Götterfels erstrahlte in all seiner herbstlichen Pracht und die Straßen waren von den Menschen, welche die warmen Strahlen der Sonne ausnutzten, gefüllt. Gerade die drallen Hausfrauen mit ihren gut gefüllten Körben machten es für Yaree bisweilen recht schwer, sich durch die Menge zu zwängen, ohne mit irgend jemandem zusammen zu stoßen. Dieser Tag gehörte nur ihr alleine, einer der wenigen wirklichen freien Tagen, an denen sie sich um ihre eigenen Bedürfnisse kümmerte und es vorzog, mit so wenig Menschen wie möglich sprechen zu müssen. Es tat ihr gut, an solchen Tagen einfach nur schweigen zu können.
Keinem Kunden um den Bart gehen zu müssen, nicht versuchen zu müssen, einem scharfsinnigen Gegenüber einen Schritt voraus sein zu müssen, um auch weiterhin interessant und herausfordernd zu bleiben. An einem Stand mit frischem Obst blieb sie stehen und erstand sich einige Orangen zu einem horrenden Preis, ein Vergnügen, welches sie sich normalerweise verboten hätte, doch heute hatten sie die leuchtenden, fröhlichen Farben des Obststandes geradezu angezogen. Die verschiedenen Sorten boten ein vielfarbiges, verlockendes Panorama, doch bevor sie sich auch noch Trauben oder Omnom-Beeren kaufen konnte, wandte sie sich schnell wieder ab.
Sie steckte den Stoffbeutel mit den Orangen darin in ihre Umhängetasche aus Leder, um sie den flinken Fingern gewisser Marktbesucher zu entrücken. Allzu leicht konnte man hier bestohlen werden, wenn man von den Farben und Gerüchen abgelenkt war. Yaree wusste nur zu gut darum, schließlich hatte sie früher an solchen Tagen ihre größte Beute mit in die schmutzige Gasse geschleppt, die ihr Zuhause gewesen war. Die Sonne machte die Menschen leichtsinnig und lebensfroh, und half Straßenkindern dabei zu überleben. Während sie an den mit Wachgardisten abgesicherten Ständen der Goldschmiede und Juweliere vorüber ging, ohne der prunkenden Auslage auch nur einen Blick zu schenken, dachte sie an die Ereignisse der letzten Tage.
Sie hatte seit mehr als einer Woche den 'Gewürgten Flaschenhals' nicht mehr betreten und bewusst Abstand zu Athes gehalten. Er sollte zur Ruhe kommen können. Und ihre Lust auf einen weiteren Zwischenfall wie den zurückliegenden war derzeit nicht besonders groß. Vielleicht hatte sie sich in diesen Dingen schon zuviel von den Adeligen abgeschaut - lautstarke Auseinandersetzungen in der Öffentlichkeit waren etwas, dem sie sich nicht besonders gerne aussetzte. Was sich wohl weiter zwischen Athes und Laranell ergeben hatte? Wenn beide klug waren, dann hätten sie sich inzwischen wieder zusammengerauft. Für etwas anderes schien Yaree das stillschweigende Verständnis der beiden auch zu tief zu reichen. Man hackte sich schließlich nicht den eigenen Arm ab, wenn man es nicht unbedingt musste, um zu überleben.
Generell war sie sich nicht im Klaren darüber, wie sie mit ihm umgehen sollte. Er war gutaussehend, charmant und aufmerksam, indes schien er seine Aufmerksamkeit auch bereitwillig in alle Richtungen zu verteilen - Laranells Vorwürfe an ihn hatten sicherlich einen wahren Kern, auch wenn der Rest aus Übertreibungen bestanden hatte. Einem solchen Mann zu viel Aufmerksamkeit zu schenken war selten vorteilhaft. Sie mochte die Unterhaltungen, den ungezwungenen Ton, der zwischen ihnen herrschte, aber bei allem anderen war sie aus Erfahrung vorsichtig. Nicht nur eine unglückliche Zuneigung hatte ihr in den vergangenen Jahren Schmerz bereitet, und inzwischen hielt sie Abstand. Vor allem, wenn es sich um einen charmanten Mann handelte, zu leicht vergaß man in der Gesellschaft eines solchen, wer man war und was man selbst wollte. Den Kopf zu verlieren konnte sie sich derzeit so gar nicht leisten.
An einem Stand mit Seidenstoffen verharrte sie eine Weile und betastete mit Kennermiene die angebotenen Stoffballen. Ein leuchtend roter, mit Goldfäden üppig bestickter Stoff ließ ihre Erinnerung zu dem jungen Baronet von Brunnmark zurückkehren, dessen offensichtlich sehr verstockter Sekretär ihr vor einiger Zeit ein Schreiben gesandt hatte, in dem er um eine Unterredung für seinen Herrn bat. Dass der Baronet vom konservativen Ton seines Untergebenen nichts gewusst hatte, war beiden erst nach einer Weile klar geworden, aber Yaree war über derlei nicht überrascht. Wenn man wie die von Brunnmarks eher vom Land stammte, war das Konzept einer bezahlten Gesellschafterin eher ungewöhnlich und, für einen älteren Domestiken ganz sicher auch anrüchig, selbst wenn es an ihrer Profession nichts anrüchiges gab. Natürlich war sie darüber erfreut gewesen, dass sich ihr kühner Vorstoß im 'Flaschenhals', als sie einige Worte mit dem Baronet gewechselt und ihm schließlich ihre Dienstleistung angeboten hatte, bezahlt machte.
