~ Götterfels, vor ein paar Tagen ~
Schweigend schritt Sentenzar Dronon durch die Halle der Minister. Trotz der späten Stunde herrschte noch geschäftiges Treiben, verhältnismäßig zumindest. Bürokraten und Ministerialwächter zogen an ihm vorbei, während die Schritte seiner Panzerstiefel schwer über den Gang hallten. Vereinzelte Köpfe wandten sich, als er an ihnen vorüber zog. Für sie war er ein Eindringling, ein Fremdkörper, die plakative Erscheinung eines politischen Aufwieglers, mit dem hier am allerwenigsten zu rechnen war. Doch genauso schnell war er wieder vergessen. Und das verübelte er nicht; Er missbilligte seine Anwesenheit genauso sehr wie sie sich darüber wunderten. Aber sie war gelegentlich erforderlich, diese Anwesenheit, Mal um Mal aufs Neue. Er hatte gelernt, den ministerialen Apparat als Geschwür am Hals aller Politiker anzuerkennen, eine Notwendigkeit, mit der sie sich alle infizierten. Man musste einzig zu unterscheiden lernen zwischen denen, die die Seuche in einem Akt der Aufopferung empfangen, und denen, die süchtig sind nach ihren Keimen. Bisweilen war die Grenze äußerst schwer zu ziehen.
Heute musste er einfach seinen Vorstoß machen, auf gut Glück. Er knirschte mit den Zähnen. Es galt keine Zeit zu verschwenden. Das nachmittägliche Gespräch hatte sich als nutzlos erwiesen. Blanke Zeitverschwendung. Und bevor er auch diese Fährte in Warteschlange gab, würde er selbst zur Tat schreiten. Er verstand sich selbst nicht als ungeduldigen Mann, doch er war es leid darauf zu warten, dass die Geheimniskrämerei anderer Leute neue Informationen abwarf. Eine mausgraue Buchhalterin schielte im Passieren pedantisch über den Rand ihrer Brille. Sie warf einen vorwurfsvollen Blick auf den Stiel des Hammers, seinen improvisierten Gehstock, den er forsch über den polierten Gang tockte. Er ignorierte sie, stapfte weiter. Seine Verachtung für diesen Ort stieg mit jedem Meter, zusammen mit dem pochenden Kopfschmerz, den der Kampf mit Lianara hinterlassen hatte. Verdammte Blitzdinger. Er hatte sich den richtigen Weg von einer Wache weisen lassen, doch sein Blick schweifte immer wieder über die Türen, die an ihm vorüber zogen, mit ihren Aufschriften für Kommissionen und Ressorts, Büros und Konferenzräume. Ein Tempel des Profanen, gespickt mit Altären der Verweltlichung. Er konnte nur hoffen, dass er bald zusammenstürzen würde, dieser Tempel, zusammen mit seinen ketzerischen Strippenziehern. Wie ihre falschen Gotteshäuser dereinst bereits in Trümmern versanken. Nur zu, Caudecus, Verräter, Häretiker, laufe in dein Verderben. Nimm deinen ganzen Bodensatz mit dir. Möget ihr alle brennen und eure Köpfe verlieren. Und wenn der flüchtige Legatminister schon dabei war, konnten seine weichgespülten Marionetten gleich mit von der Macht fallen. Cunningham, Averon, Ducard, die Starks, alle so ahnungslos im Angesicht der wahren Treue ihres Meisters, und so beschäftigt mit ihrem profanen, teils offen blasphemischen Kuschelkurs, dass sie alles andere zu vergessen scheinen. Für manche von ihnen hatte er einmal Respekt besessen. Das spielte jetzt keine Rolle mehr. Das Ministerium musste weg, so viel stand fest. Und wenn es weg war, wenn es endlich zerbrochen war an dem Hochverrat in seiner Mitte... dann würde die Königin vielleicht endlich erkennen, wie wichtig es war, mit harter und kriegerischer Faust zu herrschen. Sie war von Blutes wegen dazu geboren, auch wenn ihre Jugend sie noch so lange blenden mochte. Dann würde das Heer sich erheben, Balthasars Geist wieder Einzug finden in den Menschen von Kryta. Und wer auch immer dann noch Politiker sein mochte, würde dem göttlichen Befehl folgen.
'Ratsherr Tharissan Jaque Keltim, Ressort für innere Angelegenheiten. Termine nach Absprache.' Vor der dunkelbraunen Holztür blieb der Priester stehen und las im Schein einiger Kerzen die Lettern in dem angebrachten Messingschild. Er hatte weder einen Termin noch sonstige Absprachen vorzuweisen, aber das war in dieser Sache auch zum Besten. Er hob die Rechte, ballte die gerüsteten Knöchel zur Faust und pochte ein Mal kräftig an. Es verstrich nicht viel Zeit, bevor von innen ein gedämpftes "Herein!" erklang.
