Abschied (Ayu)

Die Sonne scheint warm auf ihre blaue Haut, eine leichte Brise erhebt sich und lässt ihr saphirblaues Blatthaar tanzen. Vögel singen munter ihre Lieder, denn die Geschehnisse in der Welt kümmern sie nicht. Der blaue Himmel verspricht einen warmen friedlichen Tag, wie man ihn oft im Hain erleben darf.


Ein gelber Sittich fliegt über die Wiese und landet neben der Sylvari im Gras. Mit schrägt gelegtem Kopf sieht er sie eine Weile an und flattert weiter.


Ayu bemerkt ihn nicht. Sie sitzt zusammengesunken im warmen Gras, die Knie eng an den Körper gezogen, die Arme darum geschlungen und den Kopf darin vergraben. Obwohl es warm ist, friert sie entsetzlich. Hin und wieder ertönt ein leises Schluchzen und stört die friedliche Stille.


Einsam hockt sie so im Gras, versucht verzweifelt nicht auseinander zu fallen, denn so fühlt sich ihr Innerstes an. Ein großes klaffendes Loch, welches seit Monaten in ihr wächst. Gespürt hat sie es schon am ersten Tag. Genauso wie sie es ignoriert hat. „Ich bleibe nicht lange weg.“ hatte er gesagt und ist gegangen. Fort - auf eine Forschungsreise.
Was hatte sie nicht alles getan, um den Schmerz des Verlustes zu ertragen. Von Anfang an erschien es ihr unerträglich. Doch würde sie sich ihm niemals in den Weg stellen. Er wollte gehen und sie ließ es zu.


Vom ersten Tag an vermisste sie ihn, hing ihren trüben Gedanken nach. Bis sie aufgefordert wurde, wieder mehr aus sich zu machen. So begann sie sich abzulenken.


Vom ersten Sonnenstrahl des Tages, der unaufhaltsam über die Kämme des Zittergipfelgebirges kriecht bis in die tiefe Nacht arbeitete sie, las Bücher, wälzte Dokumente und lernte fast wie eine Besessene. In jede Arbeit die sich ihr bot stürzte sie sich. Bloß keine Zeit zum Nachdenken bekommen, denn dann bricht die Einsamkeit umso stärker über sie herein. Wie oft hatte sie sich bis zur absoluten Erschöpfung abgerackert, nur um hundemüde sofort einzuschlafen? Damit ihre Gedanken keine Zeit bekommen, sich zu erinnern…


Doch vor der Einsamkeit kann man nicht davonlaufen. Dieses kleine Loch nagt an ihrer Seele, wird jeden Tag ein Stückchen größer und lässt sie immer tiefer sinken.


Der Wind hat sich gedreht, er weht eine salzige Brise vom Meer heran. Ayu zittert leicht. Wieder eine Erinnerung die sie innerlich zu zerreißen droht. Früher hat sie sich gern in ihren Erinnerungen verloren, aber mit der Zeit wurden sie immer schmerzhafter.


Sie vermisst ihn so sehr. Sie glaubte es würde ihr etwas besser gehen, wenn sie sein Heim aufsucht. Hin und wieder war sie hier, hatte sich um die Pflanzen gekümmert, dafür Sorge getragen, dass es nicht zuwuchert. Am Anfang hatte sie die Nächte in seinem Heim verbracht, doch irgendwann ging das nicht mehr. Das Echo seiner Gegenwart erdrückte sie immer mehr, bis sie heute schon nach wenigen Augenblicken, kaum dass sie es betreten hatte, geflüchtet war.


Seitdem sitzt sie hier, weint leise vor sich hin und wartet, dass dieser Schmerz vergeht. Doch die Gewissheit nagt beständig an ihr. Diese Gewissheit macht ihr Angst.


„An ihn zu denken tut mir weh.“


Sie hasste diesen Gedanken, aber sie hasste auch die Schmerzen. Was sollte sie tun? Ihn gehen lassen? Oder weiter auf ihn warten?
Vor Monaten ging er. In der ganzen Zeit kam nur ein einziger Brief. Er würde bald zurückkommen, schrieb er. Doch auch das liegt Monate zurück.


„Er kommt nicht wieder.“


Daran wollte sie nicht glauben. Dieser Gedanke tat mehr weh als alles, was sie bisher ertragen musste.
Und doch drängt sich ihr dieser Gedanke immer wieder auf.


Eine weitere Brise erhebt sich, lässt das Gras und die Blätter der Bäume leise rascheln. Ayu beginnt kaum merklich zu zittern. Ein herzzerreißendes Schluchzen ist zu hören.


Wie lange kann sie das wohl noch ertragen?
Muss sie das eigentlich noch ertragen?


Sie fühlt sich einsam, obwohl sie genau weiß, dass sie das nicht muss. Sie hat Freunde gefunden. Menschen und andere Wesen, die gut zu ihr sind.
Er war auch immer gut zu ihr. Aber jetzt …


„Er ist fort.“


Wie lange soll sie noch auf ihn warten? Wer wäre er überhaupt, sollte er je wieder zu ihr kommen?
Er schrieb von Höflingen. Das machte ich Angst. Sie war so in Sorge um ihn.


