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Wintertag war gekommen und allmählich auch wieder gegangen. Wie jedes Jahr. Der Feldwebel war - wie das Jahr davor, und das Jahr vor diesem; Ja, wie jedes Jahr - allein gewesen. Er war den Zeremonien fern geblieben, ebenso der kompanieinternen Feier. Hatte seine Familie in Tonteich nicht besucht. Billige Huren und gluckernde Flaschen hatten ihm die meiste Gesellschaft geleistet, und mit letzteren hatte er bedeutend mehr Worte gewechselt. Die Arbeit der Seraph-Wache schlief über Wintertag ebenso wenig. Wenn er völlig ehrlich mit sich selbst war, war das das Einzige, was er an alldem wirklich bereute. Seine Zeit auf ein Neues mit fruchtloser Kriminal- und Aktenarbeit vergeudet zu haben. Ein einziger Lichtblick, flüchtig aber real, hatte sich seiner ermächtigt, zwei Wochen zuvor, als der Flug eines Bolzens die Welt wieder gerade rückte. Ihm Hoffnung gab. Eine Hoffnung die, heimlich, still und leise, mit den Stunden der späteren Befragungen und Nachbesprechungen, so flüchtig wieder zerbrach, wie sie zuvor erstrahlte. "Musstet Ihr denn wirklich schießen?", hatte man ihn gefragt, "Seid Ihr Euch der heiklen Lage bewusst?" und "Rechtfertigte sein Verhalten den Eingriff?". Gesichter. Namen. Offiziere, Agenten. Schall und Rauch. Genickt hatte er, bejaht und kooperiert, und als sie fertig waren war er heimgegangen und hatte getrunken, hatte es sich besorgt, wie er es sich später auch besorgt hatte, nachdem er Finchs Gesicht in die Scheiße presste. Hinterher hatte er sich beide Male leer und bestimmungslos gefühlt. So wie immer. Es war ihm manchmal ein Rätsel, wie gerade er so sehr das vermissen konnte, was einmal gewesen war. Als er noch mittendrin gewesen war, wann immer es um Leben oder Tod gegangen war, dann hatte ein Mann namens Vectus Hadrick an Nichts mehr gesetzt als daran, möglichst schnell und unbeschadet durch die Sache hindurch zu kommen. Mehr als nur ein Mal hatte er sich vor Todesangst in die Hose gepisst, in den frühen Jahren. Jetzt wollte sein Hirn ihm weismachen, dass er das geliebt hatte. Dass er, vielleicht, zu Nichts anderem mehr taugte. Oder taugen wollte.Seraph-Feldwebel Hadrick beendete sein lustloses Bummeln über die letzten Nachwehen quietschbunter Wintertagsmärkte, wo er ohnehin nur Glühwein gesoffen und mit seinem Anblick Leute vertrieben hatte, und fand seinen Weg zurück in die tristeren Gassen des Salma-Viertels. Er hatte früher Schluss gemacht, seine Ausrüstung auf der Dienststelle gelassen und sich auf Umwegen in zivil zu seinem Rückzugsort aufgemacht. So konnte er wenigstens sicher sein, dass er nicht spontan für einen Notfall schuften musste. Doch Ruhe wollte ihm wohl trotzdem nicht vergönnt sein. Als er es sah, wurde ihm klar, dass er es gleich hätte wissen müssen. Auch das Gasthaus war natürlich noch mit Girlanden und Tannenzweigen behangen, mit buntem Kitsch und Symbolen Grenths und Dwaynas gleichermaßen. Obwohl der bunte Kitsch deutlich überwog. Der Lärm der Zechenden dröhnte wirr zur Tür hinaus auf die Straße. Lachende Trunkenbolde torkelten draußen umher, einem peinlichen Heimweg entgegen, an den sie sich am nächsten Morgen nicht erinnern würden. Auch der Feldwebel war etwas betrunken, aber nicht so betrunken wie er hätte sein können. Er hatte sich in Zeiten der Flasche immer schon als Säufer verstanden, der seinen Zustand zu verbergen wusste, wenn er darauf Wert legte. Heute legte er auf Nichts besonderen Wert. Aber seine Schritte trugen ihn nach kurzem Verharren trotzdem so aufrecht weiter wie einen nüchternen Mann.
