Ein leiser Seufzer entweicht meinen Lippen, als ich das Asuraportal hinter mir lasse. Sofort schlagen mir die schwüle Hitze des Dschungels und der frische Geruch feuchter Erde entgegen und ich kann mir ein leichtes Lächeln nicht verkneifen. So schön ist es, wieder nach Hause zu kommen. Aber schöner wäre es, nicht alleine hier zu sein.
Der Abschied von Kegan ist mir, wie erwartet, schwer gefallen. Er hat geschlafen, als ich gestern zu Bett ging und ich wollte fort sein, ehe er wieder aufwacht. Doch er spürte, dass etwas nicht stimmt und so erzählte ich ihm, was ich vorhabe. Er akzeptierte meinen Wunsch, alleine in den Hain zu reisen, doch er bestand darauf, mich am nächsten Morgen zum Portal zu begleiten. Also gingen wir, während die Sonnenstrahlen träge die Nacht vertrieben, leise zum Portal, wo er mich mit einem langen und innigen Kuss verabschiedete. In Momenten wie diesem wird mein Wunsch, einfach mit ihm fortzugehen, immer größer. Wie gern hätte ich einfach seine Hand genommen und ihn mit mir durch das Portal gezogen, zum Hain oder einfach einem abgelegenen Ort, wo uns niemand findet. Wo niemand leidet oder kämpfen muss…
Diesen Wunsch habe ich oft, doch ich weiß, dass er falsch ist. Und selbstsüchtig.
Also riss ich mich zusammen, löste mich von Kegan und schritt alleine durch das Portal. Ich habe eine Aufgabe zu füllen und dieser kann ich mich nur alleine stellen.
Während ich meinen Gedanken nachhänge, führen mich meine Schritte wie von selbst durch den Hain und zum Dorf Astorea. Ich schrecke erst wieder aus meinen Erinnerungen hoch, als etwas Feuchtes meine Beine anstupst. Lächelnd blicke ich hinab und knie mich zum Farnhundwelpen, um ihm über den Kopf zu streicheln. Auch wenn dies nicht zu meinen Aufgaben gehört, weswegen ich zum Hain reiste, entschloss ich mich dennoch dazu, Sori herzubringen. Dieser kleine Welpe, der mir im zerstörten Löwenstein zugelaufen ist, ist mir sehr ans Herz gewachsen und ich habe viel Zeit mit ihr verbracht und sie gut ausgebildet. Aber Farnhunde leben ungern allein. Und in der Abtei habe ich zu viel zu tun und zu wenig Zeit für Sori. Also verlasse ich mit ihr das Dorf und biege nach Osten ab, zur Verdenz. Schon von weitem kann ich das laute und freudige Bellen unzähliger Farnhunde und -welpen hören, die mitten in der Ausbildung sind. Sori zuckt schüchtern mit den Ohren und hält sich dicht bei mir, als wir uns der Sandkuhle nähern, wo die Tiere ausgebildet werden. Als ich näher komme, stürmen einige größere Hunde freudig auf mich zu und würden mich wohl umwerfen, wenn ich nicht im letzten Moment eine strenge Geste machen würde. Gut trainiert stoppen die Tiere kurz vor mir und setzen sich brav hin, doch man kann ihnen die Freude, mich wiederzusehen, ansehen. Leise lachend wende ich mich ihnen mit ausgebreiteten Armen zu und plötzlich sind vier ausgewachsene Hunde auf mir, schnüffeln freudig und lecken mir das Gesicht ab.
„Ayu? Ich glaube es nicht, bist du es wirklich?“
Lachend versuche ich an den großen Tieren vorbeizusehen und erlange einen flüchtigen Blick auf eine mir sehr vertraute Gestalt.
„Draceno? Ja, ich bin es wirklich.“
Plötzlich gellt ein lauter, kurzer Pfiff durch die Luft und die Farnhunde lassen von mir ab und schnellen zur Sandgrube zurück. Einen kurzen Moment später werde ich hochgehoben und durch die Luft gewirbelt.
„Welch seltene und höchst willkommene Überraschung. Es ist schön dich wieder zu sehen. Nicht nur die Farnhunde haben dich vermisst.“
Ich kann mir ein freudiges Lachen nicht verkneifen, als ich durch die Luft gewirbelt werde und als ich wieder den Boden unter meinen Füßen spüre, ist mir einen Moment schwindelig, so dass ich gegen Draceno pralle.
