"Hey! Willkommen bei mir zuhause."
Binnen einer bloßen Nacht war aus einem leeren Kellerraum mit verschmorten Holzwänden und einem muffigen Schlafsack als Bettersatz eine recht lebhafte Hütte am Strand geworden. Die Wände waren frisch vertäfelt, es gab einen Tisch und einen Schrank aus fein gemasertem Holz, Regale voll beschrifteter Bücherrücken und hübscher Dekorationen. Hier eine Kerze, da ein kleines Modellschiff im Bauch einer umgekippten Flasche. Ein leerer Kleiderständer an der Wand. Auch ein großes Fenster hatte sich aufgetan, und die Sonne schien, während man einen herrlichen Ausblick aufs Meer genießen konnte. Man mochte sich beinahe heimisch fühlen. Mit etwas Fantasie. Oder auch etwas mehr.
"Hey.", sagte Frank, der vorausgegangen war. Als der raubeinige Ganove eintrat, nur um sich neben der Tür an der Wand zu postieren, sickerte das freudige Grinsen langsam aus Tabithas Gesicht.
"Hervorragend!", tönte Inquisitor Godfrey. Er drehte sich, im Raum angelangt, mit locker ausgebreiteten Armen im Kreis, um die Malereien zu bestaunen. Gewiss kein Meisterwerk, aber doch recht beachtlich für die Pinselführung eines jungen Mädchens. Freilich war der Raum noch immer so kahl wie eh und je. Die tatsächliche Sonne fiel nur als trauriger Lichtfetzen durch zwei winzige Löcher links oben an der baufälligen Decke ein. Dort oben hingen nun einige Traumfänger und ähnliche Basteleien in den Ecken, gefertigt aus Bändern und Zweigen, Muscheln und Federn. "Ein wirklich großartiger Einfallsreichtum. Man möchte sich beinahe täuschen!"
"Danke." Das Mädchen klang erstaunlich erwachsen. Ihre Hände verbargen etwas hinter dem Rücken. "Ich dachte dem Raum fehlt es etwas an Gemütlichkeit."
"Und ich hatte schon in Erwägung gezogen, dich vielleicht bald in eine neue Unterkunft zu verlegen.", sinnerte Godfrey und besah sich weiterhin die Pinselführung. So viele Details, so viele Anhaltspunkte. Er kam nicht umhin zu schmunzeln, als er wieder Tabitha fixierte. "Aber diese Kreativität ist äußerst erfrischend. Beachtlich, nicht wahr? Wie sehr es helfen kann, sich dann und wann selbst zu täuschen."
"Und doch ist es nur Malerei.", sagte sie überhastet und sammelte sich einen Moment, bevor sie weiter sprach. "Sie trügt. Sie täuscht. Sie lässt uns sehen, was wir sehen wollen. Manchmal. Hier... zumindest. Das Original wäre natürlich... schöner. Ein Stuhl... und ein Tisch... ein... Schrank für meine ganzen... Sachen." Sie hob das Kinn, um ihrem eigenen Gestammel zu trotzen. "Natürlich wäre ein Umzug auch schade... aber ich würde es bevorzugen. Immerhin... bin ich euer... Gast."
"Das bist du, liebes Kind, das bist du." Ein Moment des Schweigens stand zwischen ihnen. "Und doch-", fuhr Godfrey fort und ging ihr langsam entgegen, "-ist es gerade das, was du geschaffen hast, was mich veranlasst, dich noch hier zu behalten."
Er legte die Rechte entspannt auf ihre versteifte Schulter und führte das Mädchen mit sich, bis sie gemeinsam vor der Wand standen und auf das aufgemalte Fenster blickten. Hinter Tabithas Rücken knirschte und bröselte es, als sie zerdrückte was auch immer sie dort in den Fingern hielt. "Warum?", fragte sie ernst, mit Blick auf die Wand. "Ich verstehe nicht, warum ein paar Malereien... Grund sind, mich... hier zu behalten."
"Shhh.", machte Godfrey und deutete mit dem linken Zeigefinger nach vorn. "Sieh.", sprach er sanft. "Befreie dich von Trauer und Wut, ich weiß, es ist schwer. Befreie dich und sieh hin. Was erblickst du?"
"Ein Fenster." Sie knirschte mit den Zähnen. "Farbe. Farbe auf einer Wand, die ein Fenster zeigt."