Knapp schniefend glitt er durch die Tür, wickelte den Schal ab, den er seit dem verschneiten Pavillon-Viertel getragen hatte und schob sich durch den überfüllten Schankraum. Ringsum wurde gegrölt und gelallt, Humpen und Schnapsgläser wanderten an Stammtischen in die Höhe und dann an die gierigen Münder. Hadrick schnalzte genervt mit der Zunge und drängte sich mit der Schulter durchs Gewühl, stieß dabei grob genug gegen einen Mann, dass dieser sich streitlustig zu ihm umdrehte, nur um es sich dann anders zu überlegen, als er sein Gesicht sah. Bailey tauchte plötzlich vor ihm auf, in diesem braunen Mieder, das ihre Brüste so nett betonte. Ein Knutschfleck prangte auf der rosigen Wange der Schankmaid und sie balancierte mehrere schäumende Bierhumpen zwischen den Trunkenbolden hin und her. Der Feldwebel fragte sich, auf wie vielen Schößen sie heute schon gesessen hatte, hinter wie vielen Ecken sie schon verschwunden war. Auch bei ihm verdiente sie sich ab und an etwas dazu, seit sie wusste dass er nicht mit Geld knauserte. Dass er sie dabei ihres Ekels wegen stets nur von hinten sah, störte ihn nicht sonderlich. Als sie ihn bemerkte, strahlte Bailey ihm ein braves Lachen entgegen, von dem er wusste dass es nicht echt war, und lehnte sich hinüber, um ihm über den Lärm ein paar Worte zuzurufen. Dabei deutete sie umständlich mit ihrem Zeigefinger in Richtung Obergeschoss, in Richtung seines Zimmers, ohne auch nur einen Tropfen zu verschütten. Er verstand kein Wort, die Geste allerdings schon.
"Komm dann einfach hoch!", rief er zurück. Und da sie ihn wahrscheinlich auch nicht gescheit hörte, klatschte er ihr im Vorübergehen mit der Hand aufs Hinterteil. Dann war er endlich an der Treppe, und mit jeder genommenen Stufe wurde das lärmende Stimmgewirr etwas weniger penetrant. Aber es war noch laut genug, um trotzdem das halbe Gebäude zu erfüllen. Hadrick atmete auf, strich sich eine graue Haarsträhne aus der Stirn und nickte auf dem Gang einem alten Kerl mit Hut zu, den er am Abend zuvor schon gesehen hatte.
Die Tür klemmte wie immer, aber als er aufgesperrt hatte, schob er sich stöhnend hinein, machte mit knallendem Schwung hinter sich zu und lehnte sich gegen den Türrahmen. Als würde das Gewicht von Äonen auf seinen Schultern lasten. So fühlte er sich. Oder vielleicht begann er auch nur zu spinnen, ließ sich von der generellen Stagnation erdrücken. In der Dunkelheit sah er nur die leeren Bierflaschen unterm Tisch liegen und zischte abfällig. Schloss für einen Moment die Augen. Ließ seinen Kopf für einen Moment einfach nach hinten sinken.
"Hallo, Vectus."
Er zuckte so heftig, dass er sich den Kopf stieß, fluchte, zappelte, die Augen schlagartig wieder aufgerissen. Sein Schal fiel zu Boden. Desorientiert schnellte er ein Stück nach vorn, blinzelte verbissen. Viel zu spät griff er nach seiner Klinge. Rechnete mit einem Angriff. Es kam keiner. Seine Knöchel traten weiß hervor, den Messergriff noch gepackt.
