Ärmel gegen Lolly

Die Stimmung war gespannt wie ein Faden, der kurz vorm reißen war im Hause Vernom. Schwer lastete die Wut auf dem Brustkorb Jelenas, die zu dem Zeitpunkt gerade einmal selbst erst 12 Jahre alt war.


Die Rollen und Erwartungen an die eigenen Töchter waren streng und die meisten, familiären Verantwortlichkeiten blieben bei den nächstälteren hängen. Dadurch kam es vermehrt zu Konflikten, da die ältere Schwester aufgrund einer Krankheit zusätzliche Unterstützung benötigte und die nächstältere Schwester viele Aufgaben übernehmen musste. Adelaide - die Mutter - war zudem auch noch alleinerziehend und selbstständig mit einem Blumengeschäft. Sie waren normale bürgerliche, bis schon beinahe ärmlich.


Die 12-Jährige Tochter fühlte sich dementsprechend unfair behandelt. Sie sollte und musste viele ihrer eigenen Aktivitäten und Verpflichtungen vernachlässigen, um ihrer kranken Schwester zu helfen, im Laden aushelfen, den Haushalt übernehmen oder sich um die jüngeren Geschwister kümmern. Ihr kam es so vor das ihr Leben dadurch stark eingeschränkt wurde und sie keine Zeit mehr für sich selbst hatte. Jelena musste früh erwachsen werden und teilweise die Rolle einer Erziehungsberechtigten übernehmen. Das führte oft zu Frustration und Widerstand, da wenig ihre eigenen Bedürfnisse und Wünsche berücksichtigt wurden.


In einem Waisenheim herrschte eine ganz andere Dynamik. Die Älteren übernahmen automatisch Aufgaben, die die Jüngeren noch nicht machen konnten. Es gab keine Eltern, nur die Erzieher, die die Waisenkinder aufgenommen hatten und nun großzogen, verpflegen mussten und zumindest das Grundsätzliche beibringen. Soweit es eben ging. Natürlich wurde auch mal rebelliert. Das blieb nicht aus.


Es gab auch mal Streit unter den Kindern, aber da sie von Anfang an lernen mussten mit dem Vorlieb zu nehmen was sie hatten, ging der Streit um ganz andere Sachen. Dinge an die ein Kind aus adeligen Kreisen oder zumindest aus einem Haushalt mit genügend Geld, nicht mal dachte. Es wurde nicht um Kleidung gestritten oder wer etwas hübscheres hatte.


Aladdin wuchs in einem auf, der konnte nur ein Liedchen davon singen. Ein Leben das Jelena fremdartig war und sich doch manchmal wünschte lieber dort aufgehoben zu sein als hier.


Wobei Aladdin sich des Nachts sicherlich sehr oft die tröstenden Arme einer Schwester oder Zankereien mit der Mutter wünschte, denn beides hatte er nicht. Zumindest wüsste er von weder noch!


...


"Ich möchte wirklich nicht noch Narcissas Aufgaben übernehmen. Heute habe ich schon so viel gemacht. Ich habe gelernt, ich habe mich darum gekümmert das die Bestellung verräumt ist und abkassiert habe ich auch noch. Nebenbei sogar noch den Boden gewischt...", flehte Jelena um ein bisschen Freizeit am späten Nachmittag.


Adelaide's Augen funkelten vor Wut. Eine störrische Tochter? Das brauchte sie gerade nicht auch noch. "Du hast immer etwas zu meckern. Du bist alt genug, um Verantwortung zu übernehmen und Aufgaben zu erledigen. Es geht nicht immer nur um dich und deine Bedürfnisse. Du denkst immer nur an dich selbst!", startete die Mutter ihre Tirade, die Jelena so gerade eben über sich ergehen ließ.