„Du hast dich überhaupt nicht verändert, Draceno. Du bist überschwänglich wie eh und je.“
Einen Moment unterzieht er mich einer kritischen Musterung, ehe sich sein Gesicht aufhellt. „Aber du hast dich verändert, Ayu.“
Mein Gesicht verfinstert sich nun etwas. Das habe ich gestern Abend schon gehört. Ich habe mich verändert, jedoch zum Negativen.
Draceno fährt jedoch unbeeindruckt fort. „Du bist auf einmal viel lebendiger. Deine Augen leuchten und deine ganze Haltung ist entspannter. Du scheinst endlich etwas gefunden zu haben, wofür du leben willst.“ Er nickt ganz begeistert und ich starre ihn nur erstaunt an. Sieht er das wirklich so? Sieht man mir das an?
„Es ist schön zu sehen, wie du endlich aufblühst, Ayu. Erzähl, was ist passiert? Und wie lange kannst du bleiben?“
Bekümmert sehe ich zu Boden. „Ich habe leider nicht viel Zeit. Gerne würde ich dir alles erzählen, aber eigentlich bin ich nur hier, um Sori abzugeben. Bitte kümmere dich gut um sie. Sie ist mir in Löwenstein zugelaufen und ich habe nicht mehr die Zeit, mich anständig um sie zu kümmern. Mehr kann ich dir jetzt nicht sagen. Es tut mir leid. Sobald ich meine Aufgabe hier erledigt habe, werde ich dir eine ausführliche Nachricht schicken.“
Draceno sieht mich einen Moment unergründlich an, ehe er nickt und sich zu Sori hinunter beugt. Misstrauisch schnüffelt sie an seiner ausgetreckten Hand und schnappt dann freudig nach dem Leckerbissen, den er ihr plötzlich hinhält. Ich muss schmunzeln, Draceno weiß eben, wie man sich mit Farnhunden anfreundet und deswegen weiß ich, dass Sori hier in besten Händen ist.
„Ich muss los, es tut mir wirklich leid, dass ich nicht mehr Zeit habe.“
„Geh ruhig, Ayu. Ich werde mich gut um Sori kümmern und du sorgst dafür, dass du deine Aufgabe bestmöglich meisterst - und mir hinterher davon berichtest.“ Er lacht leise und winkt mich mit einer Hand davon.
„Grüß mir deine Fiana.“
Er ruft mir noch etwas hinterher, aber ich bin bereits auf dem Weg zurück zum Hain. Ich gehe zügigen Schrittes erneut durch das Dorf Astorea und weiter zum Zentrum des Hains. Ich bin entschlossen, mich meiner Aufgabe zu stellen, doch meine Schritte gehen nur zögerlich zu jener Knospe, die mich hinauf zur Omphalos-Kammer führt. Einen Moment starre ich noch unentschlossen zur Kammer hinauf, ehe ich die Schultern straffe und tief ein- und ausatme. Dann betrete ich die Kammer.
Einen Moment bin ich sprachlos. Ich war erst einmal in meinem Leben hier und daher überwältig mich dieser Ort beinahe. Man kann direkt fühlen, dass man sich hier im Herzen des Baumes aufhält. Zögerlich blicke ich mich um und entdecke links von mir zwei, in schwere Rüstung gekleidete Hainhüter. Und direkt dahinter den Avatar des Baumes. Wie von selbst steuern meine Füße auf die lichtdurchflutete Gestalt zu. Die Hainhüter beobachten mich argwöhnisch, lassen mich jedoch passieren. Ich sinke auf die Knie und neige mein Haupt vor meiner Mutter. Mit einer kurzen, fließenden Bewegung schickt sie die Hainhüter fort, so dass wir ungestört miteinander reden können.
„Willkommen mein Kind. Es tut gut, dich gesund und munter zu sehen.“
„Es ist mir eine Ehre, hier zu sein und ich bin dankbar, dass ihr mich empfangt.“
Der Avatar lächelt mich freundlich an, als sie fortfährt. „Jedes meiner Kinder ist mir höchst willkommen.“
Zögerlich blicke ich auf ihr Gesicht. Es fällt mir schwer, die folgende Frage zu stellen, obwohl ich die Antwort schon kenne.
