Begegnung

"Und w-womit verdiene ich diese Ehre?"
Lionel war überrascht, dass er die Worte überhaupt über die Lippen bekam. In Situationen wie jener, in der er sich gerade befand, neigte seine Stimme dazu, ihm den Dienst zu verweigern, und im Angesicht der riesenhaften Gestalt, die in diesem Moment vor ihm aufragte, hätte er es ihr nicht einmal übel nehmen können. Sein Blick huschte umher. Von den Holzdielen der schäbigen Tavernenwände wanderte er über seine eigenen Handschuhe, deren eingearbeitete Metallplatten an ihren Rändern begonnen, Rost anzusetzen, und von dort zur polierten Brustplatte des Norns, der einige Schritte vor ihm stand, in deren glänzender Oberfläche er meinte, ein verschwommenes Abbild seiner selbst erkennen zu können: Schmale Gesichtszüge, blondes Haar, dass durch das Tragen seines Helms in eine ebenso helmähnliche Form gepresst worden war, und blassbraune Augen, deren sonst üblicher Mangel an Ausdruckslosigkeit einer deutlichen Zurschaustellung von Verwirrung gewichen war.

All diese Eindrücke nahm er kaum wahr. Die Rastlosigkeit seines Blickes entsprang keiner Neugier, nein, er wollte es nur tunlichst vermeiden, ihn nach oben zu richten, wollte vermeiden, dem des Norns zu begegnen.

Dennoch spürte er ihn. Den stechenden, einäugigen Blick des Riesens, der sich in ihn hineinzubohren schien, bei dem er das Gefühl bekam, dass alle Geheimnisse, die er je gehegt hatte, kurz davor stünden, aufgedeckt zu werden. Ein solch unbehagliches Gefühl überkam ihm unter der unablässigen Beobachtung der einzelnen, unnatürlich strahlenden, blauen Iris, dass er nervös auf seinem Platz hin und her rutschte.

"Sieh es nicht als Ehre, Bursche. Sieh es als Test deiner Entschlossenheit."

Die Stimme, die ihm antworte, war so tief, dass ihr Klang Vibrationen durch seinen Unterleib fahren ließ. Es war die Stimme eines älteren Mannes, an der die vielen Jahre der Nutzung nicht spurlos vorbeigegangen waren, und dennoch war sie weit davon entfernt, brüchig oder gar schwach zu klingen. Selbst über das Stimmengewirr der prall gefüllten Taverne hinweg war jedes Wort unmissverständlich und klar, und Lionel war sich sicher, dass ein gebrüllter Befehl dieser Stimme auch das Getöse eines jeden Schlachtfelds mühelos übertönen könnte.

"N-Nun, womit habe ich dann diesen Test verdient? Wieso ausgerechnet ich?"

Seine eigene Stimme kam ihm im Vergleich geradezu lachhaft mickrig vor. Eigentlich traf das auf alle Aspekte seines Seins zu, das ihm im Schatten dieses Giganten in seiner Gesamtheit... Insignifikant erschien. Lionel selbst war eigentlich recht groß, der junge Mann überragte die meisten anderen Menschen um ein gutes Stück. Er mochte von schlaksiger Statur sein, doch ein körperlich forderndes Leben hatten ihn athletisch und ausdauernd gemacht. Auch wenn er sich in vielen Situationen unbeholfen vorkam, hatte er sich, wenn es darauf angekommen war, stets auf seinen Körper verlassen können. Und doch konnte er nicht anders, als sich dem Norn gegenüber hilflos zu fühlen. Ausgeliefert. Als beim Anblick der übergroßen, in meisterlich gearbeiteten Panzerhandschuhen steckenden Hände, die vor ihm auf dem Tisch ruhten, daran zu denken, wie nur eine dieser Hände wahrscheinlich jede Rippe seines Brustkorbs mit einem einzelnen Schlag zerschmettern könnte. Gemeinsam, daran hatte er keinen Zweifel, wären diese Hände wohl in der Lage, ihn ohne große Anstrengung entzwei zu reißen.

Die Stimme des Norn riss ihn aus seinen makabren Gedanken. "Weil ich zweierlei Dinge in dir sehe: Tatendrang... Und das Verlangen, nicht zu verhungern. Fürs Erste ist das vollkommen ausreichend."

War das etwa ein Anflug von Humor, den er unter all dem Bass ausmachen konnte? Noch bevor ihn seine Zurückhaltung davor warnen konnte, warf Lionel einen überraschten Blick in das Gesicht des Norns. Der Schankraum der Taverne bot zu keiner Zeit des Tages die besten Lichtverhältnisse, doch zu dieser späten Stunde waren sie wirklich außergewöhnlich schlecht. Das bedeutete, dass dunkle Partien das Gesicht des Riesen dominierten, die Kanten seiner Brauen- und Wangenknochen stark hervortraten und Falten als tiefe Furchen in seiner Haut sichtbar waren. Falten, die ihn auf den ersten Blick ernst, gar grimmig erscheinen ließen, doch bei genauerer Betrachtung auch für Menschlichkeit sorgten. Lachfalten.

Lionel richtete sich auf seinem Sitzplatz etwas gerader auf, straffte die Schultern, hob das Kinn an. Der Norn hatte Recht; es gab da etwas in ihm. War es wirklich Tatendrang? Geltungsdrang, vielleicht? Hatte er etwas zu beweisen? Er konnte es selbst nicht genau sagen. Was er mit Sicherheit sagen konnte, war, dass er hungrig war. Dass es Zeit war, sich Arbeit zu beschaffen.

Es kostete ihm fast all die Überwindung, die er aufbringen konnte, doch der junge Mann zwang sich, dem Blick des Norns zu begegnen - diesem kalten, klaren, durchdringenden Blick. Er hatte keinen Grund, sich davor zu verbergen. Sollte der Kerl doch in seine Seele starren! Dort gab es nichts, wofür es sich zu schämen galt.

"Also," sprach er, in das Auge starrend, welches dort im Halbdunkel über ihm zu schweben schien. "Wie geht es weiter?"

Kommentare 2

  • Schöne Entwicklung von Lionels Haltung aus Unsicherheit, Verwirrung und Blickvermeidung zum mutigen Blick in das Auge des Norns! Gefällt mir!

    • Dankeschön! Der Gute hat auf jeden Fall Bedarf Potential für Entwicklung.