Nicht fähig dieser Frau in diesem zu widersprechen. Sie saß nur dort, sehnte sich ein wenig mehr Freizeit um die leere Batterie aufzuladen. Jeder Tag war vollgepackt mit Pflichten. Jeden Tag hatte sie Verantwortung zu übernehmen. Es blieb selten Zeit für sich. Heute war einer der sehr wenigen Tage, in denen Jelena ihr Recht herausnehmen wollte. Sie war es müde, denn diese Tage waren erbarmungslos und kehrten immerzu wieder. Träge starrte die Blondine heraus. Was ihre Mutter schimpfte? Das drängte sich gar nicht durch. Es waren die immer selben Vorwürfe und wüste Beschimpfungen. An besonders schlechten Tagen hörte Jelena diese und fühlte sich verletzt.


"Ich sehe, dass du nicht verstehen willst. Ich werde mich jetzt zurückziehen und versuchen, meine Ruhe zu finden. Du bist ungerecht und hast kein Verständnis für mich. Respektiere das.", sprach sie leiser als ein kleiner Versuch der Auflehnung.


Adeleide griff nach dem noch feuchten Leinen-Geschirrtuch und feuerte es durch das Gesicht ihrer Tochter. "Respekt?! Erweise du mir erstmal Respekt, bevor du selbst welches bekommst! Das Leben läuft nicht immer nach deinen Regeln. Es gibt Zeiten, in denen du deine Pflichten erfüllen musst, egal wie müde oder gestresst du bist! Du hast noch genug Luft um dich zu widersetzen! Du kannst machen was du meinetwegen willst, wenn du einen Baron geheiratet hast, oder einen Fürsten du undankbares Miststück!"


Die Wucht des Tuches klatschte ihr unbarmherzig ins Gesicht und würde gewiss ein Veilchen am Auge hinterlassen - die sie zum Glück reflexartig zugekniffen hatte. Adeleide hatte Wut und Kraft in ihren Händen. Das Temperament ging definitiv durch mit ihr - das einzige was sich Jelena jetzt und auch in Zukunft mit ihrer Mutter teilte.


Erschrocken und gelähmt hielt sich die Blonde das Auge und starrte ihre Mutter mit dem versehrten an. Sie wusste nicht wirklich weshalb die Tränen flossen. Ob es die wüsten Beschimpfungen waren, die undankbarkeit, der Schreck oder der Schmerz? Es war jedenfalls nicht, weil sie nicht durfte


Überheblichkeit lag in dem Blick der Mutter. Adeleide war zu weit gegangen und doch fühlte sie sich im Recht. Doch als Jelena hinaus hastete, schien sie überrascht.


Die Blonde saß später in der Nähe Uzolans mechanisches Orchester. Die Melodien hatten meist eine beruhigende Wirkung auf sie, doch heute war es perfekt um ihr leises Schluchzen zu übertönen. Sie fühlte sich klein und allein. Sehnte sich nach den starken Armen des Papas. Doch als Cassandra geboren wurde vor 2 Jahren, nahm er Reißaus. Sie erinnerte sich an Zeiten an denen sie Papas Prinzessin war. Damals war noch alles gut, als es vielleicht Aussicht auf einen männlichen Erben gab. Doch nach der fünften Tochter, wobei eine stark erkrankt war, war er es leid und entschied sich, nicht mehr Jelenas Held zu sein. Kurz waren die Erinnerungen melancholisch und schön, aber dann brandete eine Welle Von Wut gegen den Brustkorb und es verblasste das Gefühl des vermissens.


Im Augenwinkel tat sich aber etwas. Ein Junge. Etwa in ihrem Alter hatte sich vor sie gestellt und blickte zu ihr hinab.