„Mutter … wisst ihr, warum ich heute hier bin?“
„Ja, Liebherz. Seit dem Tag deines Erwachens, wusste ich, dass du mich eines Tages aufsuchen würdest.“
„Wegen meinem Traum…“ – „Wegen dem, wer du bist.“ Verbesserte sie mich freundlich.
„Wer bin ich, Mutter?“
„Du bist mein Kind, das ich liebe und achte. Und um das ich mich sorge, da du in der Dunkelheit irrst.“
Erschrocken blicke ich die Lichtgestalt an. „Ich bin nicht in der Dunkelheit. Ich meide sie, wo es nur geht.“
Trotz meines Ausbruchs fährt sie sanft fort.
„Nein Liebes, du bist in der Dunkelheit gefangen, weil du dich weigerst, das Licht zu suchen.“
„Mutter, ich verstehe das nicht.“
„Komm zu mir, ich zeige es dir. Hab keine Angst.“
Zögerlich erhebe ich mich und trete näher an die Lichtgestalt. Überrascht weiche ich einen Schritt zurück, als sie mir die Hände an die Schläfen legt. Sie ist nicht nur Licht, sie ist auch greifbar. Ihre kühlen Finger haben sofort eine beruhigende Wirkung auf mich. Wie von selbst schließen sich meine Augen, während sie leise etwas murmelt.
„Öffne deine Augen, mein Kind. Und fürchte dich nicht, ich bin bei dir.“
Als ich daraufhin meine Augen öffne, trifft mich fast der Schlag. Vor mir breitet sich ein Bild des Grauens aus. Zertrümmerte Häuser, rauchgeschwängerte Luft, beißender Gestank und Schreie... diese verzweifelten Schreie. Und überall diese schemenhaften Schatten, die aggressiv durch die Gegend gleiten.
Ich weiß, wo ich bin und ein leises Wimmern entfährt mir. Dieses Szenario habe ich in meinem Traum gesehen, bevor ich erwachte.
Gewalt, Zerstörung, Verzweiflung.
Sofort verfalle ich in die altbekannte Panik, doch plötzlich höre ich die beruhigende Stimme des Blassen Baumes in meinem Kopf.
„Du bist stark genug, dich dem zu stellen. Hab keine Furcht, mein Kind. Suche das Licht!“
Zögerlich öffne ich wieder meine Augen und sehe erneut diese schrecklichen Bilder. Überall diese Zerstörung, umgeben von Dunkelheit. Alles in mir schreit danach davon zu laufen. Doch wohin soll ich mich wenden? Überall sieht es gleich aus. Überall diese Schatten, die alles verschlingen, was sich ihnen in den Weg stellt. Suchend blicke ich mich um, doch ich finde es nicht.
„Mutter … hier ist kein Licht.“
Plötzlich schrecke ich auf, als ein tosender Lärm alle Geräusche der Verzweiflung übertönt. Gleichzeitig fliegt der gewaltige Schatten des Drachen über meinen Kopf hinweg. Ich kauere mich hin und schlage die Arme über den Kopf. Zitternd warte ich darauf, dass es vorbei geht. Das ich aufwache.
„Ayunherhis, du kannst dich nicht ewig verstecken.“
Heiß und kalt läuft es mir herunter. Zitternd wimmere ich leise. „Ich heiße Ayu…“
„Nein, mein Kind. Nherhis ist genauso ein Teil von dir. Sieh doch.“
Und ich sah.
Mein Blick ging automatisch in eine wage angedeutete Richtung und dort sah ich tatsächlich eine Gestalt. Der Schatten verflüchtigte sich und gab das Antlitz eines Sylvari frei. Und obwohl ich ihn nie zuvor gesehen habe, wusste ich sofort, wer das ist.
„Nherhis.“
„Ja. Nherhis lebte vor deinem Erwachen. Viele seiner Taten gingen in den Traum ein und du warst besonders empfänglich dafür. Deshalb ist er ein Teil von dir. Und nun geh, mein Kind. Geh zu ihm und akzeptiere, dass er zu dir gehört.“
Zögernd versuche ich aufzustehen, doch meine Beine wollen sich einfach nicht so bewegen, wie ich möchte. Oder ich will mich nicht so bewegen, wie ich sollte.
