Von Ähren und Klingen II - Die Schattenklinge

Nachdem sie ihrem Vater damals in Ebonfalke das Holzschwert stolz präsentierte, merkte dieser, was seine kleine Tochter wirklich wollte und so begann er sich fortan mehr um sie zu kümmern. Ihren Unterricht erhielt sie weiterhin, auch einen Musiklehrer organisierte er ihr in der Stadt, in der alles Mangelware war, außer Leid und Tod. Den Kampfunterrricht übernahm er selbst. Mit Erstaunen stellte er fest, dass seine Tochter eine natürliche Affinität für das Schwert hatte. Insgeheim hatte er sich stets einen Sohn gewünscht und seine Frau dafür verflucht, dass sie nach der Geburt einer Tochter bereits verstorben war. Nun hatte er seinen Sohn, wenn auch im Körper einer Frau. Die Fähigkeiten des kleinen Mädchens machten dies aber wett. So wurde sie aufgezogen, mit Feder, Harfe, Gesang und Schwert. Und als sie alt genug dafür war, nahm sie ihr Vater selbst in seine Dienste. Zuerst nur als einfache Handreicherin, doch bewies sie schnell ihren Wert und arbeitete sich unter den Augen ihres Vaters hinauf zu einer angesehenen Soldatin der Ebon-Vorhut. An ihren Eintritt in diese konnte sie sich noch gut erinnern, war es doch der größte Tag ihres bis dahin verstrichenen Lebens und den Helm, den sie damals erhielt, bewahrte sie noch immer in einer Vitrine in ihrem Schlafgemach auf. Ein Relikt alter, vergangener Zeiten.
Das Wertvollste war es nicht, was man ihr an diesem Tag übergab. Nach der kurzen, wenig ausschweifende Zeremonie, trat ihr Vater zu ihr. Dem Befehl ihm zu folgen widersprach sie nicht und so führte er sie hinab in einige kleinere Gewölbe unter dem Haus, die er durch eine einfache Kerze erleuchtete, bis hin zu einer schwereren Holztür. Oft hatte sie als Kind vor dieser gestanden, wenn sie wieder einmal ohne Erlaubnis in den Kellern spielte, und sich vorstellte, wie sie mit ihrem hölzernen Schwert riesige Ratten, Spinnen und anderes Ungetier erschlug. Nicht nur einmal hatte sie dabei die Tür in ihren Rücken gebracht, sich an diese gelehnt, ohne zu fragen, was sich hinter ihr befand. In diesem Moment erfuhr sie es aber, denn ihr Vater öffnete sie. Dahinter verbarg sich ein Waffenständer und neben diesem ein kleines, hölzenres Tischlein, auf welchem ein dickes Buch lag mit einem Wappen auf dem Buchdeckel. Mit den Fingern strich sie die abgebildete Ähre nach und war verwundert ob des Wappens, war doch das Wappen der Familie eine seltsam geformte, schwarze Klinge auf grauem Grund.
Genau die Klinge, die sie neben sich erblickte. Die Schattenklinge, so nannte man sie. Eine alte Legende umgab dieses Schwert, auf die selbst Norn stolz gewesen wären. Einst gehörte sie einer Vorfahrin, die sie in den Katakomben unter Ascalon fand, als die Charr den großen Nordwall durchbrochen hatten. Woher diese Klinge aus schwarzem Gestein stammte, war unbekannt, doch vermutete man, dass sie aus dem selben Gestein wie die Feuerinseln selbst war. Und wohl ebenso alt. Mit der Klinge in der Hand hatte sich ihre Vorfahrin aus den Katakomben begeben, in die sie der Rückzug aus dem einstigen Anwesen der Ährentanz' getrieben hatte. Der Legende nach begleitete sie Prinz Rurik selbst, der die Flüchtlinge Ascalons über die Zittergipfel nach Kryta führte, wo sie sich schlussendlich in der Siedlung Ascalon niederließ, nachdem man ihnen das Recht eingeräumt hatte, diese zu errichten. Dort, wo ihr Onkel sich zu diesem Zeitpunkt ebenso befand, der seinem Bruder nicht nach Ebonfalke folgen wollte, um das zu verteidigen, was von seiner Heimat geblieben war.
An die Worte ihres Vaters erinnerte sie sich noch genau, als dieser ihr die Schattenklinge übergab: "Die Klinge ist seit langer Zeit im Besitz der Familie, doch wagte es kein männlicher Nachkomme sie zu führen, wie es einst Anne Schattenklinge tat, deine Vorfahrin. Nun ist es aber kein männlicher Nachkomme, der zum Schwert gegriffen hat, sondern es bist du Thaliana. Und wenn ich dich ansehe, dann sehe ich in dir die wiedergeborene Schattenklinge." Die letzten Worte waren das größte Kompliment, welches sie in ihrem Leben gehört hatte, selbst jetzt noch. Von diesem Tag an wurde das Schwert ihr fester Begleiter und führte sie durch einige Schlachten gegen die Charr in Ebonfalke und gegen die Zentauren oder andere Störenfriede in Kryta.
Die Klinge war zwar mächtig, doch vermochte sie ihr nicht die schlimmsten Stunden ihres Lebens ungeschehen zu machen. Die Tage, als die Bresche in die Mauern Ebonfalkes geschlagen wurde von einem Ungetüm, welches längst vergessen war: Kralkatorrik. An diesem Tag kämpfte sie zum ersten mal gegen etwas anderes als bloß Charr oder die vereinzelten Oger, die sie gefällt hatte. Die harte, massive Klinge verschaffte ihr einen Vorteil gegen die Wesen aus Kristall, die ihr gegenüberstanden. Und ohne zu zögern kämpfte sie auch an der Seite derer, die sie nicht kannte, die krytanischen Gäste Ebonfalkes, die sie selbst nach dem Kampf verwundet noch unterstützte und mit denen sie sich schlussendlich nach Götterfels zurückzog, hindurch durch das Portal. Ihr schwer verletzter Vater folgte ihr dabei. Dies war auch der letzte Tag des Militärdienstes des in die Jahre gekommenen Veteranen. So kam sie also nach Götterfels.