...Veli und Toivo
„Weit hinauf in den von Wolken behangenen Himmel flackerten die lodernden Flammen. Erfüllten die Luft von flirrender Wärme, legten Schatten auf die Landschaft und tauchten den Himmel in tiefes Rot. Die Funken des Feuers schienen gen Sternenzelt fliegen zu wollen. Tausende kleiner Lichtpunkte, die ihre Heimat hoch über dem Dorf suchten.
Das Knistern des brennenden Holzes wurde nur durch die erstickten Schreie und das Zusammentreffen von Metall erfüllt. Über viele Fuß weit waren die Gefühle - die in den Herzen der Norn lagen - zu spüren. Man konnte die Angst aus der Luft greifen und den Zorn im festgetretenen Schnee förmlich sehen. Doch ein Gefühl trat so deutlich hervor, dass es jedes Andere fast zu Nichte machen konnte: Hoffnung.
Die Bewohner, so stolze Norn, kämpften um ihre Heimat. Mit vereinten Kräften gingen sie gegen ihren Feind. Schwerthiebe und Äxte trafen auf nacktes Fleisch. Hieben Köpfe und Gliedmaßen ab. Sie wollten ihr Heim um jeden Preis schützen. Die Verderbnis sollte nicht in ihre Herzen kriechen. Zu viele waren bereits der Eisbrut erlegen. Hatten sich vom Geschwätz der Verdorbenen verleiten lassen, gingen nun auf einem unsicheren und gefährlichen Pfad. Oder sie ließen sich bereits von dem Raben in die Nebel geleiten. Gefallen im Kampf ums Überleben, in der Schlacht um ihr Heim, an der Seite ihrer Liebsten.
Langsam schob sich die Sonne hinter den grauen und dichten Wolken hervor. Der beißende Geruch von verbrannten Leibern, Holz und Blut lag noch immer so präsent in der Luft, dass man meinen konnte, er würde sich niemals legen. Wohin man auch sah, hatte sich der Schnee von vergossenem Blut und Ruß gefärbt und selbst die sacht herabfallenden Flocken wollten die Spuren der Schlacht nicht verdecken.
Geschundene und Verstümmelte Leiber lagen dicht an dicht auf dem dunklen Grund, boten im seichten Sonnenlicht ein abscheuliches Bild. Und doch saß in Mitten der Toten ein kleines Mädchen. Hell war das Haar und Blut benetzte die blasse Haut des Kindes, an Händen und den Wangen. Die Rechte auf die Brust eines Mannes gelegt, der vor ihm lag.
Dort wo einst zwei starke Beine seinem Leib gewachsen waren, ragten lediglich noch zwei kurze Stummel hervor. Bittere Tränen rannen dem Mädchen über das Gesicht, vermischten sich mit dem Blut ihres Vaters, welches an ihren Wangen klebte und fielen schließlich herab auf dessen leblosen Körper.
Jede Hoffnung, die noch in dem zierlichen Körper war, verebbte nach und nach. Das Kind wusste nicht weiter. Verlassen von den Geistern und seiner Familie. Allein in der Welt, ohne jemanden, der ihr zur Seite stehen konnte. Angst und Trauer machten sich breit in ihrem Herzen. Erfüllten ihre Brust, flossen in Arme und Beine, bis schließlich der gesamte Körper erschlaffte und das Geschöpf laut aufheulend zu Boden sank.
Ein leichter Windhauch strich über die Haut des Mädchens, an den Stellen, an welchen sie nicht von dem warmen Fell bedeckt war. Er war so sacht, dass man ihn kaum zu spüren vermochte. Und doch, schien der Luftzug tief in das Mädchen einzutauchen. Drang in ihr Blut, tauchte sie in ein wohlig warmes Gefühl der Geborgenheit. Es fühlte sich an, als legte ihr jemand eine Hand auf den Rücken. Tröstend und Hoffnung spendend.
Und als sie sich aufrichtete und umschaute, erblickten ihre hellen grünen Augen einen Jungen. Kaum älter als sie selbst. Und doch strahlte er eine so ungeheure Kraft und Zuversicht aus, dass sich ein Lächeln über ihre Lippen zog. Langsam erhob sie sich und musterte den Jungen. Kohlrabenschwarzes Haar bedeckte seinen Kopf, zog sich in einem Zopf über seine Schulter und die tief braunen Augen schauten das Mädchen fest an. Sie öffnete den Mund zum Sprechen, kam jedoch nicht dazu. Denn ein großer Wolf trat hinter dem Jungen hervor, knurrte leise und reckte die Schnauze hoch in die Luft. Sog diese ein. Schnupperte in den Nordwind und horchte lauschend auf.
Das gewaltige Tier trat schließlich an das Mädchen heran und schmiegte den grauen Körper an den des Kindes. Das Mädchen wunderte sich, dass es von seinem Druck nicht umgeworfen wurde. Überragte der Wolf sie doch beinahe.
Abermals breitete sich in ihrem Körper ein herrliches Gefühl aus, welches ihr Wärme, Zuversicht und Hoffnung gab. Dann glitt die Hand des Jungen um die des Mädchens und gemeinsam verließen sie die Stätte des Kampfes.“
Der Alte ließ seine Worte im Raum verklingen. Lange hallte seine tiefe Stimme in der hohen Hütte. Mit braunen Augen schaute er die Anwesenden nacheinander an, wartete möglicherweise auf etwas. Vielleicht ließ er die Saga auch einfach nur auf die Norn wirken.
„Noch heute hört man von einem Jungen, der mit einem gewaltigen Wolf durch die Berge streift. Gesehen hat man sie nie. Oder die die es taten, reden nicht darüber. Und doch... Wenn man dem Jungen und dem Wolf begegnet, spenden sie einem Kraft und Hoffnung. Mut, um weiter zu machen. Seinen Weg zu finden und zu begehen.
Wolf und Junge... Hüter und Hoffnung... Veli und Toivo.“