Am frühen Nachmittag wird es endlich etwas milder. Der Wind hat gedreht und weht nun deutlich schwächer aus östlicher Richtung.
Sarah lässt die Maske weg. Nachdem sie eine Weile im Schutz des Felsens hockte und einige belegte Brote aß, setzt sie ihren Weg fort. Der Rivenweg ist verborgen vor dem Wind an der Westseite einer steilen Klippe. Ein Weg aus Brettern und Seilen, aufgehangen an dicken Balken, die schon vor Jahren in den Fels getrieben wurden. Mit einem Karren kommt man nicht da lang, doch ein einzelnes Dolyak stellt kaum ein Problem dar. Dennoch muss man aufpassen, denn hin uns wieder kommt jemand aus der anderen Richtung und es ist kein Platz um ein Dolyak zu wenden.
Dieses mal scheint es aber so, als wäre sie allein unterwegs, wie passend, fühlt sie sich doch auch so. Vielleicht ist es auch gut, niemandem zu begegnen.
Die Bretter auf dem Steg des Rivenwegs wirken wettergegerbt. Doch sie weiß, dass sie sicher und stabil sind. Die Abtei selbst wartet diesen Weg regelmäßig. Es dauert auch nicht allzulange ihn zu queren, doch sie hält mittig auf dem Steg. Der Blick wandert nach links. Ein verlockender Abgrund, die Freiheit des Falles, das kitzelnde Gefühl im Bauch, diese Unsicherheit.
Sie starrt abwesend in den Abgrund und breitet langsam die Arme aus. Nur ein Windhauch, ein sanfter Schubs vom Schicksal und jede Sorge würde von ihren Schultern fallen. 'Seth...mein Liebster. Halte mich fest, schließ' deine Arme um mich.', sie will es nicht, nicht fallen, nicht befreit werden. Das gibt es etwas, was sie viel lieber hat, etwas, was ihr das Leben noch lebenswert erscheinen lässt. Sie hat noch ihren Liebsten. Zumindest die Gedanken an ihn, ihren Liebsten, den Mann, welcher so zärtlich, so einfühlsam ist, den Mann an ihrer Seite, welchen sie in ihre Arme schließen will, welchen sie so gern bei sich haben will, immer und jeder Zeit. Das Einzige, was sie jetzt, im Moment, nein, in diesen Zeiten zurück vom Abgrund reißt.
Still stapft sie weiter. Leise fällt etwas Schnee vom Himmel, ein zarter Schauer nur, Flöckchen, welche sich auf ihren rosigen Wangen niederlegen und sogleich schmelzen, die Tränen verdünnen und hinfort spülen.
In vielen Märchen würde nun langsam das Schloss des edlen Prinzen vor ihr auftauchen. Doch sie sieht nur den Weg vor sich.
Es wir langsam Abend, sicher ist es nicht mal fünf Uhr am Abend, doch es wird schon langsam dunkel. Sie sieht sich nach einem Rastplatz um, nicht zu weit von Weg soll er entfernt sein, nicht zu einsehbar. Schutz vor Wetter und Wildnis soll er bieten. Sarah kennt die Gegend, sie ist nördlich der Göttersporen. Östlich von ihr ist die Schwingenwarte. Sie kennt hier aber ein kleines Plateau, umschlungen von Bäumen.
Nach einer Weile findet sie den Platz wieder und führt das Dolyak dorthin. Sie bindet die Zügel an einen der eng stehenden Bäume und nimmt die Last vom Rücken des Tieres.
Etwas Holz nur, sie führt es mit, ein kurzer Zauber... wohlig brennt ein Lagerfeuer, der Lichtschein wird von den Bäumen gedämmt, welche um ihr Lager herum stehen. Sie wischt den Schnee vom Boden und legt ihren Schlafsack aus. Diese wasserfeste Version von der Abtei. Seufzend lässt sie sich auf den Schlafsack fallen. Sie zieht die Knie heran und schaut in das Feuer. Sie müsste eigentlich etwas essen, etwas trinken, sie weiß es, doch...
'Ich muss mich dait auseinandersetzen, muss diese Bilde erleben, ich muss! Ich muss! Ich muss! Ich muss einfach!', sie presst die Augen zusammen, doch geschieht nichts.
"Wieso?", sie fühlt wie ihre Augen feucht werden. Wieso bekommt sie diese Bilder nicht jetzt, jetzt wo sie sie will, jetzt wo sie sich kämpferisch den Erinnerungen entgegenstellt? 'Ich hasse mich... was soll das? Wieso diese Qual, wieso diese Scheiße?'
Die Nacht umschlingt das Lagerfeuer. Tief schnorchelnd geht der Atem des Dolyaks. Sarah fühlt wie ihre Augen langsam schwer werden. Die Brote eben, haben ihr nicht geschmeckt. Der Hunger trieb es rein.
Sie fürchtet sich davor, einzuschlafen. Sie führchtet sich vor den Träumen, den Bildern.
Sie starrt in das Feuer.