Spaziergang und Morgengrauen

Ein kühler, eisiger Blick aus blaugrünen Augen durchmisst die Schatten der Winkel und Gassen des dämmrigen Götterfels. Knapp und zielstrebig geht der Klang dunkler, fester Stiefel auf dem steinernen Pflaster in der Geräuschkulisse vollkommen unter - als ein untergeordneter Teil der einzigen, großen Kakophonie der Morgenstunden.
Unsichtbar für das Auge gleicht der Geist, der eben diese Schritte lenkt, einem scharf geschliffenen Schwert, welches zum tödlichen Schlag ausgeholt ist... bebt unter geballter, sich immer mehr aufbauender Energie. Ein Nimbus dunkler Gedanken erfüllt ungesehen den Kopf der jungen Frau Mitte Zwanzig, deren mentaler Klinge mitterweile seit Wochen eine dienliche Richtung fehlt, in die sie vorschnellen kann.


'Elendes, feiges Pack. Verdammte Huren, allesamt. Wie könnt ihr es wagen, euch an meiner Familie zu vergreifen...'
Malicias Gedanken drehen sich längst im Kreis, sobald sie sich in Ermangelung eines Ventils und sinnvoller geistiger Betätigung immer mehr ihrem Durst nach Vergeltung hingibt. Den blödesten und dämlichsten Hinweisen ist sie in den letzten Tagen und Wochen nachgegangen, um irgendeine Art von Spur zu finden. Eine Spur, die sie auf die Fährte derjenigen führen würde, die für den Tod ihres Halbbruders Tulio und die Verwundung Trajans verantwortlich sind. Im Grunde neigt sie nicht zur Brutalität und bevorzugt pragmatisches, nüchtern effizientes Vorgehen. Doch mittlerweile denkt sie nicht nur ein Mal am Tag mit ungutem Genuss daran, die Gesuchten von eigener Hand leiden zu lassen und es ihnen nicht nur durch einen schnellen, ehrlosen Tod heimzuzahlen. Nicht nur, dass man die Familie zum Narren hält und es an ihrem Ehrgefühl wie Ehrgeiz kratzt, nichts dagegen ausrichten zu können... gehen ihr die nebulösen Geheimnisse und das Vage inzwischen gehörig auf die Nerven. Das ständige Stochern im Dunklen, das angespannte Warten auf den Moment, an dem ihre Feinde den einen verhängnisvollen Fehler machen.


Sie wird langsamer. Ihr Blick haftet am Hinterkopf eines - dem äußeren Anschein zufolge - einfachen Bauern, der mit dem Rücken zu ihr seinen Karren entlädt, um die in die Stadt verbrachte Ware gegen Bezahlung einem Händler zu überantworten. Gemächlich stromert Malicia - ohne die beiden aus den Augen zu lassen - an den Rand der breiteren Straße und kniet nieder, um zum Schein an ihrem Stiefel zu hantieren und dessen Sitz zu korrigieren. Sie beobachtet die Geldübergabe unauffällig und richtet sich in äußerlicher Gemütsruhe wieder auf. Vertreibt sich weitere Zeit damit, einen der letzten Zigarillos zu entzünden, die Trajan ihr dereinst als Willkommensgeschenk überlassen hat. Sie ist keine leidenschaftliche Raucherin, aber gelegentlich ist es ein bequemer Vorwand an vermeintlich zufälligen Orten kurz zu verweilen. Ihr Blick wird von einem kleinen Zettel angezogen, der zwischen Bauer und Händler den Besitzer wechselt. Kurzzeitig hält sie die Luft an und setzt sich abrupt in Bewegung. Marschiert direkt auf die gestapelten Kisten mit Obst und Gemüse zu, als interessiere sie sich brennend für die Ware. Ein 'versehentliches' Anrempeln später befindet sich das ominöse Schreiben in ihrem Besitz. Sie wechselt ein paar belanglose Worte mit dem ahnungslosen Händler, lenkt ihm mit gefälligem Augenaufschlag ab. Im Weggehen ein kurzer Blick, dann wirft sie die Notiz achtlos beiseite. Der Mann wird sie später wieder auffinden können und glauben, dass er sie selbst hat fallen lassen.