Ein Mann saß in seinem Zimmer. Eine gedrungene, kräftige Gestalt auf einem der Stühle, etwas tiefer in den Raum gerückt. Allem Anschein nach hatte man hier auf ihn gewartet, ihm aufgelauert. Hadricks Herz hämmerte wie wild, aber aus unerklärlichen Gründen verspürte er keine Furcht. Der Fremde hatte das Format eines Schlägers, besaß kaum noch einen Hals. Doch seine ordentliche Jacke und das gründlich kurz getrimmte Haar ließen den Feldwebel bereits ahnen, dass es kein gewöhnlicher Schläger war. Das, und die merkwürdige, gebogene Axt, die auf seinem Schoß lag.
"Wer bezahlt dich, du Wichser.", zischte der Feldwebel und schob sich mit der Hand am Messer nach rechts, weg von dem Eindringling, in Richtung des kleinen Schreibtisches an der Wand. "Die Finch? Vielleicht dieser Kreuzstein, der unbedingt meinen Namen wollte?"
"Niemand hat mich bezahlt." Eine tiefe, aber gewöhnliche Stimme. Ruhig und entschlossen.
"Scheiß auf dich! Wer hat dich hier reingelassen? Rühr' dich bloß keinen Millimeter!"
Tatsächlich bewegte der Kerl sich nicht vom Fleck, blieb auf dem Stuhl sitzen und hob langsam die Hände von der Axt fort. Das war gut, denn Äxte machten den Feldwebel stets nervös. Sein vernarbtes Gesicht begann zu jucken. Wobei er nicht mit Sicherheit sagen konnte, ob es denn tatsächlich eine Axt war. Er hatte eine solche Waffe noch nicht zu Gesicht bekommen. Der Griff war zu lang für ein Schwert und zu kurz für eine Wuchtwaffe, das nach unten und oben verlängerte Axtblatt glich beinahe mehr einer schweren Säbelklinge. Ein rasiermesserscharfer Haken krümmte sich auf der anderen Seite des Waffenkopfes. Die Augen des Besitzers schimmerten in der Dunkelheit, und im leichten Lichteinfall der auf die Straße gerichteten Fenster konnte der Feldwebel erkennen, dass das Haar des Mannes genauso frühzeitig ergraut war wie sein eigenes, nur radikal kurz geschnitten statt lang gewachsen, an den Kopfseiten auf bloße Stoppeln abrasiert.
"Wer hat dich REINGELASSEN!?", keifte er nochmals, lauter jetzt.
"Die freundliche Schankmaid."
"Was?"
"Die Schankmaid hat mich reingelassen.", wiederholte der stämmige Fremde, und seine ruhige, feste Stimme klang erschreckend ehrlich. "Ich sagte ihr, ich besuche meinen kleinen Bruder und will ihn überraschen." Er zuckte mit den Schultern. "Die Wahrheit."
"Willst du mich verarschen, Kerl?! Meine Brüder wohnen alle in Tonteich, und du Arschloch bist keiner von der Meute!"
Zur Antwort lehnte der betagte Schläger sich nach vorn, stemmte die klumpigen Hände auf seine Knie und reckte das grimmige Antlitz besser ins Licht. Dem Feldwebel wurde klar, dass er Bailey gehörig missverstanden hatte. Die kantigen Züge wiesen auf einen Mann in seinen Vierzigern hin, zählten vielleicht ein paar Jahre mehr als Hadricks eigene, nur weniger entstellt. Ein Gesicht, so grobschlächtig wie der gedrungene Körper. Ein starkes Kinn, eine platte Nase, leicht abstehende Ohren. Nur die Wangen waren etwas eingefallen, als hätte er kürzlich hungern müssen. Das Gesicht war ihm fremd. Aber an diesen kleinen, fahlen Schweinsäuglein war etwas, dieser Blick, dieser stumpfe Blick... Und dann wusste er Bescheid. Es fiel ihm wie Schuppen von den Augen.
"Oby?", hauchte er ungläubig.