Dronon drehte den Türknauf und trat ein. Er verschaffte sich einen kurzen Überblick, indem er die Tür hinter sich zudrückte. Ein paar große Schränke und Bücherregale, eine tickende Standuhr mit Efeuranken. Hier ein großer Globus, dort irgendein alberner Uhrwerkapparat, zur Linken eine Sitzecke mit ekelhaft weichen Polstermöbeln. Die schwere Seraphenrüstung auf ihrem Rüstungsständer an der linken Wand nahm der Priester allerdings mit Wohlwollen auf, ebenso wie den großen Wandtteppich auf der andren Seite des Raumes, welcher einen schwertschwingenden Krieger zeigte, der einen Auferstandenen niederstreckte. Die pensionierte Korporalsrüstung fing seinen Blick aber trotzdem am längsten. Immerhin erinnert er sich an seine besten Zeiten.
Keltim selbst sah anders aus als bei ihrer letzten Begegnung, doch wenn man ehrlich darüber nachdachte, lag diese auch schon über ein Jahr zurück. Sein schwarzer Vollbart und die langen Haare waren ab, stattdessen herrschte eine am Kinn spitz zulaufende Rasur vor. Er saß auf einem eleganten Holzthron hinter seinem Schreibtisch. Überrascht hob der Ratsherr beide Augenbrauen, ließ seine Arbeit ruhen und legte beide Hände auf die Armlehnen des großen Lehnstuhles, um sich zu erheben.
"Ehre dem Kriegsgott, Ratsherr.", sprach der Priester, indem er hammer-krückend an den Schreibtisch heran trat. "Ich hoffe, ich störe nicht bei der Ausführung der Pflicht."
"Ehre dem Ministerium, Priester.", antwortete Keltim und bot ihm mit einladender Geste einen Stuhl an. Dann nahm er selbst bereits wieder Platz. "Meine Pflicht besteht aus der Bearbeitung von Anliegen der Bürger Krytas, also auch Euren Anliegen." Ist das so? Wir werden sehen.
"..hrrn. Es ist eine Weile her." Er unterzog die gepolsterten Gästestühle musternder Blicke. Aber sie sahen stabil genug aus. Er lehnte seinen Streithammer an den linken Stuhl, stellte sich vor den rechten und lockerte einige Halteriemen seiner schweren Prunkrüstung.
"Da habt Ihr vollkommen recht. Es ist eine ganze Weile her, ja. Aber wie es scheint und wie man hört, scheint es Euch wieder gut zu gehen, seit dem Vorfall in Löwenstein."
Guter Witz. "Mein Zustand lässt sich als weitestgehend unerheblich beschreiben." Er raffte seine flammenfarbenen Roben und setzte sich breitbeinig hin. Wie immer knarrte der viele Rüststahl harsch auf Holz und Polsterung. "Ich bedaure, dass unsere Kriegsunternehmungen von damals nie Realität werden konnten. Die Zusammenarbeit mit Azat Sardari, nun..." Er winkte ab und schwieg. ...sie war vergeudete Zeit. Wie so Vieles.
"Ja, die sind dann doch irgendwie... im Sand verlaufen." Der Ratsherr nickte unzufrieden und wirkte ehrlich dabei. "Aber nun kann ich immerhin auf andere Art und Weise dem Krieg zollen, indem ich dafür sorge, dass jene, die von ihm gebeutelt werden und sich nicht wehren können, finanzielle Unterstützung erhalten und die Chance, auch in invaliden Zuständen noch dem Land zu dienen." Dronon stellte fest, dass er ihm den Vortrag sogar abkaufte. Immerhin war Keltim selbst ein Kriegsinvalide und brachte entsprechende Argumente mit ins Rennen. "Doch...", fuhr der Ratsherr forschend fort. "...Ihr seid nicht deswegen hier."
"In der Tat nicht." Er stemmte seine Hände links und rechts auf die stählernen Knieschoner. "Mein Anliegen ist denkbar simpel; Ich möchte in Erfahrung bringen, ob es möglich ist, einen Blick ins ministeriale Adelsregister zu werfen."