Eine alberne, vollkommen uninteressante Aufstellung der gelieferten Waren mitsamt zugehöriger Preise.
Sie hat sich von einem Hirngespinst in die Irre führen lassen. Erneut.
Etwas muss geschehen.
Und zwar bald.
Anders als vielleicht einzelne andere Mitglieder der Familie gibt Malicia sich keinen Exzessen der Gewalt oder anderer Leidenschaften hin, bleibt professionell und präzise in ihrer Arbeit. Agiert nie über das Maß der Notwendigkeit hinaus. Jedoch genau das droht ihr in diesen Tagen allmählich zum Verhängnis zu werden. Zunehmend wird sie sich dessen bewusst. Sie braucht ein Ventil.


Die zielstrebig und doch ohne ein echtes Ziel gehende dunkle Gestalt schnippst den nur zur Hälfte gerauchten Tabak seitlich zu Boden und ballt die behandschuhte Rechte zu einer Faust, ohne auch nur einen Deut langsamer zu werden. Ihre Wege durch die Stadt sind nie die gleichen. Sie variiert diese ständig, um nicht zu einer vollkommen albernen Patrouille zu werden.


Ablenkung wäre gut, so wenig ihr auch der Sinn danach steht. Mehrfach hat sie schon erwogen, sich einen Liebhaber zu wählen. Zumindest wäre das eine Gelegenheit etwas Dampf abzulassen. Allerdings könnte ihr Interesse an derlei derzeit kaum geringer sein... und zudem hat die nach wie vor fremde Stadt ihr schlicht noch keinen Mann gezeigt, den sie in dieser Rolle überhaupt akzeptieren könnte. Zumindest keinen Mann, der nicht nah mit ihr verwandt wäre. Ihre Ansprüche deswegen jedoch herunterschrauben? Pah.


An der einen oder anderen männlichen Gestalt von gutem Wuchs bleibt ihr Blick im Vorübergehen haften. Es dauert kaum eine Sekunde, bis dass sie jeweils gedanklich gnadenlos aussortiert sind.


In Löwenstein ist alles anders. Härter und schneller, in mancher Hinsicht. Ein Tempo und eine Gangart, an die sie sich gewöhnt hat. Dort kennt sie sich aus und hat ein Gefühl für die Gesellschaft, für die Verhältnisse und ihre Verbündeten. War in ihrer Zeit dort auch aus sich selbst heraus handlungsfähiger gewesen. Gewiss gibt es manches gefährliche Spannungsfeld um Nicolae, doch in den meisten Fällen hat sie diese - nicht zuletzt dank ihres Vaters - zu meiden gewusst. Mit dem scheinbar lässig-lockeren Umgang so mancher Götterfelser Iorga hat Malicia hingegen zu kämpfen und tut sich nach wie vor schwer, deren wahre Haltung einzuschätzen.
Da ist ihr dieser rauhe, eigenwillige Banel im Umgang noch fast der Angenehmste. Er hatte ihr den Rücken freigehalten und bewiesen, dass man sich dahingehend auf ihn verlassen kann. Auch sein Bruder hat bei Malicia einen grundsätzlich positiven Eindruck hinterlassen. Wenngleich so manche Anwandlung ihr auf die Nerven geht, so hat es doch Momente gegeben, in denen sie ihn als recht klar und überlegt wahrgenommen hat. Ebenso wie solche, in denen sich eine Art von interessanter Gefährlichkeit andeutete. Am 'überlegtesten' ist ihr bislang jedoch Trajan mit seiner hartnäckig zur Schau getragenen, widerwärtigen Freundlichkeit erschienen. Ihrer Loyalität ihm und den anderen Iorga gegenüber tut dies jedoch keinen Abbruch. Sie ist hierher gekommen, um zu bleiben. Die Veränderung anzunehmen und einen neuen Weg zu gehen. Helena empfand sie von Beginn an schwierig. Schwierig zu verstehen und zu durchschauen für die Direktheit liebende Libanez.
Doch zu ihrem Entschluss diese Veränderung anzunehmen gehört auch, jener zu folgen und ihr Leben ihr anzuvertrauen. Unter den weiteren Iorga... es gibt so verdammt viele mit diesem Namen in Götterfels... ist sie nach wie vor im Begriff sich zu orientieren und sich eine Meinung zu bilden. Allzu viele haben diese enervierende äußerlich joviale Haltung an sich. In ihrer Vergangenheit hat Malicia über weite Strecken hin unter soetwas wie einem strengen Regiment gestanden und obgleich sie sich so manches Mal sehr dagegen sträubte, vermisst sie diese klare Strenge bisweilen.
Banels Worte kommen ihr in den Sinn... Eine ganze Stadt voller Schwuchteln. Zutreffender kann sie es nicht formulieren. Schade, dass dieser Iorga nicht ansehnlicher und... größer geraten ist. Anderenfalls hätte er vielleicht einen brauchbaren Liebhaber abgeben können. Aber so...? Undenkbar.
Einzig ihre Brüder sind ihr in diesen Tagen ein Fels in der Brandung, besonders Adeodato. Von ihm fühlt sie sich verstanden. Dazu bedarf es nicht einmal vieler Worte. Seiner und Enzos Haltung kann sie sich jederzeit sicher sein.


