Sie war schon immer unscheinbar gewesen.
Damals, als ihr Vater noch gelebt, und ihre Mutter noch gelacht und auf dem Dorffest getanzt hatte, war sie unscheinbar und glücklich gewesen, hatte gelernt, im Haushalt geholfen und ihren Vater in den Wald begleitet.
Damals, als ihr Vater starb, und ihre Mutter geweint und getrauert hatte, war sie unscheinbar und unglücklich gewesen, hatte gelächelt während ihre Mutter sich dem Leben verweigerte, hatte ihren Schmerz mitgetragen damit es ihrer Mutter nicht noch schlechter ging.
Damals, als sie die einzige war die das Grab ihres Vaters besuchte, es in Ordnung hielt, während ihre Mutter immer kränker, immer erfüllter von Gram geworden war, war sie unscheinbar und erschüttert gewesen, hatte den Haushalt geführt, eingekauft und gekocht, den brüchigen Rest von Familie erhalten mit dem wenigen was sie zum Leben hatten.
Damals, als ihre Mutter sie verraten und an diesen Mann verkauft, sie gegen regelmäßige Münzen eingetauscht und fortgegeben hatte, war sie unscheinbar gewesen, während in ihrem Inneren etwas zerbrochen war.
Heute war sie eine junge Frau, erwachsen im Alter, noch immer unscheinbar. Niemand hatte sich die Mühe gemacht zu reparieren was zerbrochen war, und doch war sie heute so viel mehr als früher.
Es hatte lange Jahre gedauert, bis sie in der Lage war mehr für ihre Mutter zu empfinden als Abscheu und Unverständnis. Sie konnte nicht verstehen, wie eine Mutter in der Lage sein konnte ihr eigenes Kind gegen ein paar Silbermünzen einzutauschen. Heute konnte sie es nachvollziehen, auf eine gewisse Art und Weise - doch sie befand sich noch immer fern jeglichen Verständnisses.
Aber sie hatte gelernt, die guten Seiten daran zu sehen. Hatte es lernen müssen, so, wie sie hatte lernen müssen wie man in der Welt, in welche sie so unsanft hineingestoßen worden war überlebte.
Früher war es vor allem im Winter oftmals bitterkalt in ihrem kleinen Haus in Shaemoor gewesen. Sie erinnerte sich an Nächte, in denen sie zwischen ihren Eltern im Bett gelegen und schrecklich gefroren hatte. Auch hatten sie manchmal nur fette Brühe mit etwas Brot zu essen, alte Kleidung, einen Schuh mit Loch.
Heute hatte sie es warm in ihrem kleinen Zimmer - überhaupt hatte sie ein Zimmer. Ein eigenes. Mit Bett und Kleidertruhe, mit Tisch und Stuhl. Sie hatte ein eigenes Fenster, vor welchem sie sitzen und träumen konnte wenn sie einmal Zeit dazu hatte. Sie hatte Kleidung, feine Kleidung, verschiedene Hosen, Röcke, Blusen und Mieder, Jacken und verschiedene hübsche Schuhe - sogar ein paar mit Absatz. Sie hatte auch feine Kleidung, aus edlem Stoff - diese aber hatte sie in einen Leinenwickel unter ihr Bett verbannt, und wann immer sie sie brauchte, hervorholen musste, war ein schwarzer, böser Tag.
Sie hatte stets genug zu essen - denn da sie selbst für den Herren und seine Frau Mutter einkaufen ging und kochte, war es ihr ein leichtes genug aufzutischen, alsdass Agnes, Henry und sie ebenfalls gut satt werden konnten. Sie hatte Lesen, Schreiben und Rechnen gelernt, interessierte sich für Musik und empfand das lernen von Heraldik als spaßbehafteten Zeitvertreib.
Überhaupt ließ der Herr ihr viele Freiheiten. Sie bekam ein Taschengeld zur freien Verfügung, und wenn sie ihre Arbeit schnell und gut erledigte, hatte sie Freizeit wann immer er ausser Hauses war - was häufig vorkam.
Der Preis den sie für diesen scheinbaren Wohlstand bezahlte, war hoch.
Sie hatte von anderen Hausmägden gehört, die von ihren Herren geschlagen und verletzt wurden, grün und blau geprügelt, gefoltert und "entsorgt" wenn man ihrer überdrüssig wurde. Angesichts dieser Gerüchte war sie sich nicht sicher, ob sie es besser oder schlechter getroffen hatte, denn er schlug sie nicht, niemals hatte er ihr auch nur ein Haar gekrümmt. Und doch quälte er sie jeden Tag, mit Worten, Blicken, Taten.
Ein Mal hatte sie gewagt gegen ihn aufzubegehren. Hatte Widerworte gegeben, ihre Kluft niedergelegt und war stolz zur Türe hinausmarschiert. Hatte fortgehen wollen, nach Löwenstein vielleicht, und fernab seiner grausamen eisgrauen Augen ein neues Leben beginnen wollen.
Doch schon hinter Shaemoor hatte die Kälte, hatte der Regen sie in die Knie gezwungen. Aus einem Gebüsch heraus hatte sie beobachtet, wie einige Straßenräuber einen Karren überfielen, und war rasch zurück in die Stadt geeilt. Dort war sie einige Stunden ohne Geld und ohne Platz umhergewandert, ehe es sie elend zurück vor seine Tür verschlagen hatte. Sie hatte sich für ihren Hochmut, ihre Dummheit entschuldigt, hatte ihn gebeten sie wieder bei sich aufzunehmen. Nicht, weil sie gerne für ihn arbeitete, sondern weil sie nicht wusste wohin sie sonst hätte gehen können.
