~Adelbertchen

Über drei Wochen war Adrian nun schon fort gewesen und mittlerweile war die anfängliche Freude über den gewonnenen Freiraum, dem Frust und Ärger über den fehlenden Bruder gewichen. Irgendwie war alles einfacher gewesen, als Adya noch im Haus war und der Fokus nicht so stark auf der kleinen Veruca ruhte. "Mama, wo ist Adya? Ich will mit Adya spielen! Warum ist Adya nicht da?" Mehrfach viel der Satz am Tage und wo es die erste Woche noch mit sanften Worten nieder gerungen wurde, klang in der zweiten schon die Gereiztheit und der Schmerz in der Stimme ihrer Mutter mit. Hatte Vera es verstanden? Natürlich nicht, sie war noch zu jung dafür. Zu jung, um den Verlust ihrer Mutter zu verstehen, die sich ebenso nach ihrem Sohn sehnte, es aber nicht zugeben durfte. "Hat Adya mich nicht mehr lieb?" fing der kleine Lockenkopf bald schon an zu fragen, als immer wieder die selbe Antwort auf ihre Frage nach Adrian erklang. 'Er mache Urlaub bei Leon, weil er auch mal mit Jungs spielen muss' viel da nicht selten, doch die Antwort reichte ihr natürlich nicht. Nicht Vera, die in dem fehlen ihres großen Bruders einen Verrat an sich selbst sah. Er musste sie nicht mehr lieb haben, so war es doch! Noch nie war er so lange weg gewesen und hatte sie alleine gelassen! Und wahrscheinlich brachte er noch nicht einmal was aus dem Urlaub mit und verriet Leon, wie sie vor kurzem weinend aus dem Schlaf geschreckt war wegen einem Alptraum und sich dabei auch noch eingenässt hatte. Ja, das würde passen! Und Leni, der würde er es auch erzählen, und dann würde sie damit auf der nächsten Feier sicherlich aufgezogen werden! Dabei war das alles Adrians Schuld gewesen, weil er ihr doch diese gruselige Geschichte erzählt hatte, die sie bis in den Schlaf verfolgte. Von diesem bösen Mörder, der in Häuser einstieg und ganze Familien umbrachte. Den Grimm, die Furcht, diese erkennende Panik in Adrians Blick, die hatte sie natürlich nicht verstanden zu dieser Zeit und münzte es auf die Geschichte selbst, die er ihr so gruselig wie möglich präsentieren wollte. Und dann? Dann war er irgendwann einfach weg. Ihr Vater wurde immer launischer und blökte fast jeden von den Besuchern an, die er sonst mit diesem gönnerhaften Lachen empfing und Mama? Mama lächelte immer so komisch seit Adya weg war. Irgendwie schief, wie damals, als sie versuchte dem toten Hasen den Vera am Straßenrand entdeckt hatte, irgendwas nettes abzugewinnen. All das bedrückte Veruca, also schlich sie Abends ihrem Vater hinterher, um ihn zur Rede zu stellen. Wenn Mama nicht auspacken wollte, dann musste ihr Vater es eben tun! Oh sie fühlte sich so mutig in dem dicken Jäckchen mit dem Lammfellkragen, den Onkel Vitja ihr geschenkt hatte zum Wintertag. Alle Mädchen hatten einen bekommen, aber das machte nichts. Ihrer war ohnehin der schönste, dass wusste sie! Und weil Onkel Vitja nichts fürchtete und die Jacke von ihm war, brauchte sie auch nichts zu fürchten. Dennoch hatte sie das kleine Messer eingepackt, dass Razvan ihr geschenkt hatte. Anfangs war sie noch sehr skeptisch gewesen, weil er so dunkle Haare hatte, aber Tante Nevia...wie sie ihn ansah und lachte, der musste nett sein! Schade nur, dass er sie gerade nicht begleiten konnte. Der war Soldat, der würde alle bösen Banditen verscheuchen und sein Hund würde sie danach fressen!