"Du siehst das Meer. Die Sonne. Die fernen Strände. Du siehst, wonach deine Seele sich verzehrt. Die Tochter eines Seemannes. Ist es nicht so?"
Er hatte den Finger sinken lassen. Tabitha starrte die Wand an. Ihre Pupillen hatten sich sachte zusammengezogen. Er hörte es knirschen, wo ihre Fäuste sich fester ballten, und sah die Lippen sich aufeinander pressen. Dann schlug das Mädchen den Blick nieder. "Ja.", gestand sie schließlich.
"Natürlich.", raunte Godfrey und strich sacht mit dem rechten Daumen über ihre Schulter, die Augen noch immer auf der gemalten Sonne jenseits des falschen Fensters. "Das ist nur menschlich. Wir alle umgeben uns gerne mit den Dingen, in deren Nähe wir uns geborgen und selbstsicher fühlen. Die ein Teil von uns sind. Auch wenn wir uns nur vormachen, in ihrer Nähe zu sein. Sag; Hast du jüngst zu Dwayna gebetet, mein Kind?"
"Nein. Es... gab keinen Grund dafür." Wut hatte sich in ihre Stimme geschlichen, und der Blick hob sich wieder ein Stück. Nur nicht vollständig. "Der richtige Moment wird sicherlich... wieder kommen."
"Wird er das?" Der Inquisitor ließ ab von ihrer Schulter und trat ein Stück zurück, nahm die Hände hinterm Rücken zusammen und warf einen schmunzelnden Schulterblick zu Frank, der noch immer in strenger Pflichthaltung neben der Tür wachte. Dann war Godfreys Augenmerk wieder ganz bei Tabitha Donovan. "Braucht es einen richtigen Moment dafür? Sollte nicht auch das zu den Dingen gehören, nach denen du dich verzehrst?"
Für eine Weile blieb sie still und nachdenklich. Ihr Gesicht härtete sich überfordert, sie atmete fest durch die Nase. "Sie ist da.", sprach sie dann, doch es klang als müsse sie sich selbst davon überzeugen. Doch so schnell schon? Sollte ich womöglich enttäuscht werden? "Sie ist... immer da. Und sie wacht über mich." Natürlich. "Dazu braucht es kein tägliches Gebet." Darin kommen wir überein. "Solange ich weiß, dass sie da ist... wird sie ihre schützenden Flügel schon über mich halten, wenn ich es brauche." Und die Unsichtbaren wischen dem Beichtvater den Hintern ab, wann immer er Durchfall hat. "Aber ich bin stark. Und das weiß sie." Hmm. "Es gibt... genügend andere, die ihre Hilfe mehr brauchen."
Godfrey wölbte die Augenbrauen und knautschte die Lippen anerkennend zusammen, als müsse er sich geschlagen geben. In Wahrheit wollte ein Teil von ihm das Mädchen einfach in die Sklavengruben seiner langjährigen Heimat werfen und diesen ermüdenden Nonsens hier hinter sich lassen. Aber selbst wenn das noch eine Option gewesen wäre, hätte er sich dagegen entschieden. Seine Entscheidung hatte er bereits gefasst, seit er das Mädchen zum ersten Mal unter die Lupe nahm. "Tia-", sagte er schließlich, "-die gibt es wohl immer." Er griff an sein Monokel, drehte sacht am vergoldeten Rand der gläsernen Linse und wandte seinen Blick sorgfältig zurück gen der blauen Weiten jenseits des gemalten Fensters. "Viel hatten allerdings auch die nicht von Dwaynas schützenden Schwingen, so in den letzten Jahren. Denkst du, Dwayna wird sich zeigen und Schutz bieten, wenn der nächste Drachenangriff auf Löwenstein zurollt?"
Auch Tabitha sah wieder das Wandbild an. Ihr Blick war konzentriert, und sie suchte nach Worten. Das war der Moment, in dem er wusste, dass er sie hatte. "Sie... wird alles tun um so viele zu schützen wie es in der Macht von ihr und den anderen Göttern steht. Mit der Hilfe von ihr und den anderen Göttern und denen, die ihre Lehren verbreiten werden wir stark genug sein, um einen Angriff so gut es geht zu überstehen und zu helfen."