Malicia entspannt die geballte Faust beim Gedanken an ihre Brüder allmählich wieder, während sie die Gassen der Stadt weiter entlang läuft. Sie schaut hinauf in Richtung des heller werdenden Himmels, der in für sie sehr gewöhnungsbedürftiger Weise von den sie umgebenden Gebäuden und den Stadtmauern ständig eingesperrt scheint und trotzdem eine Ahnung von seiner Weite gibt, die sich erst auf See gänzlich entfaltet.


Möglicherweise ist es Zeit für eine Veränderung. Vielleicht ist es an der Zeit, sich den Gepflogenheiten in diesem Teil von Tyria anzupassen. Diesen Menschen das joviale, zum Schein gesellige Spiegelbild zu geben, welches ihrem Geschmack zu entsprechen scheint. Schon bei dem Gedanken daran glaubt Malicia einen schalen, ekelerregenden Geschmack auf ihrer Zunge zu spüren. Sie kennt dieses Spiel nur allzu gut. Doch unter denjenigen, denen sie vertrauen soll und will, ist es ihr ein Ärgernis und steht einer klaren Kommunikation entgegen.


Sie zieht die Schultern etwas höher und verengt die Lider, während sie allmählich langsamer wird und stehen bleibt.
Sieht hinter sich - den Weg, den sie gekommen ist - dann wieder nach vorn.


Adeodato. Sein Rat wird nützlich sein.

Kommentare 7

  • Also namentlich passen die auch gut zueinander. Bane&Malice, Partners in crime? Best Lovestory Ever told?

  • Eine sehr schön geschriebene und nicht minder immersiver Beleuchtung von Malicias Gedanken. Sie versteht es durechaus, zu überraschen und in dieser Geschichte einige noch unbekannte Details preizugeben, ohne jedoch allzu konkrete Vermutungen entstehen zu lassen. Klasse!" :)

    • Danke schön. :) Ich war zeitweise schon in Sorge, ob so viel Reflexion für andere nicht langweilig sein könnte... Und ich hoffe, nicht zu viel gespoilert zu haben. ;)

  • Aaaaaaah, eine Libenaz-Geschichte <3


    Finde ich toll, dass du über Malicia schreibst, ich hab diesen Einblick sehr gern gelesen. Der arme Vito wird voll ausgegrenzt von ihr! :P


    Schreib gern mehr! <3