"So hat mich schon lange keiner mehr genannt." Sein Bruder war alt geworden. Vielleicht war das der größte Schock. Bis heute hatte Vectus nur noch das Bild des vierundzwanzigjährigen Obadiah Hadrick vor Augen gehabt, wie er wild in seinen Sachen wühlte und einen Monat später auf Nimmerwiedersehen verschwunden war. Wie die Kameraden ihn deswegen befragt hatten. Wie er später das Gesicht seines Bruders auf Fahndungsplakaten sah. Er hatte es vergessen, dieses Gesicht, wie es damals ausgesehen hatte. All das war so lange her, dass es sich surreal anfühlte. Aber er musste sich eingestehen, dass die Jahre mit diesem Gesicht gnädiger gewesen waren als mit seinem eigenen. Es schien fast, als könne Obadiah seine Gedanken lesen. "Ich wollte nicht glauben, wie übel sie dich zugerichtet haben.", sagte er. "Aber ich schätze, jetzt weiß ich's."
"Ja.", sagte der Feldwebel. Sein Kopf fühlte sich leer an. "Jetzt weißt du's."
Angespanntes Schweigen entstand. Obadiah blieb nach vorn gelehnt und schien sich beinahe zu verrenken, um seine seltsame Axt auf dem Schoß nicht anzurühren. Seine ernsten Gesichtszüge waren irgendwie versteift, fast erwartungsvoll. Wie ein Wilder, der gerade zum ersten Mal seine Beute teilt und nun darauf wartet, ob sein Gegenüber das Futter auch mag. Ob sie gemeinsam fressen können, oder Rivalen werden. Vectus war sich nicht sicher, ob das irgendeinen Sinn ergab. Er registrierte jedoch, dass er selbst noch immer den Griff der Klinge umklammerte, ohne sie gezogen zu haben. Aber auch nachdem er sich zwang loszulassen, blieb die Situation unverändert. Er engte die Augen zu Schlitzen und schob sich noch ein Schritt rückwärts. Keine Veränderung. Auch nachdem er sich vom Schreibtisch die Öllampe gegriffen und sie mit einem langen Zündholz entfacht hatte, saß dort immer noch sein Bruder und starrte ihn an. Älter, härter und völlig fremd, aber real nichtsdestotrotz.
"Warum bist du hier?", zischte der Feldwebel. "Warum jetzt. Nach all den Jahren."
Obadiah verzog angestrengt das Gesicht und rutschte in seinem Stuhl umher, bevor er wieder still saß. "Um dir zu helfen."
"Und welche Hilfe sollte das sein?" Es war merkwürdig, wie wütend und verächtlich seine eigenen Worte klangen, und Vectus hätte nicht sagen können warum sie das taten. Aber allmählich fiel ihm auf, was mit dem Mann nicht stimmte, der dort in einigen Metern Entfernung vor ihm saß. Er sah nicht aus wie ein Gesetzloser. Er sah nicht aus wie eine gescheiterte Existenz, die nach Jahren der totgeglaubten Ausschweifung wieder angekrochen kam, um Vergebung zu erflehen. Er sah aus wie ein Soldat. Langsam atmete der Feldwebel durch Nase, beschaute sich nochmals die fremdartige Waffe. "Wer bist du, Oby?"
"Das wirst du bald herausfinden. Was jetzt zählt, ist dass du dir einflussreiche Feinde gemacht hast, und dass ich-"
"Du bist beim Weißen Mantel, nicht wahr?"
Gedrücktes Schweigen.
"Heilige Scheiße, du bist einer von denen."
"Nimm das Wort heilig nicht in den Mund, während du selbst in Ketzerei schwelgst!", schnauzte der Kerl dort auf seinem Stuhl plötzlich, und hatte mit seiner starren, eifrigen Art plötzlich so gar nichts mehr mit dem jungen Mann gemeinsam, den Vectus gekannt hatte. "Ich bin hier um dich zu retten, kleiner Bruder."
