Von Ähren und Klingen V - Löwenstein und danach ...

Löwenstein. Dort hatte sie auch versucht zu helfen, als die Gerüchte um den Angriff sich verdicheten. Mit einigen Soldaten war sie nach Löwenstein eingekehrt und hatte sich im Löwenschatten eingefunden, der Taverne, in der die jüngste Tochter der Amalia Mulcahy, Lucienne, arbeitete, verstoßen aufgrund ihrer Beziehung zu einer Frau mit dem gerechtfertigten Namen Schnodder. Was sie vorfand war ein Haufen Aussätziger. Ein Haufen, eine Einheit. Jeder für jeden, und alle für einen. Es hatte sie beeindruckt dies zu sehen und so entschloss sie sich, mit den Löwenschattenmädels enger zusammenzuarbeiten. Während sie die Siedlung auf einen etwaigen Ansturm von Flüchtlingen vorbereitete, errichteten ihre Soldaten an der Eistor-Schlucht eine Passage, um Flüchtlingen einen Rückzugsweg freizuhalten, wenn die Haupttore überrannt waren. Handzettel ließ sie von den Arbeitern im Löwenschatten austeilen, die die Schlucht als Ausweg auswiesen. Es war seltsam, aber sie stellte zusammen mit einem Haufen Zivilisten, denn mehr waren die Arbeiter nicht – abgesehen von Gwyneth, die eine fähige und erfahrene Söldnerin war – eine ordentliche Verteidigung zusammen, besser als es die Löwengarde tat. Selbst die Wachsamen und Nebelkrieger hatte sie dabei für die Verteidigung eingespannt, ebenso einige weitere vereinzelte Söldner. Zudem ihre Soldaten, die im Löwenschatten selbst untergebracht waren. Eine kleine Armee, die Scarlett trotzen sollte und dafür sorgen, dass so viele wie möglich es lebend vom Schlachtfeld schaffen.
Und gerade als sie die Vorbereitungen für abgeschlossen hielt, sah sie zum zweiten Male in ihrem Leben eine ganze Stadt untergehen. In diesem Moment wägte sie ab, welche der Attacken verheerender war: Die Kralkatorriks oder die Scarletts. Der Schluss war eindeutig. Das Miasma allein hatte mehr Leid über die Löwensteiner gebracht, als es die Kristallwesen des Altdrachen in Ebonfalke konnten.
Nahezu die Hälfte ihrer Soldaten hatte sie am Tag der Schlacht verloren, doch starb jeder von ihnen im Wissen, dass er viele Leben gerettet hatte. Nicht gerne wog sie Leben gegen Leben auf, diese Zeit aber verlangte es von ihr. Mit der versammelten Meute des Löwenschattens zog sie sich durch das Notfallportal der Abtei in den Lornars Pass zurück. Während die Mädels des Löwenschattens die Versorgung der Flüchtlinge erstklassig übernahmen, übernahm sie die Verteidigung des Lagers, immerhin das, was sie am besten in Ebonfalke und der Siedlung gelernt hatte, und auf das ihre Soldaten gedrillt waren. Dabei arbeitete sie Hand in Hand mit einem Charr, der einst auf der anderen Seite der Mauern in Ebonfalke stand. Ein Wink der Götter, dass in der Not aus einstigen Feinden Brüder werden. Auch Gwyneth konnte sie während der Zeit im Pass immer mehr für sich gewinnen. Eine weitere, fähige Soldatin und Kaufmannstochter in ihren Reihen, die sie nur allzu gerne aus den Fängen der Wachsamen gelöst hatte. Zu diesem Zeitpunkt entstand auch die Idee des Handelshauses in Löwenstein, sobald dieses wieder zurückerobert war. Im Gegensatz zu vielen Krytanern, die Löwenstein mit Argwohn betrachteten, wusste Thaliana, dass die Stadt ein Dreh- und Angelpunkt des Handels ist, besonders für die Gendarran-Felder. In der Gleichung des Reichtums Krytas war Löwenstein stets eine Konstante und sollte dies auch wieder werden.
