Der krytanische Spätherbst hing tief und verschlackt über den Baumkronen. Er strich als laue Brise durch die Wipfel und füllte die Sicht mit einem müden Niederschlag kalten, toten Laubes. Die braunen, brüchigen Blätter trudelten in Zeitlupe abwärts, gleich Rosenblüten, die auf einer Beerdigung fielen. Vorboten für einen eisigen Winterhauch, der in diesen warmen Gestaden kaum je folgte. Eine dichte Decke aus Laub hatte sich bereits auf dem Waldboden gesammelt, wo es mit jedem schweren Schritt des Priesters raschelnd in sich zusammenbrach, immer gleich und im Takt mit den Kettenringen, die unter seiner Plattenrüstung klirrten. Über ihm erstreckte sich ein lebloses Geflecht aus kahlen Ästen, durch die man den tristen, grau verhangenen Himmel sehen konnte. Es war gerademal Morgen, doch ein Blick in die Wolken hätte ihn nicht von einem ausklingenden Nachmittag unterscheiden können. Nur einige Nadelbäume und winterfeste Sträucher gaben dem Forst noch Substanz. Viele der Bäume waren schon im Hochsommer kahl gewesen, und würden es auf ewig bleiben, ihre Wurzeln verdorrt in dem seuchengeplagten Boden. Nicht der hypothetische Winter zwang die Kessex-Hügel langsam in die Knie, schon lange war ihm das klar, sondern die toxischen Kräfte, die ihren Schatten hier zurückgelassen hatten. Ein Schatten, der Land und Leute gleichermaßen zur Ader ließ. Wie oft konnte ein Volk heimgesucht werden, bevor es nicht mehr zu kämpfen vermochte? Endlos lange, sagte ihm sein Herz, und bis zum blutigen Ende. Doch Bauernherzen schlugen nicht für die Schlacht, das wusste er. Das war vielleicht die härteste Probe gegen den alten, neuen Feind.
Es ließ sich nicht leugnen, dass der Standort klug gewählt war. Jenseits der kleinen Anhöhe wurden die Hügel immer steiler, fielen nur in straffer, südlicher Richtung wieder ab. Der schwache Trampelpfad führte geradewegs zwischen Gebüsch und dicht stehenden kleinen Tannen auf beiden Seiten hindurch, welche nicht nur den Bereich dahinter vor Blicken von außen verbargen, sondern auch die kleinen Hochsitze, die sich auf der anderen Seite an die Bäume schmiegten. Leicht hätte man von dort aus auf ungebetene Gäste schießen können, die ahnungslos durch den Wald tappten. Ungebetene Gäste wie ihn selbst. Somit war es ein Gutes, dass keines der provisorisch gezimmerten Türmchen mehr besetzt war.
Die Anlage wimmelte bereits vor Seraphen, die schon vor ihm hier angekommen waren, obwohl sie sich zeitgleich aufgemacht hatten. Bei ihrem geschäftigen Anblick grimassierte Dronon knapp. Er musste an Zeiten zurückdenken, in denen er noch genauso zügig hatte marschieren können, ohne sich dabei die Seele aus dem Leib zu schwitzen und hinterher mit seinem schmerzenden Bein zu ringen. Der Dschungel insbesondere hatte ihn dahingehend nicht jünger werden lassen. Aber all das war hier und jetzt nicht weiter wichtig. Schnaubend stapfte er zwischen den Büschen entlang, den Hammerstiel gewohnt als Stecken gebrauchend. Er stiefelte in einem Bogen nach links über die Anhöhe, vorbei an einem längst erkalteten Lagerfeuer, das halb von Herbstlaub bedeckt war. Das Areal war nicht besonders groß, wie er schnell feststellte, jedoch leicht zu verteidigen. Er passierte ein dilettantisch aufgeworfenes Grab, über dem bereits zwei Soldaten knieten. Aus zwei Stecken, einem Stück Schnur und einem rostigen Nagel hatte Jemand ein billiges Kreuz gefertigt und vor dem Erdhaufen in den Boden gesteckt. 'Dirk' stand mit schiefen Lettern in der Borke des waagrechten Astes, eingeritzt durch eine Messerklinge. Mit einem leisen Grollen ging der Priester weiter in Richtung der Jagdhütte, die das Zentrum der Anhöhe einnahm.
Der Boden war hier wesentlich besser ausgetreten, aber wer auch immer das Gelände bewohnt hatte, war schon zu lange fort, als dass noch Fußspuren verblieben wären. Neben den frischen Stiefelabdrücken von gut einem Dutzend Seraphen stachen jedoch noch immer die überdimensionierten Klauenfurchen der Bestie ins Auge, inzwischen leicht schlammig und verwaschen durch den sauren Nieselregen der nach Sonnenaufgang gefallen war. Es wunderte ihn wahrlich nicht, dass seine Männer diesen Ort so leicht gefunden hatten, selbst für einen völligen Laien hätte es keine Herausforderung dargestellt, diesen Abdrücken durch den Wald zu folgen. Besonders in Anbetracht der Tatsache, wie frisch sie waren. Die Hütte war ein kompakter, aber ansehnlicher Blockbau mit Schieferdach, doch der Vorabend hatte ihr übel mitgespielt. Die Fenster waren kaputt, ihre guten Glasscheiben allesamt zersprungen, die Tür samt aufgeborstenem Rahmen aus den Angeln gerissen.