Ein anderes Mal war sie beinahe gestorben. Es hatte sich so angefühlt. Er trug Schuld an ihrem Zustand, hatte sie krank gemacht - sie hatte sich ein Mittel besorgt, und das Mittel hatte sie noch kränker gemacht. Sie hatte wochenlang gefiebert, war bleich und kaltschweißig gewesen, hatte sich geschüttelt und gekrampft, aus allen Körperöffnungen geblutet und sich mehrfach täglich übergeben. Er hatte nicht ein einziges Mal nach ihr gesehen.
Heute ging sie zum Markt. Nicht, weil sie einkaufen musste, denn das hatte sie gestern bereits getan. Heute war sie aus einem anderen Grund hier.
Damals wie heute war sie unscheinbar gewesen. Doch immer, und sie war sich sicher dass auch das einer der Gründe war weshalb der Herr sie damals ausgesucht hatte, war sie eine unscheinbare Schönheit gewesen. Alabasterfarbene Haut, große, Kristallblaue Augen, volle, blassrosafarbene Lippen und eine schmale Stupsnase. Langes, goldblondes Haar welches ihr offen und frei von Wellen über die Schulter und bis hinab zum Steiß reichte. Sie war groß gewachsen, kurvig - besonders seit sie gut zu essen bekam, hatte sie etwas Hüfte und Brust zugelegt, sodass sie in der richtigen Kleidung durchaus zu verlocken wusste.
So wie heute. Sie hatte ihre Dienstkluft abgelegt, hatte einen Milchkaffeebraunen Leinenrock und eine Orangefarbene Bluse mit braunem Ledermieder angelegt, dazu leichte Stiefel. Sie liebte es, sich ab und an ein neues Kleidungsstück zu kaufen, und versteckte ein jedes davon argwöhnisch - legte sie nur an, wann immer sie zu einem ihrer seltenen Freizeitausflüge aufbrach.
Heute hatte sie ihre Arbeit in windeseile und in aller Frühe erledigt. Hatte die Gardinen gewaschen und geglättet, hatte die Eingangshalle, das Büro, den Salon und das Schlafgemach geputzt und überall Staub gewischt. Und dann hatte sie gebadet, sich rasch umgekleidet und war losgezogen, gerade im Sonnenaufgang.
In der Ellbeuge trug sie einen Korb, der gefüllt war mit den Einkäufen vom Vortag. Sie trug ihn herum, erweckte den Eindruck als wäre sie nur eine junge Frau beim Einkaufen. Dabei war sie heute so viel mehr.
'Erna, hast du den Hodenheim vorhin vorbeistolzieren sehen? Der schaut immer aus als hätt' er den steifsten Stock im Arsch. Schlimmer als Dronon.'
'Hihihi, Hodenheim! Dronon sieht dabei wenigstens noch gut aus!'
'Findest du? Wie auch immer. Dieser Mann ist so furchtbar schmierig, richtig widerlich. Und ich habe gehört, bei dem stehen die Frauen schlange. Jede Nacht 'ne andere, sag' ich dir. Traude hat gesagt, sie hats bei ihm aus dem Haus neulich schreien hören - mitten in der Nacht! Da hat sich irgendsoeine Adelige ihre Lust aus dem Hals geschrien als er sie genommen hat, das sag ich dir, so ein Schwein!'
'Wer, Dronon?'
'Der Hohenheim du dumme Gans!'
Sie hatte die Frauen am Vortag auf dem Markt reden hören, hatte gesehen wie die Milchverkäuferin an ihrem Stand tratschte und diese üblen Dinge einem jeden erzählte der sich nahe genug an sie heranwagte.
Heute früh war der Markt noch leer, die Milchfrau hatte ihre Ware abgestellt und war hinter ihrem Stand verschwunden um den Karren aufzuräumen. Das blonde Mädchen zog eine kleine Flasche aus dem Korb, und den Korken aus dem Flaschenhals. Sie hatte in aller Sorgfalt Holunderbeeren und Hyazinthenzwiebeln aus dem Garten gesammelt, beides zerdrückt und den Saft in der Flasche aufgefangen. Nun blickte sie sich um, das unscheinbare Mädchen, und ging sicher dass niemand in der Nähe war der schauen konnte. Während die dicke Milchbäuerin beschäftigt war, hob das Mädchen den Arm und gab den Inhalt der Phiole in die zwei großen Milchkannen die auf dem Holz standen. Sie lächelte nicht, als sie das Fläschchen wieder in den Korb sinken ließ, und erschrak dann, als plötzlich das speckige Gesicht der älteren Frau vor ihr auftauchte.
"Wir verkaufen noch nichts!" blökte die alte sie an.
"O-oh. E-entschuldigung!" quietschte sie hastig, knickste halb, und taperte dann mit eiligen Schritten fort in die Untiefen des Marktplatzes. Die Bäuerin, zu sehr mit schimpfen über die vorwitzige Jugend beschäftigt, wunderte sich nicht über den gefüllten Korb der jungen Frau.
Zielstrebig machte sie sich auf den Weg zurück, niemand würde merken dass sie gefehlt hatte. Sie würde Frühstück machen, ihren Herrn wecken und ihm wie jedem Tag treu dienend zur Seite stehen, während eine Milchbäuerin mit von Brechreiz geplagten, wütenden Kunden zu kämpfen hatte. Niemand würde ihre Milch mehr kaufen wollen.
Der Gedanke ließ sie lächeln, als sie am Abend eine Gemüsepastete als Beilage in eine Auflaufform schichtete, während nebendrein eine Schweinekeule für den Grafen von Hohenheim briet.
Sie liebte ihn.
Sie hasste ihn ungleich mehr.
Aber ihre Loyalität war über jegliches Gefühl erhaben.
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