"Kleiner Bruder nennt er mich!" Der Feldwebel drehte ab, mit abfälligem Lachen, das trotzdem verzweifelt war, warf die Arme über den Kopf und stiefelte unruhig zum rechten Fenster des Gasthauszimmers hinüber. Dann wandte er sich direkt wieder herum, um Obadiah anzufauchen: "Du bist immer noch genauso dumm wie früher. Womit hast du gerechnet, dass ich dir um den Hals falle? Du bist ja so ein richtiger fanatischer Spinner! Was soll ich jetzt machen, heh? Verpiss dich! Du bist ja bekloppt hier." Er zeigte ihm den Vogel. "Verpiss dich, los! VerpissdichVERPISSdich! Ich liefer' dich aus, ich schwör's dir. Dich und deine Ministeriums-Schwanzlutscher, du. ICH LIEFER' DICH AUS!"
"Denk nicht mal dran, nach der Armbrust unterm Lattenrost zu greifen, Vectus." Erst jetzt bemerkte der Feldwebel, dass er rasant auf sein Gegenüber zu gestiefelt war und nun direkt neben dem Bett stand, an dessen Ende Obadiah seinen Stuhl aufgestellt hatte. Aus Richtung Tür war Nichts zu hören außer dem dumpfen Dröhnen des Wirtshauslärmes. Man hörte sie hier oben nicht einmal. Der Mann, der vor langer Zeit sein Bruder gewesen war, hatte die Beschimpfungen ausdruckslos über sich ergehen lassen. Ein irrer Dummkopf mochte er sein, aber er ging offenbar nicht völlig blind durchs Leben. "Ich will dir nicht wehtun. Aber ich werde es, wenn ich muss."
"Bedrohst du mich?"
"Ich bin nur ehrlich mit dir. Und ich gehöre nicht zu Caudecus' Bücklingen."
Der Feldwebel fuhr sich mit der Rechten durchs narbig entstellte Gesicht. Atmete tief durch. Schüttelte den Kopf. "Du lügst. Leg' jetzt deine Waffe auf den Boden."
"Ich spreche die Wahrheit.", beharrte Obadiah, der keine Anstalten machte, seine Axt niederzulegen. Oder überhaupt nach ihr zu greifen. "Ich diene nur einem wahren Meister. Lazarus, dem letzten Mursaat. Meinem Gott. Deinem Gott, Vectus."
Heftig schüttelte der Seraph seinen Kopf. Noch immer war er außer sich, aber sein Ärger blieb ihm befremdet im Halse stecken. Er konnte kaum glauben, wozu sich sein Abend gerade entwickelte. "Was faselst du für einen Irrsinn, Oby?"
"Ich reiche dir eine Hand." Obadiahs Finger verkrampften sich, in hartem Griff um die Knie gekrallt. Seine Augen leuchteten mit einem inbrünstigen Eifer, den der Feldwebel zuvor nur in denen des Priesters Dronon gesehen hatte. Und er wusste nicht, ob ihn das verblüffen oder entsetzen sollte. Vielleicht beides. "Komm' in Seine Arme, Vectus. Finde Erlösung. Du hast ein Mitglied des Ordens getötet, und wenn du vor Caudecus' Verrätern sicher sein willst, dann komm mit mir. Weg von..." Eine straffe Geste durch den Raum. "...all dem hier!"
"Du bist ja völlig übergeschnappt."
Daraufhin schwieg Obadiah, starrte ihn an. Enttäuschung funkelte nun in diesen kleinen, tückischen Augen, die genauso fahl waren wie Vectus' eigene. Aus Enttäuschung wurde ein Funken von Zorn, und aus Zorn wurde fatalistische Akzeptanz. Aber die Enttäuschung selbst hielt sich als spürbares Nebenprodukt.
"Lass mich dich nur eines fragen.", raunte Vectus schließlich, und sie sahen einander an. "In unserem Scheitern am Vaterland, Bruderherz... wer von uns ist tiefer gefallen?"