Abermals war dem Ratsherren die Überraschung anzusehen, als er erst die Augenbrauen hob, nur um sie dann nachdenklich zusammen zu schieben. Und als Keltim dann nach links zu den Bücherregalen sah, wirkte es fast ein bisschen, als weiche er dem Kreuzen der Blicke aus. Es war einer der wenigen Momente im Leben, in denen Dronon ein Schmunzeln unterdrücken musste. Ihm war sofort klar, dass der Mann wahrscheinlich damit gerechnet hatte, er wäre hier, weil er von dem Norn und seinem Zwergenaufstand gehört hatte. Und das hatte er ja auch. Aber Ihr ahnt garnicht, mein Lieber, wie gleichgültig mir dieser Firlefanz ist. Keltim betrachtete noch einen Moment lang die Regale. "An und für sich ist es möglich, dass dies getan werden kann-", sagte er, in auffällig schwammigem Satzbau, "-von anderen Adligen auf Antrag. Oder aber mit triftiger Begründung." Und damit baute er wieder Augenkontakt auf.
Dronon brummte verstehend. Unbewegt fixierte er den Ratsherren, blickte ihm fest in die Augen. Für eine längere Weile. Es war ihm nie schwergefallen, Strenge und Selbstbewusstsein zu wahren, obwohl er völlig improvisierte. Keltim war keiner der Verräter, das hatte er im Gespür. Das bedeutete allerdings noch längst nicht, dass er es sich leisten konnte, offen mit dem Mann zu sprechen. Er nickte knapp auf, fällte seine Entscheidung und... bemerkte mit einem Mal, wie dumm er gewesen war. Er hätte jeden vertrauenswürdigen Adligen fragen können, jeden. Es hätte genügt, Lillian zu kontaktieren. Simpler noch, Driftmark... Stattdessen saß er hier, war mal wieder blindlings vorgestürmt, weil er nicht hatte warten können. Genauso wie er in den Hinterhalt bei Deverol getappt war, und in den bei Tonteich. Nur dass er sich die Falle diesmal selbst gestellt hatte. Er spannte erbittert den Kiefer an, um Keltim keinen Wutschrei ins Gesicht zu brüllen. Doch der Ratsherr beobachtete seine Regungen und hatte die Rage genau gesehen, daran bestand kein Zweifel. "Nun.", grollte Dronon zerknirscht, bevor er seinen Ton unerbittlich festigte. "Ich möchte Euch gegenüber keine Respektlosigkeit an den Tag legen, aber ich werde mein Anliegen für mich behalten." Ein knappes, barsches Schnauben entkam ihm. "Nehmt es nicht persönlich, denn das ist es nicht im Mindesten. Ich bedanke mich für Eure Auskunft."
"Ich fürchte auch, dass ich Euch dann tatsächlich kaum helfen kann." Keltims Hände wanderten an die messingbeschlagenen Kappen seiner Armlehnen. Er zog jetzt ernst die Augenbrauen zusammen. Wie sollte es auch anders sein, er hatte eine perfekte Vorlage für sein Misstrauen erhalten. Dann aber tat der Ratsherr etwas, mit dem Dronon nicht gerechnet hatte. "Es sei denn-", fuhr er fort, "-Ihr würdet mir sagen, dass Ihr den Stammbaum einer bestimmten Adelsfamilie betrachten müsst, weil Ihr denkt ein Mitglied eben jener Adelsfamilie bald bei einem offiziellen Anlass, wie beispielsweise der Rurikhalle, zu treffen und Ihr richtig vorinformiert sein wollt. Wenn Ihr mir soetwas sagen würdet, dann könnte ich Euch wohl weiterhelfen."
Der Priester schwieg einen Moment lang und versuchte seine Perplexion zu verbergen. Sein Gespür hatte ihn nicht getäuscht. Er greift mir unter die Arme. Er fixierte den Ratsherren und ehemaligen Seraphen ganz genau, ohne aus seiner Erleichterung einen Hehl zu machen, hob träge das Kinn und entgegnete: "In diesem Fall... möchte ich ebendies tun, Ratsherr. Abzüglich der Rurikhalle."
"Nun, in diesem Falle kann ich einem Bürger Krytas natürlich nicht die Hilfe versagen, wenn er sich einen peinlichen Moment aussparen möchte-" Der von gerade eben genügt mir in der Tat. "-wenn es zu dem Treffen kommt." Tharissan Keltim erhob sich abermals aus seinem Stuhl und ging hinüber zu den Bücherregalen, erstaunlich frei von Hinken für einen einbeinigen Mann mit Prothese. "Um welche Familie handelt es sich denn, Priester Dronon?"
"Die Familie von Lodenbrink. Genauer gesagt, den Freiherren Tarabas von Lodenbrink."