Nach dem Übeltäter musste man nicht lange suchen - der Gestank frischer Verwesung reizte die Nase bereits auf halbem Wege zum Haus. Der Kadaver der Bestie, welche Blut und Dietrich erlegt hatten, lag unfern des Hütteneinganges in einer ausgetrockneten Blutlache, direkt an der Wurzel des nächstbesten Nadelbaumes. Es war ein blauer Moa, daran bestanden zumindest keine Zweifel. Oder besser gesagt etwas, das vielleicht einmal ein blauer Moa gewesen war. Der Zustand zum Zeitpunkt des Ablebens beschrieb sich besser als eine Laune der Natur, oder viel mehr die perverse Imitation einer solchen. Das Tier war um über die Hälfte größer als jeder normale Vertreter seiner Gattung, das Fleisch aufgedunsen und mutiert, das dunkelblau schimmernde Federkleid an vielen Stellen zerrupft oder im Ausfallen begriffen. Und selbst im Tod hätte man schwören können, in den leeren Augen und dem halb offenen Schnabel einen Restfunken durchgedrehter Boshaftigkeit zu erkennen. Bei der absurden Größe und den diversen Wunden, die das Tier eingesteckt hatte, beeindruckte es ihn, wie vergleichsweise glimpflich Blut und Dietrich aus diesem Kampf hervor gegangen waren. Unterwegs hatte er den zerhackten Leichnam des glücklosen Jägers gesehen, der dem Biest zum Opfer gefallen war. Zwei Seraphen waren ihm damit entgegen gekommen. Der Mann hatte nicht nur kein Gesicht mehr gehabt, sondern kaum noch einen Kopf. Der Priester empfand folglich einen gewissen Stolz, als er sich die tiefe Kluft im Hals des Moas beschaute, welche Dietrich allem Anschein nach mit starkem Schwertarm geschlagen hatte. Fürs Erste hatte er seinen Schüler allerdings beordert, im Dorf zu bleiben, um bis zur Abreise am Abend den verwundeten Nekromanten im Auge zu behalten.
Mit schabenden Panzerplatten ließ er sich auf ein Knie herabsinken und betrachtete den ausgeweideten Bauchraum des Moas. Keiner der Seraphen kauerte mehr vor dem toten Körper, was nicht weiter verwunderlich war. In dieser gebeutelten Gegend war es eine luxuriöse Fantasie, einen professionellen Leichenbeschauer in Dienst zu stellen. Er packte unter glitschigem Knirschen in den Kadaver, schob den gerüsteten Arm tief in den Rippenkasten und schnaubte, als er tastend erkannte, dass Blut sich das Herz der Kreatur herausgeschnitten hatte. Das hatte er bereits vermutet, als er die prall befüllte Tasche des Nekromanten gesehen hatte. "Typisch.", knurrte der Priester, zog seinen Arm mit einem schmatzenden Geräusch wieder heraus und wischte sich das schleimige rote Innenleben im Gras zumindest grob vom Panzerhandschuh. Eine Weile lang starrte er noch auf die entblößten Innereien des Riesenvogels, auch wenn sie ihm nicht mehr verrieten als der Dreck, in welchem sie vergammelten. Schließlich atmete er allem Verwesungsgestank zum Trotz tief durch und zog das Stoffbündel hervor, in welches er das Mitbringsel seiner Männer gewickelt hatte.
Er sog ein weiteres Mal tief die Luft ein, als er die Stoffwickel beiseite schlug und sich das Mineral beschaute. Die Gänsehaut, die ihm der Anblick bescherte, war ein ungewohntes Gefühl aus ferner Vergangenheit. Es war schwer zu entscheiden, ob man die Substanz als kristallin oder steinern betrachten wollte. Das tiefe, doch grelle Rot des dolchgroßen Splitters war nur ein winziges bisschen durchsichtig und geprägt von befremdlichen, violetten Schlieren. Ein paar winzige schwarze Verunreingungen an den äußeren Enden rückten rasch in den Hintergrund ob der Energie, die dem Splitter innewohnte. Das rote Leuchten war fast erloschen, und doch fühlte sich die magische Kraft seltsam konzentriert an. Er hatte nie ein Gespür für magische Ballungen besessen, aber diese hier drängte sich ihm beinahe auf. Ein Stück Blutstein. Es musste eines sein, so viel zumindest konnte er anhand der Gerüchte erraten. Und das erste Mal seit langer Zeit war Sentenzar Dronon sich völlig unsicher, was er damit nun anfangen sollte. Er hatte es nur ein einziges Mal direkt mit den Fingern berührt und sich rasch danach entschieden, das kein zweites Mal zu tun. Die Energie, die er gespürt hatte war chaotisch und angriffslustig, verdreht aber gewissermaßen beeindruckend... doch die Art und Weise, wie er sich davon angezogen fühlte, hatte ihm einen Schrecken ins Mark gejagt, den kein Feind auf dem Schlachtfeld ihm je abgerungen hatte. Er wusste nicht, was er empfinden sollte. Ehrfurcht? Abscheu? Das glimmende Mineral, das er sich in Stoff gepolstert vor Augen hielt, war ein Stück göttlicher Schöpfung. Und doch war allein die Tatsache, dass es überhaupt hier war, blanke Blasphemie...