"Ich diene keinem Land mehr, das nicht zu retten ist.", fauchte sein Bruder. "Ich bin ein Ritter des Weißen Mantels. Und ich folge dem tugendhaften Pfad meines Gottes in die Ferne! Raus aus dem ganzen Scheiß!"
"Raus aus dem ganzen Scheiß..." Der Feldwebel ließ die Schultern hängen und atmete schwer. Mehrfach am Stück. Die Finger seiner Rechten wollten nicht mehr stillhalten, begannen zu zucken. Die Jahre hatten ihn gelehrt, seine Schwäche hinter den Rücken zu zwingen. Aber jetzt ging es nicht mehr. Er sah einen Hoffnungsschimmer in Obadiahs Augen, der sich gerade erhob, seine seltsame Axt seufzend unter den Gürtel schob und in versöhnlichem Grimm auf ihn zutrat. Sein Bruder streckte die rechte Hand nach ihm aus, zögerlich. Vectus fuhr sich mit zitternden Fingern über die vernarbte Stirn, strich einige lose Strähnen hinters Ohr. Erst dann blickte er seinem Bruder wieder entgegen. "Ich würde eher dem Legatminister folgen-", schnarrte er, "-als deinem beschissenen Gott."
Dem Mantel-Ritter fiel Alles aus seinem harten Schlägergesicht. "Du wagst es..." Vectus ließ ihn nicht aussprechen.
"Ich habe diesen Mann getötet.", lachte er schnarrend. Er konnte nicht anders, als zu lachen. Es war alles so absurd. So lächerlich. So vollkommen restlos durchgeknallt. Er war verzweifelt und wollte noch immer glauben, dass er jeden Moment aus einem Fiebertraum erwachen würde. Also lachte er. Gackerte. Das war alles, was ihm noch einfiel. "Ich habe ihn abgeschossen, diesen dreckigen Ministerialen. Rot und Weiß. Haha. Rot und Weiß, das gibt Pink. Mach Quiek, kleines Schweinchen. Thahaha. Weißt du warum, Oby? Warum ich ihn getötet habe? Weil ich LUST DRAUF HATTE!" Schrill und heiser keifte er ihm das entgegen, und das Lachen war ihm vergangen. Er fegte die noch immer erhobene Hand Obadiahs beiseite. "Er ist mausetot. Ist mir scheißegal. Und weißt was? Du bist mir auch scheißegal. Du bist genauso tot. Für mich bist du schon vor über zwanzig Jahren gestorben!"
Obadiah stieß ein rasendes Brüllen aus, und damit war alles gesagt.
Im nächsten Moment griff der Ritter des Mantels nach seiner Waffe, die er gerade erst fortgesteckt hatte, doch der Soldat der Krone war schneller. Nur nicht schnell genug. Das Messer fuhr mit blitzendem Stahl aus der Scheide, aber Obadiah hatte schon von der Axt abgelassen und fiel ihm ins Handgelenk. Vectus fauchte, als sein Bruder ihm linkshändig den Arm zur Seite bog, und Obadiah knurrte zurück. Schreiend holte der Feldwebel mit links aus und schlug seinem Bruder zweimal die Faust ins Gesicht, aber der war ein zäher Hund. Zähnefletschend fegte der stämmige Kultist den dritten Angriff beiseite, die Oberlippe blutig, und verpasste ihm einen derben Hieb in die Magengrube, dass dem Seraphen keuchend der Atem wegblieb. Japsend krümmte er sich, aber Obadiah drückte ihn direkt wieder hoch und setzte eine Kopfnuss hinterher, ohne seine Rechte loszulassen, und so taumelten sie miteinander durch den Raum. Kurz prallten sie zusammen gegen die Wand, und Vectus wurde sich schmerzlich gewahr dass noch immer der Alkohol in seinem Kopf pochte, aber dann riss Obadiah schon wieder die Kontrolle an sich. Sie schnaubten und zischten sich an, die Zähne gebleckt wie Tiere, die Augen voller Hass und Frust und Hektik, während sie miteinander rangen. Sein Bruder war breiter und ein Stück größer als er, hatte vielleicht nicht die nimmermüden Rückenmuskeln, die der Dienst am Langbogen dem Feldwebel verliehen hatte, aber seine knorrigen Arme waren die stärkeren. Schroffe Finger schlossen sich um Vectus‘ Hals und begannen zu drücken, und er revanchierte sich gurgelnd mit einem Knie zwischen die Beine. Er hörte seinen Bruder nach Luft schnappen, und im nächsten Moment konnte er wieder atmen; Dann explodierte sein Schädel in grellen Lichtfunken, und er stürzte mit einer halben Drehung zu Boden, während sein Messer über den Boden schlidderte.