"Mit derselben Hilfe, die abwesend war, als die Stadt Löwenstein von der orrianischen Welle überschwemmt wurde? Die abwesend war, als Zhaitan die Stadt beinahe eroberte? Die abwesend war, als Scarlet Dornstrauch sie tatsächlich eroberte? Die sich nicht einmal zeigte, als Mordremoth die ganze bekannte Welt zu unterjochen drohte? Ich will dir nicht zu nahe treten, Tabitha, aber daran habe ich meine regen Zweifel. Shhh." Sie hatte den Mund schon zum Protest geöffnet, doch er brachte sie zum Schweigen, hob den rechten Zeigefinger vor die eigenen Lippen. Nach einer exakten Dauer von zwei Herzschlägen klappte er den Finger nach vorn und deutete abermals auf die Abbildung des Fensters und des Meeres. "Es gibt einen Grund, warum du mit dieser Heimat aufgewachsen bist. Möchtest du, dass ich ihn dir erkläre?"
"Bitte.", forderte sie biestig. Da war schon wieder Wut in ihren Zügen. Oder noch immer? Ja, ich weiß, das elonische Temperament. So weit waren wir schon. Aber er schmunzelte nicht. Blickte ihr in die Augen. Ihr Zorn konnte nicht lange bestehen vor seiner Geduld. Der bloßen Illusion von Geduld. Der Inquisitor nahm sich einen langen Moment Zeit, sie zu taxieren.
"Im Buch des Saul hast du von der Invasion der Charr gelesen, wie sie vor über zweihundertfünfzig Jahren stattfand.", erinnerte er sie dann. "Begehe keinen Fehler, meine Liebe; Das war keine bloße Erzählung. Es ist die historische Realität, die heutzutage aus dem Geschichtsunterricht gebannt wird, damit Kinder die Buhmänner aus ihren Ammenmärchen nicht infrage stellen können. Saul d'Alessio und seine Getreuen, mit der Hilfe der Ungesehenen, haben die Charr abgewehrt, wo der König feige geflohen war. Sie haben ihre Leben für Kryta gegeben. Wären sie nicht gewesen, wäre die Menschheit in Tyria heute ausgelöscht, Kryta, unser letztes starkes Land, ebenfalls in den Händen der Charr, wo alle anderen längst gefallen sind." Schnaubend pausierte er, doch nicht für lange. "Und dann, ein paar Jahre später, kamen die Glänzende Klinge und Salma, die uneheliche Tochter des Königs, daher und rissen das was der Weiße Mantel bewahrt hatte an sich, zerstörten alles und vertrieben uns. Beanspruchten das Heldentum für sich und brandmarkten alle, die treu blieben, als Verräter und Ketzer."
Tabitha sagte Nichts. Sie hatte ihre Augen nur noch auf dem vermeintlichen Fenster, als würden sich vor dem Trugbild gläserner Scheiben Bilder abspielen. Und er wusste, dass sie zuhörte.
"Und weißt du-", raunte er leise, "-welcher Gott damals bereits an der Seite der Helden stand?" Er dehnte ihr Schweigen scharf in die Länge, bevor er die Antwort mitlieferte: "Lazarus. Er und seine Geschwister standen damals bereits mit uns gegen die Charr."
Gemächlich trat er rückwärts weiter von ihr fort. Das Mädchen konnte ihren Blick nicht eine Sekunde von der Wand lösen.
"Und jetzt ist er zurück.", fuhr er fort, während Frank hinter ihm die Tür öffnete. "Hülle dich nur weiterhin in deine Trugbilder, Tabitha, ich ermuntere dich gar dazu. Beschirme dich mit den Dingen, die dir ein Gefühl der Sicherheit verleihen - Frank hier wird sicher stellen, dass es dir dazu an Nichts mangelt." Er wandte sich der Tür zu, die Stimme abschließend erhoben: "Denn sei unbesorgt! Lazarus hat sich gezeigt. Und sein erklärter Feind ist klar: Die Drachen."
Als Inquisitor Godfrey den Raum verließ, stellte er kurzzeitig fest, dass er seine Worte einen Moment lang beinahe selbst geglaubt hätte. Bald darauf waren seine Gedanken zurück bei neuen Propaganda, die er tags zuvor entworfen hatte. Die heißen Tränen des Mädchens sah er nicht mehr. Aber dass sie flossen, das wusste er blind.
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