"Ist das das Ding, was Euer Kapuzenmännchen aus dem Vieh geschnitten hat?"
Der Priester sah auf und ertappte sich dabei, den Blutstein-Splitter prompt wieder in Tuch einzuschlagen, als müsse er ihn verstecken. Er brummte missbilligend, und der über ihm stehende Seraph verstand es falsch und zog seinerseits die Brauen herab. Dronon erhob sich schwerfällig, indem er sich auf seinen Streithammer stützte. "In der Tat.", bestätigte er.
Es war der braungebrannte Hauptgefreite aus dem Dorf, mit seinem Helm unter den Arm geklemmt. Ein junger Mann, der sich um Strenge und Korrektheit bemühte, was der Priester durchaus mit Wohlwollen aufnahm. Doch ihm war bereits aufgefallen, dass der Soldat die Neigung besaß, seine Ordnungsliebe aus Unsicherheit zu übersteigern, wie sich auch jetzt zum Ausdruck brachte: "Dann muss ich Euch auffordern, mir das Beweismittel auszuhändigen, Hochwürden. Sofort, wenn ich bitten darf."
"Nein."
"Nein?" Der Hauptgefreite blitzelte, dann engte er erbost die Lider und presste die Lippen aufeinander, indem er unerschrocken näher auf ihn zutrat. "Ihr verweigert die Kooperation, Priester. Händigt es aus. Sofort."
"Nein.", sagte Dronon. Stoisch hob er das Bündel an. "Ich bin der letzte, der Euch die Kooperation verweigert. Aber das hier sollte sich lieber gleich die Glänzende Klinge ansehen, findet Ihr nicht?"
"Ich habe dennoch meine Vorschriften."
"Und diese binden Euch an Euren Posten, wo Niemand den Splitter untersuchen kann. Ihr habt das Dokument gelesen. Ich reise noch heute nach Götterfels ab und lege alles der Vorstreiterin vor, seid unbesorgt."
Das schmeckte dem Burschen nicht, und der Priester konnte es ihm nicht verübeln. Schließlich nickte der Seraph lediglich. "Also schön. Eure Verantwortung." Er setzte an, sich abzuwenden.
"Eine Frage noch.", warf Dronon ein, bevor der andere weiter stiefeln konnte.
"Ja?" Der Seraph wandte sich wieder um, die Stirn leicht gerunzelt.
"Die Jagdhütte. Wisst Ihr wem sie gehört?"
Es war dem Hauptgefreiten einen Moment lang anzusehen, dass ihm eine pedantische Bemerkung zu der Frage auf den Lippen lag, doch erfreulicherweise klemmte er sie sich und antwortete stattdessen. "Einem Adligen aus dem Königintal, der hier alle Jubeljahre mal jagen kommt." Sein Stirnrunzeln vertiefte sich. "Wenn mir jetzt nur der Name einfiele..."
"Lodenbrink!", trällerte eine freundliche Bogenschützin, die gerade vorbei ging. "Freiherr Tarabas von Lodenbrink."
"Richtig, Lodenbrink.", brummte der Hauptgefreite, nickte und sah wieder zu Dronon. "Aber der war hier bestimmt vor über einem Jahr zuletzt unterwegs. Die Leute kommen nicht mehr gern in die Gegend. Zu gefährlich."
"Zu gefährlich.", wiederholte der Priester murmelnd und engte grübelerisch die Lider. Lodenbrink.. Der Name hinterließ kein bekanntes Gefühl, und so beschränkte er sich fürs Erste ebenfalls auf ein Nicken. "Ich danke Euch."
"Hm.", machte der Seraph und nickte zurück, bevor er sich mit forschen, steifen Schritten abwandte und eine Gruppe abwartender Soldaten aufscheuchte. "Steht nicht so nutzlos herum!", keifte er streng. "Das verdammte Vieh trägt sich hier nicht von alleine weg!"
Der Priester Balthasars steckte das Bündel fort, ohne nochmals hinein zu schauen. Sein Atem rasselte, als er wieder durchschnaufte. Es konnte alles kein Zufall sein. Soviel war ihm gewiss.
Sein Blick fiel abermals auf den toten Moa, und er kickte ausdruckslos gegen den mutierten Riesenschädel, welcher glitschig schlackerte. Nur einige lädierte Muskelstränge verbanden das rottende Körperteil überhaupt noch mit dem Hals. "..hrrn." Kurz entschlossen packte er die Kammfedern, stemmte den Panzerstiefel gegen den Rumpf und riss den Kopf grunzend ab, um sich das tote Fleisch über die Schulter zu werfen. Wenn er schon hier war, konnte er ja auch tragen helfen.
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