Wir sind Kinder des Wolfes. Alleine zu kämpfen macht uns nicht aus, denn im Rudel erfährt unser Feind die Stärke, die nur dort zu finden ist. Die Loyalität untereinander, das Leben miteinander, das Schützen der Schwächsten in unseren Reihen, das macht uns aus. Gemeinsam, Seite an Seite, lassen wir unseren Ruf ertönen.
Abschied
Eisig kalt drängte sich der stechende Schmerz in ihre Brust und sie konnte ihren halb verzweifelten und halb zornigen Schrei nicht hören, doch sie wusste, dass sie schrie. Genauso, wie sie wusste, dass ihr Leben genau jetzt sein Ende finden würde. Krampfhaft hatten sich ihre Finger um die Klinge geschlossen um sie aufzuhalten, zwecklos, das war sicher. Und doch war der Stahl, der sich in ihre Finger schnitt ein unbemerkter Schmerz. Heiß und klebrig zog sich das rote Gut über ihre Haut, rann unter das Leder, welches sie einhüllte und von ihren Händen hinab zu den Ellenbogen, wo es in dicken Tropfen auf den Boden fiel. Es war ihr, als könnte sie sie hören. Ein letztes Mal hob sie den Blick an und schaute in die, von einem selbstgefälligen Grinsen verzogene Fratze, die ihrem Vater gehörte. Eisige Kälte umgab den Schamanen der Svanir, der einst ein stattlicher Norn gewesen war. Die Lippen aufgeplatzt und von leichtem Reif bedeckt und in den - schon immer so kühlen - braunen Augen kein Zeichen von Reue oder Liebe. Einzig der Hass, den er nach so vielen Wintern offen zeigte, war zu sehen. Und wie der Blick der Kriegerin leer wurde, ging ein rascher Ruck durch ihren Körper, auf welchen sie mit einem dumpfen Schlag zu Boden ging. Haare, Haut und Kleidung wurden in ihrem eigenen Blut getränkt. Jedoch nur kurz, denn abermals ging ein Ruck durch den leblosen Körper, als er an den braunen Zöpfen hinauf gezogen und weggeschleift wurde.
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Zwölf Winter waren es. Zwölf Winter in denen sie, Raija, ihre Tochter von einem Ort zum Nächsten gebracht hatte. Denn die Pflicht des kleinen Rudels gab ihnen niemals eine Pause. Gipfelwächter waren es. Eine kleine Gruppe aus Norn, die sich zusammen gefunden hatte, um denen zu helfen, die Hilfe brauchten. Um die auszumerzen, die es verdient hatten. Ein ewiger Kampf gegen die Gefahren der Zittergipfel. Doch waren es nur noch Raija und Tjore, die von der Kluft wussten und den Taten, die sie viele Winter zuvor erbracht hatte. Dennoch wurde nie wieder ein Zug gegen die Klaue angeführt. Denn schon damals, als ihre Tochter gerade wenige Winter zählte, entschied sich Raija aus gutem Grunde für ihre Familie und gegen die Kluft. Niemand hatte es je verstanden. Ausgelacht wurde sie, als feige beschimpft. Keiner wusste, dass es die schwerste Entscheidung gewesen war, die sie in ihrem Leben hatte treffen müssen. Heute aber, als sie ihrer Tochter erneut gegenüber stand, gerüstet mit Schwert und Axt, bepackt mit einem Rucksack voller Proviant und mit ihrem Rudel im Rücken, da fiel ihr die Entscheidung schwerer als bei ihren letzten Aufbrüchen. Vielleicht lag es daran, dass sie sich ebenso wohl fühlte wie ihre Tochter. Hier in Hoelbrak in der Hütte des Wolfes. Gemeinsam mit ihrem Rudel. Vielleicht lag es aber auch daran, wie ihr liebster Schatz zu ihr hinauf blickte, mit diesen großen braunen Augen, dem strubbeligen Haar und der grünen Farbe im Gesicht. Keine einzige Träne rann über die Wangen des Mädchens, wie es hinauf schaute. Und doch wusste Raija, dass ihre Tochter kämpfte. Sie wusste, dass jeder Abschied der Letzte sein könnte. Und sie war sich sicher, dass ihr Mädchen, ihre Iida, es auch genau wusste. Dennoch hatte sie nie einen Aufstand gemacht. Hatte nie geschrien oder getobt. Hatte nie geweint oder gejammert. Es lag nicht daran, dass das Kind nie weinte - beim besten Willen, sie weinte sogar oft! Aber nie, wenn das Rudel wieder aufbrach. Ein vorerst letztes Mal strich Raija ihrer Tochter über die Wange und strubbelte das Haar durch, das vorne zu kleinen Zöpfen geflochten war. "Heeh! Meine Zöpfe!" quietschte die Kleine auf und schaute mehr als empört zu ihrer Mutter auf. Einen Augenblick lang hielt die Kriegerin den Blick. Gefasst und ernst. Mit einem Ruck jedoch kam sie hinunter und schloss ihr geliebtes Gör in die Arme. "Und dass du mir nichts anstellst. Und hör immer auf 'Nia...meistens, jedenfalls." Sie lachten beide, seufzten darauf leise. Die Zeit war gekommen. Rasch löste sich die stolze Kriegerin von dem Kind, das selbst keinen Moment lang nachgriff oder um eine weitere Umarmung bettelte. Und wie Raija mit ihrem Rudel die Wolfshalle verließ, da folgten ihnen anerkennende Blicke von verschiedensten Norn. Jedoch nicht der Blick des kleinen Mädchens.
Der Schnee empfing das Rudel direkt vor der Hütte. Es dauerte auch keinen Moment länger, denn als der Wind das weiße Treiben aufpeitschte, da rannen heiße Tränen über die Wangen der stolzen Kriegerin, die Schritt für Schritt weiter marschierte. Hoch in den Norden. Das war ihr Ziel. Dort würden sie ein Lager der verdammten Drachenlecker ausmerzen. Doch zuerst würde ihr Weg sie bei den Familien vorbei führen.
Und drinnen in der Halle des Wolfes? Dort stand ein Mädchen, das den Tiegel mit der grünen Farbe aufdrehte, den Finger hinein tauchte und einen weiteren Strich quer über das Gesicht zog.
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Lachend stand er da. Umringt von seinen Anhängern, die ihre Waffen unter lautem Johlen in die Luft hielten. Zwischen den gröhlenden Drachenanhängern lagen noch die Leichen der einst so starken Kämpfer und Kämpferinnen. Ein weiteres Rudel war von ihnen, den Größten unter den Kriegern, ausgelöscht worden. Sie hatten nie eine Chance gehabt, diese törrichten Wolfshuren und Söhne, sie kämpften wie ein lausiges Pack Grawle. Und selbst die waren noch besser im Umgang mit ihren Waffen. Mit einem grausigen Grinsen betrachtete er sein Werk und schritt dann den kleinen Hang hinauf, der von Eis und Reif überzogen war. Dort prangte er. Starrte aus seinen eisigen Augen heraus auf das Machwerk seines treusten Anhängers. Der Schamane neigte sein Haupt vor dem Totem des Drachen. Dem einzig wahren Geist der Wildnis. Dem Stärksten und Mächtigsten.
"Eine noch, oh Svanir...oh Jormag, der uns seine Macht schenkt! Eine, dann ist es vollbracht!"