Glockenhelles Kinderlachen tönte über die weitläufigen Hügel und Wiesen, auf denen sich Spätblüher und in voller Samenpracht stehender Löwenzahn – sie hatte gehört dass die anderen Kinder es „Pusteblume“ nannten – in einem kräftig-lauen Herbstwind wiegten.
Acht oder neun Jahre mochte das Mädchen sein, welches in großen, lebenshungrigen Schritten lachend über die Felder tollte, über Zäune sprang und Haken schlagend zwischen den Apfelbäumen verschwand. Ein lockeres, luftiges Sommerkleidchen trug sie, das volle, gesunde Haar dessen prachtvolles Blond in der goldenen Herbstsonne glänzte, mit kleinen Schleifchen zurückgebunden, die Wangen rosig, das dunkle Türkisblau der Augen glitzernd von Lebensmut. Sie trug weiße Riemchenschuhe – zumindest waren sie einst weiß gewesen, und trugen nun Erdsprenkel und schmierige grüne Grasspuren, ebenso wie das weiße Kleidchen die Bunte Farbe von Polle und Blüten angenommen hatte, durch welche sie hindurchgelaufen war.
Sie war hinter Vögeln hergerannt, hatte nahe des Weges mit einem schönen, braun-weiß gescheckten Hund gespielt der mit seinem Herrchen vorbeigekommen war, und war schließlich hinter einem bunten Blatt hergesprungen, welches vom Wind getragen zwischen die Apfelbäume trudelte. Die Bäume trugen große, verlockend rote und pralle Früchte, die nur so zum Anbeißen einluden, während sich das Blattwerk in allen bunten Farben von Gelb über Orange bis zu kräftigem Dunkelrot eingefärbt hatte.
Auch die Olivenbäume nebenan trugen mittlerweile dunkle, reife Früchte, und die Kastanien nahe des Hauses purzelten in ihren Stachelbewehrten Hüllen in das Gras, wo sie die dunklen Früchte am Nachmittag hatte einsammeln können. Auch die Weinranken leuchteten mittlerweile in kräftigem Rot, während die Winzer an den Hügeln sich beeilten die Ernte einzufahren und mehr köstlichen Wein zu keltern.
Das Mädchen mit den Pausbacken klemmte die Zunge zwischen die Lippen und sprang mit Anlauf an den Stamm eines der Bäume an dem sie sich hochhangelte, mit den dünnen aber geübten Beinchen Halt suchte, und sich einen Apfel griff der am Ast hing. Damit in der Hand, sprang sie wieder hinab, sodass der Stiel raschelnd vom Ast brach und die Frucht dem Kind übereignete.
Lachend, und von Blättern und kleinen Pusteblumensamen im Wind begleitet der auch an ihren goldenen Löckchen zog, biss das Kind in die Frucht und tollte über die Wiesen davon, dorthin, wo es niemand schelten, niemand beobachten konnte.
Weit fort, von dem Fenster, hinter dem das blonde Mädchen stand, das Haar streng zurückgebunden und in ein hochgeschlossenes, dunkelgraues Kleid mit weißer Bluse darunter geschnürt, sodass ihre gerade, steife Erscheinung absolute Disziplin und Gehorsam vermittelte, die an einem Kind ihres Alters übertrieben und deplatziert wirkten. Sie war weit entfernt von dem Kind, welches sie in den Bruchstücken ihrer Fantasiewelt gerne sein wollte, weit entfernt von goldenem Herbst und bunten Wiesen. Der Blick aus dem Fenster offenbarte hinter den Mauern eine bunte, lebendige Welt, suggerierte besseres in den Augen des Kindes welches die Lektionen nicht verstehen wollte, nicht verstehen wollte weshalb es im Haus bleiben, lernen, und alleine bleiben musste.
Der Blick hinaus schmerzte, weckte Sehnsucht – eine der letzten Emotionen derer auszutreiben sich als schwieriger gestaltet hatte, als man offenbar annahm. Es kostete sie Überwindung sich vom Fenster abzuwenden, und zu ihrem Schreibtisch zurückzukehren. Einem wuchtigen Monster aus dunklem Kirschholz, das einzige verzierte Ding in dem großen Zimmer welches sie das Ihre nannte, vollgestellt mit Büchern, Schriftrollen und einem tyrianischen Globus. Nicht eine Blume, kein Bild, keine Skulptur fand sich hier – auch nebenan, dort, wo ihr Bett stand, fand sich keinerlei Dekoration.
Während sie auf den Stuhl kletterte der noch viel zu groß für sie war, von dem man aber davon ausging dass sie hineinwachsen würde, zog sie einen dicken, gelbrot gefärbten und reifen Apfel aus der Kleidtasche. Sie hatte die Frucht in der Küche gestohlen und sie erfolgreich bis hinauf in ihr Zimmer geschmuggelt. Nun setzte sie die Frucht wie einen Abstrakten Farbtupfer auf eine entfernte Ecke des Schreibtisches, und blätterte eine Seite des dicken Wälzers um, der aufgeschlagen vor ihr auf dem Holz lag. Sie musste vorbereitet sein, für die Fragen die man ihr zu dessen Inhalt stellen würde.
Nachdenklich lag der Blick der Ratsherrin auf der aufgeschnittenen reifen Frucht, die ein ahnungsloser Albert ihr auf die Ecke des Schreibtisches gesetzt hatte. Behutsam streckte sie eine Hand aus und nahm eine der Apfelspalten zwischen die zarten Finger, und betrachtete die goldfleckige Schale der herbstlichen Natursüßigkeit.
Und während sie die reife Frucht zwischen ihren Fingern zerquetschte, sodass ihr Safttröpfchen und Fruchtfleischbröckchen an der ebenen Haut des nackten Unterarmes hinabrannen, verbannte sie die Erinnerung an das Mädchen das sie einst gewesen war zurück ins Vergessen.
Ebenso wie den Traum vom Mädchen das sie immer hatte sein wollen.
Kommentare 2