Sie öffnete das Fenster ihrer Kammer und trat an das Fensterbrett, stützte sich mit beiden Händen darauf ab und neigte sich etwas hinaus, um tief einzuatmen. Das Gemisch aus Blütenduft, Schmutz, Schweiß, ungewaschenen Leibern, Parfumessenzen, Essensgerüchen und vielen anderen, undefinierbaren Dingen schien, obwohl die Zusammensetzung sicherlich von Tag zu Tag schwankte, noch immer dem ähnlich, woran sie sich erinnerte. Hier war sie aufgewachsen, im Herzen der mächtigen Stadt Götterfels, im Schatten der hohen Mauern, weit unterhalb derer, die heute für ihre Gesellschaft bezahlten.
Yaree schloß die Augen und ließ die lauwarme Brise durch ihr Haar wehen, gab sich für einen Augenblick der streichelnden Berührung des sanften Windes hin, bevor sie sich abwandte, nach der Bürste griff und ihr tägliches Ritual vor dem Ausgehen begann. Hundert Striche, um dem Haar einen üppigen Glanz zu verleihen. Während sie die einzelnen Bewegungen ihrer Hand mit der Bürste zählte, betrachtete sie sich sorgsam im Spiegel. Auch heute zahlte sich ihr Verzicht auf allzu fettiges Essen darin aus, dass ihre Haut makellos schimmerte. Verglichen mit jener Zeit, in der sie als Hausmädchen mühsam geschuftet hatte, war ihr Anblick heute definitiv angenehmer. Was sie damals hatte schier verzweifeln lassen, war heute längst vergessen. Kein einziger Pickel wagte sich mehr in ihr Gesicht, die Augenbrauen waren sorgsam gezupft, das Haar frisch auf eine gleichmäßige Länge geschnitten, gewaschen und parfumiert. Noch etwas Parfum, das sie sich hinter ihre Ohren auf den Hals und den Ausschnitt tupfte, und sie konnte sich ankleiden.
Das Korsett war nicht besonders angenehm, aber sie hatte sich daran gewöhnt. Es hieß, sich ständig Hilfe beim Schnüren holen zu müssen - hier tat die Tochter ihres Wirts einen guten Dienst - und verhinderte tiefes Einatmen wirkungsvoll. Aber gleichzeitig zauberte es auch eine Tallie, die sich viele der älteren Adelsdamen nicht mehr leisten konnten, so sehr sie sich auch einschnüren lassen mochten. Und ein Anblick wie der Yarees war es, der die Herren gerade nach jahrelanger Ehe aus ihrer Lethargie zu reißen vermochte, einige angenehme Stunden zu einem passenden Preis gönnten sie sich gerne. Selbst verarmte Adelige leisteten sich Begleitdamen, wenn es bedeutete, anderen noch zeigen zu können, dass sie dazugehörten, dass sie dieses Spiel noch spielen konnten, auch wenn zuhause gerade ein Pfandleiher die Gemälde an der Wand begutachtete. In Götterfels war vieles ein reines Spiel der Eitelkeiten.
Es hatte sich nichts geändert, auch wenn ihr Blickwinkel nun ein anderer war. Heute schlich sie nicht mehr durch die Gosse, es gab keine verzweifelte Suche nach heruntergefallenem Gemüse mehr, das man sich roh im Eiltempo einverleiben konnte, bevor es ein anderer einem abjagte. Auch wenn sie mit ihrem Geld bisweilen haushalten musste, sie lebte nicht mehr in jenem Elend, das für sie lange Zeit gleichbedeutend mit Götterfels war. Dennoch begleitete sie diese Erinnerung stets, wann immer sie durch die Straßen schritt, und ließ sie eigentlich zuviele Münzen in die Hände der Straßenkinder werfen. Niemand wurde seine Wurzeln vollständig los, egal wie sehr man es versuchte.
So hatten sie ihre Schritte vor einigen Tagen in das westliche Marktviertel geführt, in den 'Gewürgten Flaschenhals', in dem sie sich früher nach einer langen Nacht gerne aufgewärmt hatte. Auch heute war die Klientel noch bunt gemischt und eher den unteren Bevölkerungsschichten zuzurechnen, von einigen vereinzelten Seraphen abgesehen, die ihre Patroullienpause mit dem Aufschnappen von Gerüchten verbanden. Sie hatte dort sogar ein Gesicht aus der Vergangenheit wiedergsehen. Jahrelang hatte sie nicht mehr an Athes gedacht, ihn genauso wie alle anderen verdrängt und vergessen. Aber die Erinnerung war zurückgekehrt, als sie ihn vor der Schenke hatte stehen sehen, hatte nur ein wenig Zeit gebraucht, um sich zu entfalten.
Inzwischen war er zu einem ansehnlichen Mann herangewachsen, der immernoch seine Neigung kultivierte, ihr beizustehen. Gerade hatte sie versucht, dem Geheimnis um Athes' und Laranells Begleiter ein wenig auf die Spur zu kommen - er weigerte sich zu sprechen, presste die Finger in den Mund und kommunizierte nur per Zettel - als ein seltsames Echsenvieh in der Schenke auftauchte und sie angriff. Dass neben Athes auch noch der nebenbei stehende Seraph mit der Waffe eingreifen musste, gab der ganzen Szenerie eine besondere Würze, immerhin hatte dieser zuvor versucht, sie über Athes und die anderen auszufragen. Aber den Seraphen konnte sie auch heute noch nichts abgewinnen, so war die Ausbeute für ihn verschwindend gering gewesen. Einige Momente lang hatte es sich angefühlt wie früher. Die Kameradschaft zwischen den dreien war unübersehbar gewesen und ein wenig hatte sie teilhaben dürfen. Doch der Moment verflog, und sie hatte den 'Flaschenhals' alsbald verlassen.
Erinnerungen und Gegenwart durften sich nicht zu sehr mischen. Von alledem von früher musste sie ihren Abstand wahren, sonst würden zuviele Erinnerungen zurückkehren. Sie steckte mit geübten Handgriffen ihr Haar hoch und schlüpfte in ihre halbhohen Schuhe. Ein wenig flanieren gehörte zu ihrem Alltag, und dort würde sie sicher einen potentiellen Kunden finden, das Spiel der Eitelkeiten beginnen, wie es ihr Alltag war. Sorgsam zog sie die Türe hinter sich zu, schloss ab und verließ das Haus, um sich von der Stadt und der darin wogenden Menschenmasse verschlucken zu lassen. Eine von vielen.