In den endlosen Lüften kannte die Elster keine Grenzen. Erhaben war sie, und frei ihre diebische Ausbeute überallhin zu tragen. Auf schwarzweißen Schwingen glitt sie über das Land hinweg, tauchte flatternd zwischen Olivenbäumen hindurch, deren ausladende Kronen sich umschattend über steinerne Stelen wölbten. Keckernd kreiste sie über dem Erdweg, der sich zwischen den Gräbern entlang wand.
Da waren zwei Menschen, Mann und Frau, ihre Rüstungen in Blau und Goldbraun, ihre Schwerter silbrig glänzend. Sie wachten über einem gravierten Grabstein, grau und kalt in einem Meer von vielen, aber die Elster wollte nicht lesen. Sie wollte nur den glitzernden Lohn, der dem Stein obenauf lag, tauchte zwischen den greifenden Armen der Soldaten hindurch und schnappte zu. Mit der goldenen Beute im Schnabel rauschte sie hinweg über den Friedhof. Über rostige Zäune, die sie nicht hinderten, Abgründe, die sie nicht an sich rissen.
Grüne Hügel und plätschernde Flüsse waren ihr untertan, denn sie erhob sich hoch über sie. So hoch über all die anderen Menschen, die sie unter sich zurück ließ. Hochnäsige Menschen mit weißblondem Haar, törichte Menschen in glutrotem Stahl, einfältige Menschen von schlammbrauner Haut. Und aus den Hügeln wurden Steppen und aus den Steppen Wüsten, und mit ihr flogen viele andere Vögel, hoch empor aber nie auf Augenhöhe.
Vor ihnen erhob sich sandiger Fels, der auseinander brach, als sie in Sturzflug gingen, mit einer wuchtigen Staubwolke in die Schlucht dahinter barst. Als der Schleier sich legte, flog die Elster wieder allein, und das Rauschen einer großen Menge erstreckte sich vor ihren Augen. Zahllose Menschen in weißroten Roben, ihre Hauben zwiegespalten und ihre Äxte scharf. Groß und mächtig war ihr Heer, das sich in der Schlucht drängte, und durch die Bresche strömte eine unwirsche Gruppe bunt gemischter Glücksritter, die sich dem sicheren Tod stellte.
Dann aber begann das weiße Heer ins Chaos zu stürzen. Die berobten Krieger wandten sich gegeneinander. Stoff riss, Blut spritzte, und jeder war seinem Nächsten ein bitterer Feind. Auf einer Anhöhe stand ein Mann mit langem Spitzbart, rief Befehle, die untergingen im Getose der grausigen Schlacht.
Und die Elster blickte abwärts, und sie sah, dass sie zwei gestiefelte Beine hatte und nicht länger flog, sondern fest auf dem Boden stand, mitten im Chaos, ihren Lohn in Gold in der menschlichen Hand. Eine schöne, teure Taschenuhr, bereits aufgeklappt. Die Sekunden tickten. Der Mann blinzelte, als sein weißes Hemd sich langsam dunkelrot färbte.
Ein glänzendes, silbriges Schwert hatte ihn durchbohrt, doch er fühlte keinen Schmerz. Als er aufsah, stürzten alle Vögel vom Himmel, denn der Himmel gehörte nur einem einzigen Wesen. Eine goldene Gestalt schwebte über dem tosenden Blutbad, machtvoll und unberührt. Aus ihrem Rücken sprießten viele schwarze Flügel, dünn und lang und ohne Federn.
Das Wesen war göttlich und seine Stimme hallte wider in den Ohren aller, doch der Mann verstand nicht, was es sagte. Dann verschwand die Gestalt in einer mächtigen Böe, und mit dem Sturm kam eine donnernde Flut aus Flammen, die durch die Schlucht fegten. Die Menschen wurden geröstet und zu Asche verbrannt, lösten sich in Bedeutungslosigkeit auf wie Ameisen unter dem Stiefel eines Riesen. Sie konnten nicht fliegen. Keiner von ihnen. Die Elster war vergessen. Es blieb die Erinnerung des ungelesenen Grabsteins.
Die zehrenden Wogen erfassten den Mann...
Inquisitor Godfrey erwachte zwischen schweißnassen Laken.
Leise atmete er auf, betrachtete die stuckverzierte Zimmerdecke. Dann erhob er sich aus dem Bett. Draußen war es noch dunkel, aber seine Müdigkeit war verflogen, und so stieg er in Hosen und Stiefel. Er knöpfte ein frisches Hemd über seiner Brust zu. Trat hinter die Trennwand und vor den Spiegel, um sich zu waschen und zu frisieren. Unzufrieden registrierte er die dunklen Haarwurzeln seines blonden Schopfes, ließ sie jedoch vorerst wie sie waren. Dafür würde später noch Zeit sein.
Er öffnete die Schranktür und begutachtete das Sammelsurium aus makellos weißen, ledernen Kurzmänteln, einer gleich wie der andere, wo vor nicht allzu langer Zeit noch Cesare Pollaccias alte Ausgehanzüge gehangen hatten. Davon war nur ein dick pelzverbrämter Wintermantel geblieben, der am äußersten Rand neben Godfreys Ritualroben hing.
Seine Finger schwebten kurzzeitig unentschlossen, dann griff er sich einen der identischen Inquisitionsmäntel, legte ihn schwungvoll um und zupfte eine haselnussbraune Langhaarperücke von der leblosen Puppe im dunklen Hintergrund des Kleiderschrankes. "Adieu, Tarabas." Der künstliche Schopf segelte in den Müllkorb. "Du nimmst mir Platz weg."
Er schob sich das Monokel vors Auge und bemerkte schmunzelnd, dass Frank eine Nachricht auf dem Schreibtisch hinterlassen hatte, ohne ihn zu wecken. Sie werden so schnell erwachsen, amüsierte er sich, griff danach und studierte den Titel. 'Betreffs N. I.'
Während er in Ruhe las, trat er auf den Flur hinaus. Aber er dachte: Nur ein Traum. Nur ein Traum...
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