Dieser Junge der da aufgetaucht war, war Aladdin. Ein Waisenkind mit rabenschwarzen Haaren und rehbraunen Augen. Er wirkte braungebrannt, vielleicht auch ein bisschen dreckig vom spielen, da er oft die Tage draußen verbrachte. Viel mehr als das Nötige, konnte ihm das Waisenhaus eh nicht beibringen, da war dann viel Zeit Nachmittags, um Irgendwo zu sein. Nicht allzu weit weg, sah man noch zwei weitere Kinder, die schienen aber beschäftigt zu sein und achteten so gar nicht auf das, was dort am mechanischen Orchester geschah. Seine Kleidung bestand aus einem sehr einfachen, schon mal geflickten Leinenhemd, einer braunen Hose und genauso einfachen Lederriemen- Schuhen. Absolut nichts Besonders und sollte wohl allen voran Zweckmäßig sein. Da war nur eine Kette, die um seinen Hals hing, die an sich zu groß bemessen wirkte, mit einem Medaillon dran.


Zu diesem Zeitpunkt war noch nicht klar, dass er ein Jahr älter nur war. Mit 13 Jahren und ca. 1,56 m hoch, lag Aladdin soweit voll im Durchschnitt. Seine Stimme klang rau, als ob er schon Kettenraucher wäre. „Warum weinst du?“, kam es dann wahrscheinlich in dem Moment knallhart und ehrlich rüber, wobei er nicht anklagend sondern neugierig klang. Der Schwarzhaarige schien im Stimmbruch. Das letzte Wort krächzte mehr, als die zwei davor. In der linken Hand trug er einen Bogen und Pfeil aus Holt, eindeutig zum üben gedacht, aber so gebaut, dass niemand ernsthaft verletzt werden konnte. Die recht Hand war in die etwas kurz geratene Hose geschoben worden. Irgendwie war vom Anblick schon klar, dass er nicht einfach ein Kind von armen Eltern war.


Ohne die Antwort des Mädchens abzuwarten, plöppte er seinen Hintern neben ihr auf den Boden. Der Kopf drehte sich, als ob er keine ihrer Reaktionen verpassen wollte. Die Rehaugen musterten sie regelrecht. „War Jemand gemein zu dir?“ Kinder achteten ja nun wirklich nicht darauf, ob man Du oder Sie sagen sollte. Das war unter Kindern wahrscheinlich nicht so wichtig. Ein Taschentuch oder ähnliches hatte er nicht dabei, daher konnte dieses auch nicht gezückt werden, um es ihr zu geben. Stattdessen nutzte er seinen Ärmel, um die Tränen wegzuwischen. Eher etwas unmotorische Bewegungen, da er den Ärmel zwischen Ballen und Fingern festhielt und so den Arm anwinkeln musste.


Es gab eben nicht genug Geld, um ständig für alle Kinder die etwas gewachsen waren neue Kleidung zu besorgen. Ihn selbst störte es nicht, dass diese etwas Kurz war und geflickt wurde, bevor an neu kaufen gedacht wurde und sei es eben nur der Stoff und es wurde selbst genäht. Aladdin kannte es nicht anders, da er bereits als Baby abgestellt worden war und so dies eben sein zu Hause war.


Jelena hatte das weinen abgestellt, als der Junge sich neben sie setzte und die Tränen trockneten, für die er nicht verantwortlich war. Ihre Neugierde war geweckt. Auf seine Frage hin lächelte das Mädchen über das ganze Gesicht, wenn auch das Herz noch schwer war und sie sich mies fühlte. "N-Nein, alles gut - wirklich.", log sie rasch und nickte dankbar. "Manchmal sind Erwachsene doof, dass ist alles.", schob sie hinterher und fummelte ihren Ponny so, dass das leicht gerötete Auge in Vergessenheit geriet. "Schau, ich habe einen Lolly! Den gebe ich dir als Dank, dass du dich um mich sorgst." Quasselte sie direkt los. "Oh, ich bin übrigens Jelena! Manche nennen mich aber Jelly. Wie du willst!"


So brachte die Blonde einen Lolly zutage mit Kirschgeschmack und hielt ihm diesen entgegen. Was auch immer es war, es war ein kleiner Moment, der das Eis zwischen den beiden brach.