Im Kindesmut hatte sie sich der Nacht der Gendarran gestellt und war der Gruppe hinterher geschlichen. Trotz des geringen Alters, war sie doch eine gute Schleicherin gewesen und sich zu verstecken wusste Vera ohnehin. Die Nacht war klar, der Mond war am abnehmen- warum sie darauf achtete, wusste Vera nicht zu sagen, aber es beruhigte sie. Bei einem kleinen Haus hielt die Gruppe an und einer von ihnen klopfte an die Tür. Ihr Papa, davon war sie überzeugt! So hell wie sein Haar trotz der Dunkelheit schimmerte, musste es Nicolae gewesen sein! Vier Männer verschwanden in der Hütte, der fünfte blieb vor der Tür als Wache stehen. Aus der Ferne erkannte sie Jacob nicht, also schlich sie sich näher. Sie ließ sich Zeit, wollte nicht gleich entdeckt werden, doch der Mann wurde nicht umsonst vor der Tür abgestellt und erspähte die hellen Locken leider viel zu schnell hinter der Regentonne, wo sie sich für den Moment hingekauert hatte und sofort hervor spähte, als der helle Schmerzensschrei aus der Hütte erklang. Wahrscheinlich war es nicht schwer zu erraten, dass sie glaubte er gehöre zu ihrem Vater, doch der alte Jacob mit seiner Hakennase wusste es natürlich besser."Veruca!" Rief er aus, tadelnd, ja fast schon von Furcht gepackt als er sie erblickte. Zwei mal donnerte seine Faust gegen die Tür, noch ehe er mit drei langen Schritten bei ihr angekommen war, um sie am Arm zu packen. In seinen weit aufgerissenen Augen sah sie ihr eigenes Spiegelbild und sie konnte nicht sagen, wer von ihnen in diesem Moment mehr Angst hatte. Jetzt, wo man sie erwischt hatte, pakte sie die Furcht vor der Tracht Prügel die sie erwischen konnte und Jacob? Der bangte um den Zorn ihres Vaters, den er abbekommen konnte. Hierbei war es völlig egal, dass er nicht mal schuld an der Misere war- er war einfach nur zur falschen Zeit, am falschen Ort, doch das wusste Vera nicht. Sie zitterte, der anfängliche Mut war mit einem Schlag fort gewischt unter seiner Panik und noch mehr, als die Tür aufgerissen wurde und ihr Vater im Rahmen stand. Erst als sie das Blut an seiner Wange sah, wich die Angst um ihren eigenen Hintern der Sorge nach ihm."Papa! Du bist verletzt! Papa tut dir was weh?!" Sie strampelte sich aus dem Griff Jacobs frei und eilte auf Nicolae zu, unwissend das das Blut auf seiner Kleidung nicht seines war. Er hatte schon zur Ohrfeige angesetzt, ließ sich aber von der Sorge seiner Tochter erweichen und hob sie auf den Arm. Den Deut nach hinten in den Raum konnte sie nicht wahrnehmen, dafür aber die Wärme seines Leibes und des Blutes daran. Mit Tränen in den Augen tastete sie ihren Vater ab und schlang die Arme um seinen Hals. "Papa, Papa tut dir was weh? Soll ich pusten?" schluchzte sie und spürte das bebende Lachen das sich in seinem Brustkorb formte und über seine Lippen ging."du störrisches Mädchen! Bist du uns hinterher geschlichen, obwohl du im Bett sein solltest? Wenn du das noch einmal tust, versohle ich dir den Hintern, dass dir hören und sehen vergeht!" Im Anflug von Gutmütigkeit tätschelte er ihr den Kopf, drückte ihn an seinen Hals, damit sie nicht sehen konnte, wie die Männer Blicke austauschten. Irgendjemand- oder irgendwas- schluchzte noch neben ihr, aber es klang so dumpf an ihrem Ohr, dass sie es kaum wahrnahm. Ihrem Papa gings gut, mehr wahr nicht wichtig. Sie hatte sogar vergessen weswegen sie ihm hinterher geschlichen war, kaum das Blut erblickt."Ich bringe dich jetzt nach Hause und dort bleibst du, hörst du? Du legst dich hin. Du schläfst. Du bleibst verdammt noch mal in deinem Bett. Und morgen früh gibts dann eine Überraschung." Natürlich gab es keine Widerworte, zu groß war die Furcht vor dem Ärger den es dann geben konnte. Das Nicolae hier und jetzt sein Mädchen nicht übers Knie legte, lag wahrscheinlich einzig an den Erfolg des Abends, aber das wusste Vera nicht. Ebenso wenig, dass der dicke Kater den sie am nächsten Morgen bekam, von der Familie stammte, die es seit der letzten Nacht nicht mehr gab. Auch das die beiden Kerle, die immer am Haus aufpassten und denen sie letzte Nacht so gekonnt entschlüpft war nun fehlten und auch später nie wieder auftauchten, hinterfragte die kleine Veruca nicht. Warum sollte sie auch? Damals war das alles unwichtig, immerhin hatte sie einen Kater bekommen, der wenigstens ein bisschen über das fehlen von Adrian hinweg zu trösten wusste und eigentlich mochte sie die beiden Kerle vor der Tür ohnehin nie...~


"Woran denkst du denn gerade Mädchen? Eine alte Liebschaft?" der alte Krämer grinste über das Lagerfeuer hinweg zu ihr hin. Es war Nacht, das Lager aufgeschlagen und die meisten der Reisegruppe schliefen bereits in ihren Zelten, oder auf den Wagen. Sorgsam schüttelte die Iorga die Gedanken an alte Tage ab und schenkte dem Kerl ein kleines Lächeln. "so in etwa. He, weisst du eigentlich was ich am abnehmenden Mond so mag? Er macht uns mutig." Die Mundwinkel zuckten höher, während der blaue Blick über die Flammen hinweg fast schon lauernd auf dem Mann ruhte, der vom Alter her fast zwei mal ihr Vater hätte sein können. Sein bäriges Lachen erfüllte die vom Feuer knisternde, klare Nacht im Zeichen des abnehmenden Mondes und vertrieb die tristen Gedanken an eine Nacht aus Kindertagen, die sie heute endlich verstand und sich wünschte, sie täte es nicht.

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