„Mutter, ich habe Angst. Nherhis verfiel dem Alptraum. Er tat viele schreckliche Dinge. Er wird mich ebenfalls in den Alptraum ziehen.“
„Vertraue auf deine Stärke. Wenn er dich hinabzuziehen droht, stemme dich dem entgegen. Du kannst gleichermaßen versuchen, ihn zu dir zu ziehen. Ihr könnt gemeinsam dieser Dunkelheit entfliehen.“
„Aber hier ist alles finster. Es gibt kein Licht!“, schreie ich voller Verzweiflung. Erneut tobt der Drache brüllend durch die Nacht. Weinend sacke ich in mich zusammen. Es gibt keinen Ausweg. Ich bin hier gefangen in der Dunkelheit und finde keinen Ausweg. Erneut dringen panische Schreie an mein Ohr. Schreier derer, die verloren sind und die genauso viel Angst haben, wie ich.
„Still, Kind. Sieh nach oben.“
Schluchzend tue ich, was sie so sanft in mein Ohr flüstert. Ich blicke nach oben, aber ich sehe nur den Schatten des Drachen umherfliegen.
„Sieh genau hin.“, ermahnt sie mich wieder.
Ängstlich starre ich weiter in den schwarzen Himmel und versuche, am Drachen vorbeizusehen. Und dann… langsam, als sich mein Blick an die Dunkelheit gewöhnt, erahne ich etwas. Zuerst nur aus den Augenwinkeln, dann wird es zur Gewissheit.
„Sterne.“, hauche ich leise überrascht. „Und so viele.“
Je mehr ich in den Himmel starre, umso mehr Sterne erblicke ich. Jetzt, wo ich sie war nehme, scheinen sie immer stärker zu leuchten, als ob sie froh sind, dass ich sie endlich gefunden habe. Leise laufen mir die Tränen die Wange runter. Ich war so von der Dunkelheit eingenommen und so eingeschüchtert vom Drachen, dass ich es nie wagte, am Schatten des Drachen vorbei zu blicken.
„Auch in deinem Traum gibt es Licht. Verzweifle nicht, Liebes. Sieh nach oben, und du siehst, dass du nicht allein bist.“
Und ich sah weiterhin nach oben. Mein Blick schweift umher, den Drachen nehme ich gar nicht mehr wahr und plötzlich stockt mein Atem, als ich einen Stern sehe, der heller als alle anderen strahlt. Zuerst fiel er mir gar nicht auf, aber jetzt scheint er immer stärker zu leuchten, als wollte er unbedingt meine Aufmerksamkeit.
„Mutter, ist das…?“
Auf einmal umfängt mich pechschwarze Dunkelheit und als ich wieder die Augen öffne, sitze ich zitternd in der Omphalos-Kammer. Einer der Hainhüter blickt mich besorgt an und hält mir etwas Schokolade hin. „Hier, esst das und bleibt ruhig sitzen. Gleich geht es euch besser.“
Verwirrt nehme ich das Stück Schokolade und stecke es mir in den Mund, wo es langsam auf meiner Zunge zergeht. Als der Hainhüter sieht, dass mir nichts Ernstes fehlt, nickt er kurz und wendet sich wieder ab. Er nimmt, genauso wie sein Kollege, seine übliche Haltung an der Seite des Avatars ein.
Einen Moment bleibe ich noch sitzen und versuche, mich zu sammeln. Dann stehe ich zitternd auf und blicke fragend den Avatar des Blassen Baumes an.
„Mutter…was ist geschehen?“
„Du hast den Traum zur Gänze gesehen, mein Kind. Jetzt musst du ihn nur noch verstehen lernen.“
Ich habe den Traum der Träume erneut durchlebt. Ehrfürchtig schaue ich die Lichtgestalt an und neige respektvoll mein Haupt. „Ich danke euch. Habt vielen Dank.“
„Deine Aufgabe ist nicht erledigt. Du hast lediglich den ersten Schritt getan.“
„Ja, aber jetzt bin ich bereit, den nächsten Schritt zu wagen.“
„Gut, mein tapferes Kind. Deine Aufgabe ist groß, aber ich bin zuversichtlich, dass du es schaffen wirst.“
Ich verneige mich höflich vor meiner Mutter und den Hainhütern zum Abschied, ehe ich mich langsam umdrehe und das Herz des Baumes verlasse.
Leichten Schrittes gehe ich tiefer hinab in den Hain, zur Terrasse des Träumers.
Ich habe über vieles nachzudenken.