Nach einer Weile des murmelnden Stöberns brachte der Ratsherr einen von zahllosen Wälzern zum Tisch zurück. Dronon beugte sich nach vorn, um das Buch zu nehmen, doch Keltim hielt ihn mit einer Geste des Zeigefingers an zu warten. Kurz blätterte der Mann vor sich hin, bevor er rasch fündig wurde. "Ah, da haben wir die Familie Lodenbrink.", sagte er schließlich, drehte das Buch und schob es mit einer Erklärung hinüber: "Der Familienstammbaum. An jedem Namen, wie Ihr seht, steht auch eine kleine Zahl. Das ist die Seitenzahl, auf welcher die Geburtsdaten der jeweiligen Person und aktuelleren, wichtigen Dinge stehen, die uns im Ministerium mitgeteilt werden. Wie ein Umzug oder eine Hochzeit."
Der Priester Balthasars überflog fürs Erste nur den Stammbaum. Besonders weitgefächert war er nicht. "Ist es gestattet, sich davon Notizen zu machen?", fragte er.
"Leider nein.", sagte Keltim, nachdem sie sich eine Weile lang in die Augen gesehen hatten. "Und da fiele mir auch kein Grund zu ein, eine Ausnahme zu machen."
"Ich verstehe." Dronon schlug stoisch den Blick nieder, zurück aufs Buch. Während sein Gegenüber sich setzte, studierte er den Stammbaum nun genauer, las den Klappentext und resümierte das Wichtigste. Allem Augenschein nach waren die Lodenbrinks eine überschaubare, kleinadlige Familie ohne großen Landbesitz oder wichtige Titel. 1181 in den Adelsstand erhoben, 1279 von den Zentauren aus dem heutigen Hinterland vertrieben... Er blätterte weiter, überflog ein paar Angaben zu einzelnen Familienmitgliedern und Sonstigem. Viele Details fanden sich nicht, wie Keltims Worte bereits hatten erahnen lassen. ...Birnenstraße 6, Vogtei Beetletun... Schlussendlich studierte er die letzte Seite unter dem Namen Tarabas Wilhelm von Lodenbrink. ...Unverheiratet, alleiniger Erbe... Dann sah er das Kreuz, und daneben die Jahreszahl 1328. Als er zur Überprüfung nochmals den Stammbaum aufschlug, fand er seinen jähen Verdacht bestätigt. Die Adelsfamilie Lodenbrink war vor einem Jahr erloschen. Ausgestorben. Freiherr Tarabas war der letzte von ihnen gewesen. Sieh an, was für ein Zufall. Es war beinahe zu einfach gewesen, und das stimmte ihn misstrauisch.
Nachdem er noch eine Weile lang alles studiert und sich das Wichtigste eingeprägt hatte, schlug er das Buch mit klackernden Panzerfingern wieder zu und schob es mit einem Nicken zurück über den Tisch. Dann stemmte er beide Fäuste auf die gepanzerten Oberschenkel und hievte sich geräuschvoll in den Stand. Er hatte alles erledigt, weswegen er hergekommen war, und für belangloses Geplauder war keine Zeit. "Ich danke Euch.", sagte er somit nur, zog die vormals gelockerten Riemen wieder fest und griff sich den Hammer. "Ihr habt dem Königreich einen Dienst getan, der über Eure Pflichten hinausgeht."
"Dann hoffe ich, dass Ihr für Euer Treffen auf dem offiziellen Anlass gewappnet seid.", sagte Keltim, der ihn schweigend bislang beobachtet hatte, indem er sich ebenfalls erhob.
"Das gedenke ich zu sein.", antwortete der Priester entschlossen. Dann reichten sie sich die Hände.
Draußen auf dem Flur brütete er über den Ergebnissen seines Abstechers. Im Passieren grollte er einen flüchtigen Gruß gen irgendeines bärtigen Schnösels, der höfisch den Zylinder vor ihm zog. Doch allmählich schienen die Gänge des Ministeriumsgebäudes sich zu leeren. Er hatte heiklen Boden betreten, das wurde ihm stetig klarer; Boden für den er als Priester nicht ausgebildet war. Es war eine Sache in die Schlacht zu ziehen und Ketzer zu verfolgen, doch eine gänzlich andere, auf bürokratischer Ebene herumzuschnüffeln. Ich bin kein verdammter Kriminalist. Das hatte er schon immer zu sagen gepflegt. Vielleicht hatte er es sich nie klar genug gemacht. Mitmal war er froh, dass sein Getrampel heute nicht dafür gesorgt hatte, die Nachforschungen der anderen zu ruinieren. Zumindest konnte er mit Gewissheit sagen, dass es in diesem weltlichen Sündenloch noch ein paar mehr gute Seelen gab, als er angenommen hatte.
Aber das änderte Nichts. Vor allem Nichts daran, dass er nun zügig agieren musste, bevor die Information seines Besuchsgrundes vielleicht doch die Runde machte. Der Weiße Mantel konnte überall sein.
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