Der Flacon stand seit einigen Tagen auf dem Kommodentischchen, auf dem die Gesellschafterin ihre Schönheitsmittel aufbewahrte. Unangetastet, das Siegel noch in jenem einwandfreien Zustand, in dem sie es erhalten hatte. Dennoch konnte man riechen, dass der Inhalt des Fläschchens zu ihren liebsten Duftnoten gehörte, selbst das Wachs konnte den Wildrosengeruch nicht im Zaum halten. Auch das war etwas, was Yaree an dieser Essenz zu schätzen wusste: Wildrosen waren nicht zu bezähmen, auch wenn ihre vordergründige Süße und Schönheit einen zu betören imstande waren.
Doch auch diese Rosen hatten Dornen, recht heimtückische sogar, da bei ihnen nicht jahrelange Zucht den Rosenstiel weicher gemacht hatten, die Verholzung unterbunden, wo immer es nur ging. Inmitten schönster Prachtexemplare gärtnerischer Kunst stach die Wildrose doch immer dadurch heraus, dass sie sich entwickelte, wie es ihr gefiel und sie sich nur schlecht nachzüchten ließ.
Sinnierend wog sie das Fläschchen in den Fingern, fuhr mit den Kuppen über die elegante Form, bevor sie es wieder an den Platz zurückstellte, dem sie ihm eingeräumt hatte. Noch würde sie es nicht öffnen, auch wenn die Versuchung groß war, sich mit diesem Duft vollkommen zu umgeben. Doch sie wusste nicht, wie die nächsten Monate weiter gehen würden, und noch weniger, ob sie es schaffen würde, die derzeitigen Kunden zu binden und zu halten. Keinem festen Hofstaat anzugehören konnte Vorteile haben, aber man konnte auch nicht unter den weichen, bequemen Mantel des Haushalts eines wohlhabenden Adeligen schlüpfen, um gegen Kälte und Hunger gefeit zu sein.
Sie hatte ihr Erspartes sorgsam bei verschiedenen Banken untergebracht - man wusste schließlich nie, ob ein Bankier nicht doch einen entscheidenden Fehler beging und alles verloren sein würde. Und doch stellte sich das Gefühl nicht ein, von dem sie früher geträumt hatte. Mit einem vorhandenen, selbst sehr kleinen Vermögen fühlte man sich nicht sicherer. Man musste fast noch mehr über Geld nachdenken, wie man es sicherte, wie man es mehrte, wem man es zur Verwahrung gab. Nichts zu besitzen fokussierte die Gedanken deutlicher auf den nächsten zu gehenden Schritt.
Wer hungrig war, versuchte an Essen zu gelangen. Wer müde war und kein Obdach hatte, suchte sich dieses. Diesen immer gleichen Kreislauf kannte Yaree nur zu gut aus eigener Erfahrung. Manchmal amüsierte sie der Gedanke, dass die feinen Herrschaften, mit denen sie nun zu tun hatten, zurückschrecken würden, wüssten sie, unter welchen Umständen sie einst gelebt hatte. Dass sie ganz nahe an einer derjenigen dran waren, denen sie nur mithilfe von sozialem Engagement, das dann auch das nötige Prestige abwerfen sollte, begegnen wollten.
Es war leicht, wenn man über seinen Lebensunterhalt nicht nachdenken musste und die Sorge um das eigene Einkommen von verlässlichen Untergebenen übernommen wurde, sich nur noch dem Müßiggang hinzugeben und zur Unterbrechung der ewig gleichen Abläufe ab und an etwas Gutes zu tun.
Und wie erstaunt sie waren, wenn die beschenkten Subjekte sich nicht maßlos über die gegebene Wohltätigkeit freuten. Dass auch die Ärmsten Menschen mit Stolz und Ehrgefühl waren, denen man nicht oberlehrerhaft und gönnerisch entgegen treten durfte, war den meisten nicht einmal bewusst. Sie selbst hatte es gehasst, Almosen entgegen nehmen zu müssen. Denn immer waren sie mit guten Ratschlägen garniert gewesen.
Such Dir eine Arbeitsstelle, wie oft hatte sie dies gehört. Es war so leicht gesagt und so schwer befolgt. Wer nicht einmal ein Zuhause aufweisen konnte, eine echte Straßenratte war, konnte kaum hoffen, in einem größeren Haushalt eine Anstellung zu finden, weil die Oberen der Domestiken immer fürchten mussten, dass der Neuzugang irgendwann mitsamt des Familiensilbers verschwinden würde.
So war der Ansatz, den Lady Flammenfels verfolgte, in jedem Fall der Bessere. Das Gespräch mit der jungen Dame war erhellend gewesen und hatte Yaree die vage Hoffnung zurück gegeben, dass im krytanischen Adel nicht nur Selbstsucht und Müßiggang ihre Heimat gefunden hatten. Freundlich war sie von der Adeligen empfangen worden, und bei einem Erdbeersaft hatten sie sich gegenseitig vorsichtig beschnuppert. Dass Lady Flammenfels sie eingeladen hatte, obwohl ihr das gesellschaftliche Konstrukt von Yarees Beschäftigung eher unbekannt war, sprach für die Dame, auch, dass sie über sehr viele verschiedene Themen mit hintergründigem, intelligentem Humor zu sprechen wusste. Die Stunden waren nahezu verflogen, und als sie schließlich aus dem Fenster geblickt hatte, bedauerte es Yaree, dass sie sich auf den Heimweg hatte machen müssen, um noch in einem Stück ihre Unterkunft zu erreichen.