Der Fausthieb hatte so hart gesessen, dass die Benommenheit zusammen mit dem vielen Glühwein, den er getrunken hatte, ihm beinahe völlig die Sicht raubte. Aber er konnte verschwommen erkennen, wie Obadiah wieder nach seiner Axt greifen wollte, und trat blindlings nach oben aus. Er traf, irgendwie, und der Sektenspinner, der den Körper seines Bruders gestohlen hatte, ging über ihm zu Boden. Vielleicht warf er sich auch mit Absicht auf ihn, das spielte keine Rolle mehr. Sie rollten in einem wilden Handgemenge über den Boden, hin und her und her und hin, und er stieß sich alle möglichen Körperteile, während er nicht mehr wusste wo unten und oben war. Schließlich war er wieder unten, auf dem Rücken, neben ihm stürzte ein Stuhl um und sie lagen unter dem Esstisch. Er umklammerte Obadiahs Rechte, die sich seines Messers ermächtigt hatte und gnadenlos abwärts drückte. Die Klinge bewegte sich langsam auf seinen Brustkorb zu, während Vectus zitternd vor Anstrengung dagegen hielt.
"Es tut mir leid.", schnaufte Obadiah, aber sein grobschlächtiges Gesicht war kalt und die Augen mörderisch, halb erhellt vom flackernden Licht der Öllampe, halb verdunkelt im Schatten unter der Tischkante. "Aber du lässt mir keine Wahl."
"Hilfe", krächzte Vectus.
"Du lässt mir keine Wahl!"
"HILFE!", schrie er aus vollem Halse, kaum dass er die Luft dazu fand, ganz gleich wie albern und brüchig er dabei klang. Unten im Schankraum wurde noch immer gelärmt und gezecht. "HILFE!"
Obadiah fletschte die Zähne und wollte ihm die linke Hand über den Mund schieben, aber die kleine Störung im Gleichgewicht der Kräfte genügte bereits, damit Vectus das Messer einen Deut beiseite zwingen konnte. Sein Gegendruck war dahin, und kalter Stahl biss mit einem brennenden Schmerz in seine linke Schulter, färbte die Weste schwarzrot, aber der Seraph merkte es nur dumpf. Er kämpfte um sein Leben, und Nichts anderes war mehr wichtig. Er biss knirschend nach Obadiahs Fingern, und der Mantel-Ritter zog fluchend die Hand weg. Vectus krümmte sich nach oben, das Messer trieb sich tief in seine Schulter, und er schnappte nochmals zu. Seine Zähne schlossen sich um etwas Knorpeliges, und er riss wie wahnsinnig mit aller Macht daran. Warmer, feuchter Eisengeschmack strömte in seinen Mund, und dann hatte er Obadiahs linkes Ohr abgebissen und spuckte es prustend aus. Sein Bruder schrie wie von Sinnen, jaulte, blind vor Schmerz, und Vectus stieß ihn von sich, die Klinge glitt aus der Stichwunde. Er atmete hektisch, war in Panik. Ihm wurde schlecht. Er würgte. Bittere Galle vermischte sich mit dem Blut im Mund, und er spuckte aus, kroch auf allen Vieren, griff nach dem nächstbesten Gegenstand und rappelte sich auf, riss polternd den Esstisch zwischen ihnen um. Bierflaschen zerschellten. Der Becher mit seinen Dartpfeilen schlidderte vorüber, und der Feldwebel bekam eines der kleinen Wurfgeschosse zu fassen und warf es nach Obadiah, ohne darüber nachzudenken. Er traf den Brustkorb, aber der Dartpfeil bohrte sich nur oberflächlich durch die robuste Jacke des älteren Hadrick, ließ ihn nicht einmal zucken.