Das erste Gespräch war denn auch mehr als erfreulich verlaufen. Areshtan hatte erfreulich wenige Vorurteile und schien einer jener Adeligen zu sein, die über gar keine Berührungsängste gegenüber dem einfacheren Volk verfügten - sie hatten sogar ein wenig über verschiedene Verhaltensweisen gesprochen, die ihm an seinen Standesgenossen nicht gefiel. Auch die wahre Natur ihrer Profession interessierte ihn und er hatte mit intelligenten Zwischenfragen bewiesen, dass sein Geist so wach war, wie sie es vermutet hatte. Man konnte mit ihm lachen, was ebenfalls für ihn sprach - sicherlich würde er sich nicht allzu lange auf dem adeligen Heiratsmarkt befinden, auf den er von seinen Verwandten so unverhofft geworfen worden war, die meisten jungen Damen würden ihn ebenso als angenehm empfinden, wie Yaree es tat. Sie freute sich auf die nächste Verabredung, es würde sicherlich nicht schwer sein, einige interessante Stunden mit ihm zu verbringen und ihm dabei so manches in der Stadt zu zeigen, was ihm das Zurechtfinden erleichtern würde.
Sie entließ den teuren Stoff aus den Fingern und betrachtete einen anderen, den der Verkäufer gerade einem dickbäuchigen Kunden vorführte. Schimmerndes Grün, das sich bei einem Gehrock sicherlich sehr gut machen würde. Ihre Gedanken huschten weiter, verharrten bei einem Herrn, den sie erst am letzten Abend kennengelernt hatte. Den Namen seiner Familie führten so einige Menschen in der Stadt auf der Zunge, Haus Starfall war bekannt und an manchen Orten auch mit nicht ganz so vorteilhaften Gerüchten umgeben. Dennoch stellte es für Yaree einen entscheidenden Aufstieg dar, dem Grafen Denorat anempfohlen worden zu sein, selbst wenn sich das geführte Gespräch als Vorstufe zu einem Tanz auf dem Pulverfass entwickeln mochte. Die Zungen der Straße hatten nicht übertrieben - der Bankier war intelligent und geschickt, mit Worten so manchen Fallstrick auszulegen, um über ihre wahre Natur Aufschluss zu erhalten. Anderes hatte sie auch von einem Mann seiner Art nicht erwartet, wie die meisten hochstehenden Adeligen war er sehr auf seine Sicherheit und noch mehr auf Diskretion bedacht.
Doch auch eine andere Seite des Grafen hatte sich im Lauf des Abends offenbart: Er schien den leiblichen Genüssen in Form einer sehr angenehmen Mahlzeit keineswegs abgeneigt und noch mehr daran interessiert, ihren Leib mit seinem Blick abzutasten. Sie hatten Katz und Maus gespielt, und Yaree hatte sich Mühe gegeben, vieles anzudeuten, was ihre Person anging, aber nichts allzu gewiss zu gestalten. Seine Freude an feinsinniger Konversation ließ sie vermuten, dass sie in diesem Augenblick uninteressant werden würde, in dem er sich ihrer Person allzu sicher sein konnte, sie einschätzbar und benutzbar sein würde - so würde sie sich allezeit mühen müssen, nicht zu einer Figur auf dem Spielbrett des Hauses Starfall zu werden. Allzu sehr hatte er versucht, ihre Diskretion vergangenen Kunden gegenüber zu unterminieren, aber vielleicht war dies auch nur ein offensichtlicher Täuschungsversuch und hatte den eigentlichen Sinn verborgen. Dass auch er sie wiedersehen wollte und zur Jagd eingeladen hatte, nahm sie als positives Zeichen. Es würde sicherlich herausfordernd werden, ihm auch weiterhin so viele Schritte wie möglich vorauszueilen, ohne die Illusion zu brechen, vielleicht doch eines Tages zur Beute werden zu können.
Als sich Yaree von dem Stoffstand abwandte, schmunzelte sie leicht vor sich hin. Die künftigen Wochen versprachen abwechslungsreich zu werden, selbst wenn sie nur ihrer alltäglichen Profession nachging. So unterschiedliche Personen hatte sie bisher neu kennengelernt, so unterschiedliche Wege verfolgten diese. Es war ihr ganz recht, bei den meisten eher die Beobachterin zu sein denn eine wirkliche Handelnde - denn eine Gesellschafterin durfte sich keineswegs vordrängen und zuviel Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Sie schlug den Weg zum Badehaus ein und nahm sich vor, sich heute auch eine ausgiebige Massage zu gönnen. Schließlich konnte man seiner Arbeit nur dann wirklich mit Hingabe nachgehen, wenn man entspannt und zufrieden war...