft zusammen geübt. Auch wenn die Dunkelhaarige immer besser gewesen war, kannte der Rotschopf so doch die Bewegungen, die Mirage im Kampf bevorzugte und versuchte zu erahnen, wohin sich ihr Angriff richten würde. Tatsächlich konnte sie dem Dolch ausweichen, prallte aber mit Mirage zusammen. Sie nutzte diese Gelegenheit, um ihrer Kontrahentin ihre eigene Klinge in die Schulter zu rammen.
Mirage schrie auf und stieß dem Rotschopf als Antwort ihren Ellenbogen in die Seite. Elyzabet keuchte auf, nutzte die Nähe zu ihrer Gegnerin aber, um sich an dieser fest zu klammern und zu Boden zu ringen. Sie landeten beide unsanft auf dem Pflaster und rangelten dort weiter.
Immer wieder gelang es Mirage, einen gut gezielten Schlag auszuteilen und Elyzabet mit ihrem Dolch zu verletzten, doch die Rothaarige wehrte sich hartnäckig und erwischte Mirage ebenfalls einige Male mit ihrer Klinge. Die Schwärze, die ihre Sicht behinderte, lichtete sich langsam wieder, so dass sie allmählich Schemen erkennen und Mirages Attacken wieder besser parieren konnte. Dennoch gelang es der Dunkelhaarigen, Elyzabet von sich herunter zu stoßen und sich auf sie zu setzen. Mit einer Hand drückte Mirage ihre Kehle zu, die andere hielt die Waffe fest umklammert und holte zu einem kräftigen Hieb aus: „Das Spiel ist aus!”
Elyzabet tastete nach dem Heft ihres Dolchs, den sie in dem Gerangel losgelassen hatte. Als sie es greifen konnte, schleuderte sie das Messer in Mirages Richtung. Die Klinge verfehlte nur knapp das linke Auge der Dunkelhaarigen. Sofort trat Blut aus dem Schnitt, der von ihrem Nasenrücken über die Wange bis unter ihre Schläfe verlief. Wieder schrie sie auf, ließ von Elyzabet ab und presste panisch ihre Hände auf ihr Gesicht. Auf diese Gelegenheit hatte der Rotschopf gewartet. Elyzabet konnte Mirage von sich herunter stoßen und setzte mit einem kräftigen Schlag gegen ihre Schläfe nach. Die Dunkelhaarige schnappte überrascht nach Luft, konnte den Angriff aber nicht mehr parieren und ging bewusstlos zu Boden.
Schwer atmend kniete Elyzabet neben ihrer ehemaligen Freundin. Sie griff wieder nach ihrem Dolch, umklammerte seinen Griff mit beiden Händen und hätte nur noch zustoßen müssen, um das Leben der Dunkelhaarigen zu beenden.
Wieder rannen Tränen über ihre Wangen und ihre Finger begannen zu zittern. Sie ließ die Waffe sinken, „Ich hoffe, du kannst mir eines Tages verzeihen, Mirage...”, wisperte sie, rappelte sich auf und rannte, so schnell sie konnte davon.
Intro
Es gibt zwei Sorten von Ratten
Die gemeinsame Kindheit mit Mirage
Ein Tag wie jeder andere
Geburtstag
Seraphen und andere Probleme
Der neue Klingenmeister
Weil sie uns niemals kleinkriegen werden
Henry von Greifenstein
Das Ende der Freundschaft zu Mirage
Blut
Wir. Töten. Diese. Ratte.
Kein Feuer so heiß *Spoilerwarnung*
Das Feuer
Erinnerungen