Was die Lady für das ramponierte Waisenhaus plante, gefiel ihr, weil sie in die Zukunft dachte. Sicher mussten so einige Reparaturen und Verschönerungen durchgeführt werden, daran bestand kein Zweifel. Aber damit war es bei weitem nicht getan. Welchem Kind nutzte ein Bett mit neuen Kissen, wenn es bei Erreichen der Volljährigkeit aus dem Waisenhaus hinaus in eine Welt gehen musste, in der es keine Chance erhalten würde?
Dass die Lady nun versuchte, eine Ausbildung für die Kinder zu organisieren, fand voll und ganz die Zustimmung der Gesellschafterin, so hatte sie sich auch gerne bereiterklärt, die Jugendlichen in Etikette und Benehmen zu unterrichten, damit sie zumindest in etwas höher stehenden Haushalten als Angestellte in Betracht gezogen werden konnten. Auch auf den bevorstehenden Einkauf, bei denen die beiden Frauen ihr Möglichstes tun würden, um von den Händlern der Stadt für die begrenzten Mittel des Waisenhaus-Fonds möglichst viele Einrichtungsgegenstände zu erlangen, freute sie sich. Wenn sie vor vielen Jahren solche Möglichkeiten gehabt hätte, wäre ihr so manches erspart geblieben - aber dies konnte sie nun nicht mehr ändern.
Sie konnte nur noch versuchen, das Beste aus dem zu machen, was ihr gegeben war. Vielleicht war es ihr bei der zurückliegenden, kurzen Jagd mit Graf Starfall gelungen, ihn von den positiven Aspekten ihrer Persönlichkeit zu überzeugen. Einen solchen, bekannten Kunden durfte man nicht vergraulen, auch wenn seine Offerten bisweilen recht offensichtlich waren und sie sich langsam fragte, ob dies sein eigentlicher Wunsch gewesen war, als er sie engagiert hatte. Sie hatten sich beim Dörfchen Shaemoor getroffen und waren gemeinsam losgezogen, um im naheliegenden Wald auf die Pirsch zu gehen - er mit einem Jagdgewehr, sie mit ihrer Pistole.
Natürlich überließ eine kluge Dame dem Herrn das Jagdgeschick, sie selbst hatte sich angewöhnt, nur noch einen Fangschuss zu setzen, wenn es notwendig wurde. Nicht jedes Wild konnte man mit einem Schuss, und sei er noch so gut gesetzt, zur Strecke bringen. Dass es ihnen tatsächlich gelungen war, die Fährte eines Hirschs aufzunehmen und diesen letztendlich auch zur Strecke zu bringen, rechnete sie einem gewissen Maß Glück zu. Aber vielleicht hatte Lyssa auch nur dafür sorgen wollen, dass ihr neuer Kunde Yaree gewogen blieb - solcherlei konnte man nie wissen.
Als sie den Hirsch zurückgeschleppt hatten, erwies sich Denorat Starfall jedenfalls als einer jener Männer, die auch unter widrigen Umständen nicht zu jammern begonnen. Die schwere Last hatte er ohne zu Murren getragen, und selbst die Notwendigkeit, einen Dornbusch durchqueren zu müssen, hatte ihm keine Klage entlockt. Allenfalls in jenem Moment, in dem er versucht hatte, einen Dornenkratzer auf ihrer Wange mit einer Heilsalbe aus dem Vorrat seiner Gemahlin zu verarzten und sich somit in ihre unmittelbare Nähe zu begeben, hatte sie einen Hauch seines Unmuts bemerken können.
Wahrscheinlich geschah es einem wie ihm auch nicht allzu oft, dass sich eine Dame einer solchen Annäherung entzog, doch war dieser Versuch schlichtweg zu plump gewesen, um sie zu einem Zugeständnis zu bewegen. Sollte es ihm wirklich nur um ein körperliches Vergnügen geben, konnte er dieses auch günstiger bei willigen Huren finden, die sich beschenkt fühlen würden, von einem Grafen aus seinem Haus begossen zu werden.
Die aus diesem Abend gewonnene Information hingegen war interessant und wurde von ihr sorgsam in der für derlei bestimmten Erinnerung abgelegt. Wer konnte schon wissen, wann sich derlei Wissen einmal als nützlich erweisen würde? Nachdem sie den Hirschen zu einem Metzger in Shaemoor geschleppt hatten, waren sie getrennter Wege gegangen und Yaree freute sich auf ihren Anteil an der Beute - ein gutes Stück Hirschkeule hatte sie eine Weile nicht mehr gegessen und vielleicht würde sie es mit anderen teilen können, die es zu schätzen wussten. Wieder schweifte ihr Blick zu dem kleinen Fläschchen, dann griff sie nach dem Tintenfass, ihrer guten Schreibfeder und einem Stück gefärbten Papiers, um eine Nachricht zu verfassen, die diesem Geschenk würdig wäre. Eine weitere Investition in einige sicherere Monate, aber auch ein kleines Quentchen Vergnügen.