Gassengeflüster 2: Durcheinander


Manches Mal erinnerte das Leben Yaree an einen Kleiderschrank. Glücklich, wer überhaupt über einen solchen verfügte, die Ärmsten der Armen konnten meist nicht mehr als das vorweisen, was sie am Leib trugen. Die etwas begüterteren aus dem Bauernvolk behalfen sich mit Truhen, in denen die Kleidung nach Jahreszeiten geordnet war, sodass man einmal im Jahr die jeweilige Truhe öffnete und das gewünschte herausnahm. Die Reichen hingegen konnten sich nicht nur mehrere Kleiderschränke leisten, sondern auch Personal, das sich um die Befüllung derselben mit sauber duftender Kleidung und um die Schaffung von Ordnung bemühen konnte.
Für einen Reichen bedeutete es nichts, sich herauszunehmen, worauf man Lust hatte, es nach dem Tragen wieder irgendwo hin zu werfen und es dann in einigen Tagen wieder frisch und sauber an Ort und Stelle zu finden. Gäbe es jemanden, der imstande wäre, eine ähnliche, praktische Ordnung im eigenen Leben herzustellen, so hätten gewiss so einige einen riesigen Bedarf dafür. Aber wahrscheinlich wäre es so wie immer - diejenigen, die es am ehesten bräuchten, würden es sich nicht leisten können und würden wohl auch nicht darüber nachdenken, weil sie wichtigeres zu tun hatten. Überleben beispielsweise.


Yaree klappte ihre Kleidertruhe sorgsam zu - ein Paar Handschuhe für den Herbst hatte sie sich herausgesucht, die ihr von ihrem letzten Gönner geschenkt worden waren. Ein dicklicher, älterer Herr aus dem mittleren Adel, dessen Leidenschaft seinen Weinbergen und den selbst gekelterten Weinen galt und den es gefreut hatte, endlich einmal von einer Dame begleitet zu werden, die ihm mit echtem Interesse gelauscht hatte.
Gut, er hatte sie dafür auch angemessen entlohnt, dass sie die Geschichte des furchtbaren Mehltaubefalls von vor drei Jahren genauso aufmerksam angehört hatte wie die Unterschiede zwischen den kultivierten Rebsorten und die Verarbeitung derselben mit 'ahs' und 'ohs' begleitet - aber dafür hatte er sich auch einige Tage lang in dem Gedanken sonnen können, von seiner liebsten Freizeitbeschäftigung zu sprechen, ohne dass seine unmittelbare Umgebung bei der ersten Erwähnung des Wortes 'Wein' mit den Augen zu rollen begann. Manches Mal mochten sich die reichen Herrschaften den Luxus bewundernder Zustimmung eben genauso gerne leisten wie ihre Damen ein neues Kleid kauften, ohne nach dem Preis zu fragen.
Es war langweilig gewesen und hatte Yarees ganze Kunst erfordert, ihrem Kunden die nötige Begeisterung gegenüber zu zeigen - ganz zu schweigen davon, dass sie nun Dinge über Wein wusste, die sie nie hatte erfahren wollen - aber es brachte genug Münzen, um sie die nächsten Wochen und Monate entspannter sehen zu lassen.


Wieder hatten sie ihre Schritte in das westliche Marktviertel geführt, die Hoffnung erfüllt, sich nach den harten Arbeitstagen ein wenig Entspannung zu gönnen. Prompt war sie auch wieder auf Athes, Laranell und andere aus deren Umkreis getroffen, der Taschenspieler Al hatte sie durch seine Tricks mit den Blumen in Atem gehalten und hervorragend unterhalten - nicht, dass sie solcherlei nicht schon gesehen hätte, aber er verkaufte sein Können mit Charme und Freundlichkeit, ohne den starren Blick derer, die nicht mehr mit dem Herzen bei der Sache waren und nur noch allein für Geld die Finger tanzen ließen. Gerne hatte sie ihm angeboten, seinen Namen vor den richtigen Ohren zu erwähnen, wenn die Gelegenheit günstig war, und sie wusste auch schon, wer sich dafür eignen würde und genug Genuss einer solchen Vorstellung entgegen bringen würde, dass sich dies auch für Al lohnen würde.
Athes hatte sie danach gefragt, ob sie bei einer Verkaufsshow eine begeisterte Kundin mimen wollte, und sie hatte ihm den Gefallen getan. Es war aber auch zu lustig gewesen, den anpreisenden Spruchen der beiden fliegenden Händlern zu lauschen, welche die Wirksamkeit des Tonikums immer geschickt den Anforderungen des Kunden anzupassen wussten. Eine Asura, die noch eine Weile gezaudert hatte, konnte so schließlich 'überzeugt' werden, nicht nur den Vorrat des Tonikums aufzukaufen, sondern auch noch Golempoliermittel, das sich sicher als genauso nutzlos erweisen würde wie das Tonikum selbst. Yaree hoffte nur, dass die beiden Verkäufer der Asura nicht noch einmal begegnen würden, wenn diese die Wahrheit über ihren Einkauf herausgefunden hatte ...