Der Ritter hatte sich auf ein Knie hochgekämpft, das verzerrte Gesicht rot vor Schmerz und Wut, während er sich mit links die heftig blutende Schädelseite hielt. Vectus taumelte weiter zum Schreibtisch im Eingangsbereich, schnappte sich die Öllampe und schleuderte auch diese. Er hörte sie zerschellen und Flammen leckten empor, während Obadiah brüllte, aber der Feldwebel hatte sich schon zur Flucht abgewandt. Er ruckelte wild am Türknauf, und die Götter schienen ihm gnädig zu sein, dass das Schloss heute nicht lange klemmte. Er riss die Tür auf, hing noch keuchend im Rahmen, verletzt und zerprügelt. Dann erstarrte er.
Auf dem Flur stand der Alte mit dem Hut, nicht weit entfernt von der Stelle, wo er zuvor an ihm vorüber gegangen war. Sein gestutzter weißer Vollbart, noch von letzten schwarzen Striemen durchzogen, verzerrte sich um ein diebisches Schmunzeln. Ruchlose Augen blitzten in dem faltigen Gesicht, und eine Klinge in der Hand. Von links kam eine zweite Gestalt über den Flur geschnellt, vermummt und bewaffnet. Der Feldwebel nahm sich nicht die Zeit, genauer auf die Waffen zu achten, federte ruckartig ins Zimmer zurück. Die beiden Attentäter setzten ihm nach, aber er knallte ihnen die Tür vor der Nase zu.
Im Zimmer brannte es. Das Feuer hatte den Esstisch bereits völlig erfasst und breitete sich knisternd über die Dielen aus. Der Gestank nach Öl und kokelndem Holz stach in die Nase. Hinter ihm ruckten die Meuchler an der klemmenden Tür. Vor ihm stand Obadiah. Rings um den Ritter des Weißen Mantels fauchten Flammenzungen, aber irgendwie war es ihm gelungen, nicht selbst in Brand zu geraten. Er stand nur da und starrte ihm in die Augen, mit schweißglänzender Stirn und blutendem Schädel, wo sein Ohr gewesen war. Bitter, aber entschlossen. Eine Sekunde fühlte sich an wie eine Minute, wie eine ganze Stunde. Er griff wieder nach der Axt. Vectus fasste einen Entschluss.
Die Tür flog auf, während er sich in vollem Lauf gegen seinen Bruder warf, und sie taumelten abermals im Ringkampf durch den Raum. Durch Feuer und verlorene Lebenszeit. Einmal in Fahrt, waren sie nicht mehr zu stoppen. Obadiah jedoch erwies sich wieder als der Stärkere, wirbelte ihn schwankend herum und schnaubte. Im nächsten Moment war alles erfüllt von lautem Klirren, und sie stürzten durch einen Scherbenregen in die kalte Dämmerung hinaus. Über Obadiahs Schulter hinweg sah er eine Gestalt im geborstenen Fenster auftauchen, während er fiel. Dann kam auch schon die Straße, und der Rest war Schmerz. Ein scharfes Knacken. Sein linkes Bein zuckte verdreht auf dem Kopfsteinpflaster, das Gewicht seines Bruders lastete über ihm und er schrie sich die Seele aus dem Leib. Ringsum kamen laute Stimmen auf, und jetzt lachten sie nicht mehr. Schritte hetzten über den Bordstein. Als er die tränenden Augen wieder aufschlagen konnte, sah er am Fenster nur noch Rauch und Feuer, und Obadiah war fort.
Wintertag war gekommen und allmählich auch wieder gegangen, und der Feldwebel war allein.
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