Sie liebt ihn so sehr. Sie war so unendlich glücklich mit ihm. Doch langsam erschleicht sie die Erkenntnis, dass es ein Fehler war, sich mit dem Herz so sehr an jemanden zu binden.
Sie fühlt sich so verletzlich wie noch nie. Und das kann sie im Moment nicht gebrauchen. Sie musste stark sein. In wenigen Tagen reist sie erneut in die Silberwüste. Ihre Mission dort ist noch nicht beendet. Der Alt-Drache lebt noch.


„Du bist stark.“


Das Schluchzen verstummt für einen Moment. Einen Moment lang zwingt sie sich zurück zu blicken. Sie war tatsächlich stärker geworden. Sie stottert gar nicht mehr, hat keine Angst mehr vor Charr, ist selbstbewusster und selbstständiger geworden. Als die Baummutter angegriffen wurde, hatte sie sich recht schnell davon erholt. Sie hatte ihre Prüfung zur Exploratorin bestanden, obwohl es hart war. Auch in der Silberwüste hat sie ihr Bestes gegeben, obwohl das Schlachtfeld ihr eine Heidenangst macht.


Das alles hat sie ohne ihn geschafft. Wäre es nicht langsam an der Zeit, ihn gehen zu lassen?


Sie wäre ja dennoch nicht alleine. Sie hatte …


Ayu hebt leicht den Kopf, ihr Gesicht ist gezeichnet vom stundenlangen weinen. Der Schmerz des Verlustes ist ihr deutlich anzusehen. Sie ist hier ganz alleine, hier kann sie dieses Gefühl ungehemmt frei lassen.


Doch ein weiter Gedanke schleicht sich in ihren Kopf, nimmt langsam Form an und setzt sich drängend in ihr fest. Ein Gedanke, der sie verwirrt und gleichzeitig beruhigt.
Es gibt eine Person, die, seit sie den Hain das erste Mal verlassen hat, immer für sie da war. Jemand, dem sie mittlerweile so viel anvertraut hat, jemand, der ihr Halt gibt und sie nicht nur immer wieder aufgerichtet hat, sondern auch immer weiter brachte. Ihre Mentorin … ihre Freundin … Sarah.


Die blaue Sylvari schüttelt den Kopf. Dieser Gedanke ist verwirrend. Sie hat Sarah sehr gern. Aber wie gern genau? Was bedeutet das für sie?


Und was ist nun mit … ihm?


Einen kurzen, gnädigen Moment fühlte sich die Leere in ihr nicht so schmerzvoll an. Dass sie Gefühle für ihre ehemalige Mentorin hegt, kann sie nicht leugnen. Doch diese Gefühle tiefer zu ergründen und darüber nachzudenken, was das für sie bedeutet, ist ihr vorerst nicht möglich.


Kaum das ihre Gedanken wieder zu ihrem Geliebten abgleiten, bricht sie innerlich wieder zusammen und lässt ihren Tränen erneut freien Lauf.


Am späten Abend löst sich ihr Griff um ihre angewinkelten Knie. Kraftlos und leer starrt sie dumpf vor sich hin. Den ganzen Tag hat sie geweint, doch nun hat sie keine Tränen mehr übrig. Sie fühlt sich innerlich hohl, als hätte die Einsamkeit sein hungriges, monatelanges Mahl beendet und ein riesiges Loch in sie gefressen.


Die zarte Sylvari, die so lange um diesen schwindenden Hoffnungsschimmer gekämpft hatte – diese Hoffnung, dass er zu ihr zurückkommt, diese Gewissheit … ganz am Anfang - hat nun keine Kraft mehr. Zitternd löst sie ihre verkrampfte Haltung, streckt Arme und Beine leicht durch und erhebt sich schwankend. Langsam, wie auf einem Trauermarsch, tragen ihre Füße sie tiefer in den Hain. Sylvari und Fremde, die sie verwundert und mitleidig ansehen, nimmt sie kaum war. Ihr Weg führt sie zur Terrasse des Träumers, wo er sein Heim hat. Nicht weit von ihrem entfernt. Behutsam löst sie die Blüte, die seit Monaten nur von ihrer Lebenskraft lebt, von ihrem Rücken und betrachtet diese.


Sie war ein Geschenk. Nicht von ihm … aber von anderen Sylvari, denen sie während einer Expedition tagtäglich geholfen hatte. Sie trägt die zartgelbe Blüte, welche sie leicht verzaubert hatte, seit dem Tag bei sich, an dem er sie verlassen hatte. Mit einem Blick des Bedauerns legt sie die zarte Blüte neben seiner Tür ab, wohl wissend, dass diese ohne die Energie in ihrem Körper nur wenige Augenblicke überlebt, ehe sie langsam zu welken beginnt.


Mit zittrigem Atem seufzt sie und haucht leise Worte des Abschieds. „Leb wohl, Kegan. Es wird Zeit für mich mein Herz zu verschließen … Vergessen kann ich dich nicht, wohl aber … gehen lassen.“

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