Es war ein angenehmer Abend gewesen, auch mit Laranell hatte sie dieses Mal einige Worte mehr gewechselt und im Stillen darüber geschmunzelt, wieviele Männer doch um die junge Frau umher schwirrten - einer von ihnen wollte sogar wissen, ob sie und Laranell sich kennen würden und woher. Aber wer zu neugierig war, verdiente auch keine bessere Antwort als jene, die er schließlich erhalten hatte - dass Laranell Yarees verlorene lesbische Liebe sein würde und sie sich gerade erst wiedergefunden hätten. Amüsanterweise hatte der impertinente Kerl daraufhin recht schnell das Weite gesucht und Laranell hatte breit gegrinst. Auch wenn sie sich nicht kannten, zumindest der Humor schien einigermaßen zu passen.
Auch der folgende Spaziergang mit Athes, der sie aus der stickigen Taverne hinaus geführt hatte, war angenehm gewesen, sie hatten Erinnerungen ausgetauscht und er hatte sie schlußendlich auch für ihre Mitwirkung am erfolgreichen Verkauf entlohnt. Als sie ihren Heimweg angetreten hatte, war sie froh darüber gewesen, sich zum 'Flaschenhals' begeben zu haben, aber das hatte sich beim nächsten Besuch recht schnell geändert.


Es war voll gewesen und Yaree hatte sich einer Gruppe um Laranell hinzugesellt, bei der sich neben einer Norn, einem jungen Herrn namens Kor, einem jungen Herrn mit der Mundart der unteren Schichten und jenem Adeligen, der am Abend zuvor schon eher unbedarft in die Taverne gestolpert war, auch nach einer Weile Athes hinzugesellt hatte. Neben den obligatorischen Charr, die immer wieder aus dem 'Flaschenhals' hinauskomplimentiert wurden, waren an diesem Abend Streitthemen an der Tagesordnung, doch jene verbalen Auseinandersetzungen waren noch harmlos und eher unterhaltsam gewesen, bis Laranell und Athes begonnen hatten, sich über ihren Umgang miteinander zu entzweien.
Athes hatte sich darüber aufgeregt, dass ihm Laranell bei jeder sich bietenden Gelegenheit unterstellte, ein Weiberheld zu sein, der jede Frau, mit der er sprach, gleich auf sein Lager zerren würde - was sie wohl am meisten erregt hatte, war sein Ausbleiben in beider Unterkunft in der letzten Nacht.
Gleichzeitig wollte sie aber nicht sehen, dass ihr Verhalten nicht viel anders als das seine war und sie sich den sie umgebenden Männern gegenüber nicht anders verhielt als er sich den ihm bekannten Frauen - dazu noch einige aufgekochte Unflätigkeiten aus beider Vergangenheit, und fertig war der Eklat, der letztendlich so laut geführt worden war, dass alle Besucher der Taverne keinerlei sonstige Abendunterhaltung gebraucht hatten. Yaree hatte sich aus dem Streit so weit wie möglich herausgehalten, bei derlei Auseinandersetzungen gab es für niemanden etwas zu gewinnen, nur vieles zu verlieren, und sie beobachtete die beiden Streithähne aus der Entfernung.


War Laranell wirklich nur wegen Athes' unangekündigtem Ausbleiben so wütend auf ihn oder lag hinter der Entrüstung viel mehr, was sie sich nicht eingestehen wollte? Nach dem Ende des Streits - Yaree hatte Athes nach einer ganzen Weile schließlich aus der Taverne herausgeschleppt, als die beiden das Stadium des gegenseitigen Brückenabrrechens erreicht hatten - hatte er ihr erzählt, was es mit seinem Verhältnis zu Laranell auf sich hatte: Sie war die kleine Schwester seines besten Freundes Shane, und so, wie er dessen Namen ausgesprochen hatte, war er tot und konnte sich nicht selbst um sie kümmern.
Athes hatte Shane also versprochen, für Laranell zu sorgen und hatte dies auch getan, und sie, was für eine junge Frau auf dem Weg zum Erwachsenwerden beileibe nicht aussergewöhnlich war, hatte dagegen rebelliert. Vielleicht aber lag auch ein gutes Maß Eifersucht in ihrem Handeln, immerhin waren beide nicht miteinander verwandt und der ehemalige Ersatz-große-Bruder konnte mit dem Heranreifen leicht zum Objekt stiller Begierde werden - aber sie kannte Laranell nicht gut genug, um das sicher abschätzen zu können und hatte Athes geraten, einige Tage auf Abstand zu gehen, damit sich beider Gemüter wieder beruhigen konnten, um dann einmal sachlich und gelassener über das eigentliche Problem zu sprechen. Er hatte ruhiger gewirkt, als sie sich auf den Weg zu ihrer Unterkunft gemacht hatte, und sie hoffte, dass sich alles zwischen den beiden wieder einrenken würde - egal ob arm oder reich, Menschen, auf die man sich verlassen konnte, waren niemals breit gesät.
Und vielleicht würde sich das Durcheinander in Athes' und Laranells Schrank von den beiden gemeinsam aufräumen lassen.