Der Gedanke an das neu entstehende ließ sie lächeln. Zu lange schon war das angehäufte große Vermögen ihrer Familie im Keller angestaubt, ohne dass es einen Nutzen für sie oder andere hatte. Es war nur allzu gerecht, es endlich zu investieren, um neue Gewinne zu erzielen, die wiederum investiert werden können. So würde sich ihr Einfluss vergrößern, ihre Macht ausdehnen und dabei würde sie all denen Gutes tun, die es brauchten, auch wenn sie jetzt schon wusste, dass sie damit neidische Blicke ernten würde oder Hasstiraden, wie machtgierig sie geworden war. Ohne Macht und Einfluss aber gab es keinen Gewinn und ohne Gewinn keinen Raum für neue Investitionen. Sie hatte noch einiges vor. Die Löwenklinge, ihr Handelshaus, welches Gwyneth als Komtura leiten sollte, war nur der Anfang. Eine Investition in die entstehende Künstlerakademie in Götterfels stand mit auf ihrer Agenda, ebenso wie die Errichtung eines Schreines der Sechs in der Siedlung, samt Schule und auch ihr Versprechen eines Waisenhauses für die Opfer des Krieges wollte sie halten.
Vom thronartigem Stuhl erhob sie sich und trat an eines der Fenster in ihrem Rücken heran, um hinauszuschauen auf die Siedlung Ascalon und das geschäftige Treiben in dieser. Den Namen Siedlung hatte diese mittlerweile florierende Stadt schon lange nicht mehr verdient, aber es war Tradition. Für sich dachte Thaliana aber an die Siedlung immer mit dem Namen Neu Rin. Rin, die einstige Hauptstadt Ascalons, auf der nun der Schrotthaufen stand, den die Charr als Schwarze Zitadelle bezeichneten. Die alten Geschichten der Stadt hatten sie schon immer fasziniert und nicht umsonst war die Rinklinge das Erkennungsmerkmal ihrer Soldaten geworden, neben dem Wappen auf der Brust.
Auch wenn sie sie nicht mit dem bloßen Auge erkennen konnte, so blickte sie doch über die Mauern hinweg in die Richtung ihrer Ländereien. Nicht gewaltsam hatte sie diese für sich gewonnen, sondern durch diplomatisches Geschick. Die Zentauren und andere Bedrohungen waren ein Alltag, den viele der Höfe gerne loswerden wollten und genau dies bot sie ihnen, indem sie sie unter ihre Schirmherrschaft stellte, wofür auch Seraphen und Königin dankbar waren. Wann immer Gefahr im Verzug war, sandte sie ihre Soldaten aus, um die Höfe zu schützen, aus denen ihr kleines Reich gespeist wurde. Verstreut waren die Höfe und nie so groß, dass sie Aufsehen erregen könnten, aber sie waren da. Betrachtete man die Karte, so waren die Höfe wie die Sommersprossen auf Elises Gesicht. Klein, wild verteilt, aber existent und sie gaben ihrem Aussehen den letzten Schliff, machten sie zu dem, was sie war.
Wieder ließ sie sich am Tisch nieder. Die leere Tasse schob sie zur Seite und zog eines der Pergamente zu sich, welches auf dem Tisch lag. Eine lange Liste von Aufstellungen für die Versorgung der Truppen. Mit einem Seufzen schloss sie die Augen. Ein stummes Gebet an Dwayna, dann öffnete sie die Augen wieder und widmete sich ihrer Arbeit. Ohne dass sie etwas tun würde, würde ihr Vorhaben auch nicht vollbracht. Und auch wenn es keine Erben gab und nie welche geben würde, so tat sie es doch. Nicht für sich, sondern für Kryta und vor allem für ihre große Liebe: Ascalon.