Armien schlidderte mit rudernden Armen ums Eck und rannte weiter. Er rannte so schnell seine Beine ihn tragen konnten. Rennen, das war überhaupt alles, was noch zählte. Vielleicht alles, was er je wirklich gelernt hatte. Nun war es zu spät, noch einmal neu anzufangen. Die Nacht war kühl, aber seine Lunge brannte vor keuchenden Atemstößen. Er hatte das Ossa-Viertel inzwischen hinter sich gelassen, war eingetaucht in die engen Gassen zwischen den herkömmlichen Fachwerkbauten des Salma-Viertels.
Mit ein wenig Übung war das menschengemachte Dickicht der Bordsteine und Wegbiegungen, der Dachschindeln und Straßenlaternen nicht so viel anders als echter Dschungel. Man fand sich darin zurecht, wenn man nur lange genug davon umgeben war. Aber es führte einen genauso schnell in die Irre, wie man zu glauben begann, es zu in- und auswendig zu kennen. Was also hatte er geglaubt? Die Frage konnte er sich nicht länger beantworten. Er warf einen Blick über die Schulter, hinweg über die Menschen, an denen er vorüber gewetzt war. Aber Nichts. Weiter, bloß weiter. Vor der nächsten Weggabelung bremste er kurz ab und drehte den Kopf hektisch in alle Richtungen. Links ging es tiefer ins Gewirr der Gassen, rechts weiter in Richtung Marktplatz. Die Entscheidung traf sich quasi von selbst. Er stürzte sich ins Dunkel, japsend vor Anstrengung.
Schließlich wurde er langsamer und fand eine Nische, lehnte sich neben den stinkenden Inhalten eines ausgeschütteten Nachttopfes ans schlecht verputzte Gemäuer. Hier erst schloss er die Augen und atmete nur noch heftig. Atmen, das war überhaupt alles, was noch zählte. Vielleicht alles, was er je wirklich gelernt hatte. Die Nacht war jung, und die Stadt schlief noch nicht völlig. Er hörte raues Gelächter aus einem nahen Hinterhof. Er hörte im Haus eine Katze fauchen und einen alten Mann fluchen. Er hörte durchs offene Fenster ein Bett quietschen, in dem zwei Menschen stöhnten. Aber keine Schritte auf dem Straßenpflaster. Schnaufend drückte er sich von der Wand ab und rutschte fast in der Scheiße aus, aber das war ihm inzwischen völlig egal.
Auf leisen Sohlen schob er sich tiefer in die schmale Gasse und wagte einen weiteren Blick über die Schulter, gen des matten, aber konstanten Laternenlichtes aus Richtung Straßenmündung. Sein Herz setzte aus; Ihm war schier unbegreiflich, wie ein sterblicher Mensch sich in Rüstung so lautlos bewegen konnte. Aber das Blitzen zweier ganz bestimmter Farben sprach für sich selbst. Armien wirbelte herum und rannte weiter, riss im Passieren eine Wäscheleine hinter sich nieder und sprang über einen morschen Lattenzaun. Er drückte sich zwischen ein paar eingepferchten Schweinen hindurch, die laut zu grunzen begannen.
In der benachbarten Gasse stieß er mit einem Mann zusammen. "Eeehhh!", grölte der andere und wollte ihn in die Arme schließen. "Mag'su mir ein' ausgeb'n? Mann, 'ch bin so dich..dichd.." Sein Atem stank nach Schnaps.
"Später.", log Armien und machte sich knurrend los. Lügen, das war überhaupt alles, was noch zählte. Vielleicht alles, was er je wirklich gelernt hatte. Der Kerl lallte ihm irgendetwas hinterher, aber Armien war bereits zehn Meter weiter, bevor er überhaupt Notiz davon nahm. Er blickte nicht zurück. Sein Herz hämmerte so wild, als ob es jeden Moment durch seine Rippen bersten wollte. In seinem Kopf regierte das Chaos. Helena hatte ihm stets gesagt, wie klug er war, und er war auch der Überzeugung gewesen, klug zu sein. Aber in Wahrheit war er dumm gewesen. Furchtbar dumm. Und jetzt bezahlte er den Preis dafür. Als er zum Haus im Ossa zurückgekehrt war, hatte er zuerst gedacht, die Männer an der Tür wären nur ein paar Schläger der Iorgas, die nach dem Rechten sahen. Aber ein kurzer Blickkontakt hatte genügt, und ihm war alles klar gewesen. Sie hatten ihn gefunden. Sie kamen ihn holen. Sie kamen sich rächen. Menschen, Häuser und Wegbiegungen rauschten an ihm vorüber, aber in Wahrheit sah er nur Gesichter, Momente und Taten.
Messer-Peters, zuckend im Dreck, umhüllt von roten Blitzen. Seine Schreie. Todd und das rothaarige Mädchen auf dem Bauernhof. Wie leer ihr Blick gewesen war, als er sie hatte töten müssen. Ravellio, der nur gelacht hatte. Boss Viral, wie er davon sprach, Sklaven in die Minen zu schicken. Eine bessere Zukunft war Armien versprochen worden. Ihm und allen anderen. Aber alles was er bekommen hatte, war mehr von dem, was er sich zurückzulassen erhofft hatte. Alles Lügen. Lügen über Lügen. Längst hatte er reden wollen. Hätte es tun sollen, solange es noch die Gelegenheit dazu gab. Aber er war zu feige gewesen.
In einem verwahrlosten Hinterhof drehte er sich hektisch um die eigene Achse, beobachtete die Dächer und dunklen Ecken. In den Fenstern brannte kein Licht mehr. Unkontrolliert kramte er in den Außentaschen seiner geflickten Weste. "Komm schon-", japste er, "-komm schon, verdammt!" Aber was seine Finger zuerst fanden, war nicht der hölzerne Fokus, sondern ein Stück Papier. Ein kalter Schauer lief ihm über den Rücken. Er hatte es noch nicht entsorgt. Keuchend rannte er wieder los, gerade als er meinte Bewegung in den Schatten auszumachen.
Er kam wieder in der Gosse an und stolperte zwischen einer Gruppe Obdachloser hindurch, zu denen er sich sonst immer gesetzt hatte, um mit ihnen zu rauchen und billigen Fusel zu saufen und sich anzuhören, was auf den Straßen so kursierte. Die verwahrlosten Penner blickten ihm verwirrt hinterher und sahen nur einen der ihren, der sich verhielt wie ein Wilder, aber er hatte keine Zeit, sich zu erklären. Er stieß eine schmutzige Frau aus dem Weg, und sie fiel härter zu Boden als er gewollt hatte, aber er hatte keine Zeit, sich zu entschuldigen. Ließ sie alle hinter sich. Im Flammenschein eines verwaisten Tonnenfeuers zog er mit zitternden Fingern den Brief hervor.
ZitatRuhme Saul, Mister Ganes,
Eure Angaben lassen von Mal zu Mal mehr zu wünschen übrig. Ich hoffe um euretwillen, Ihr gebt mir keinen Anlass, an Eurer Treue zu zweifeln. Eure Instruktionen ...
Er kannte die Zeilen längst. Er hatte sie wieder und wieder gelesen, und stundenlang über seinem Vorgehen gebrütet. Aber jetzt war es zu spät. Die Entscheidung war ihm abgenommen worden. Ohne zu zögern warf er den mehrfach geknickten Brief in die rußfleckige Tonne. Die Flammen leckten gierig danach, und das Papier welkte kohlschwarz auseinander, indem es knisternd verschwand. Im nächsten Moment spürte er eine starke Hand auf seiner Schulter.
Und Armien wusste, dass er erledigt war.
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