Seraphen und andere Probleme
Der Winter hatte Götterfels fest im Griff. Die Stadt lag unter einer dicken Schneedecke begraben. Das war die härteste Zeit des Jahres. Viele Einwohner starben an Krankheiten, Hunger oder erfroren auf der Straße – zumindest jene, die sich nichts Besseres leisten konnten.
„Ich hab Hunger“, murrte Elyzabet.
Mirage seufzte und rieb sich den knurrenden Bauch, dann bliebt sie abrupt stehen und deutete auf einen Dachvorsprung: „Da, da oben! Erschieß den Vogel!“
Der Rotschopf zückte die Zwille und richtete sie aus. Ein kleiner spitzer Stein sollte als Geschoss dienen. Elyzabet spannte das elastische Band, zielte und ließ los. Der Stein flog in hohem Bogen, doch statt das Tier zu erlegen, traf er eine Glasscheibe. Von innen hörte man zuerst den erschreckten Schrei einer Frau, dann das laute Fluchen eines wütenden Mannes.
„Oh–oh!“, raunte Mirage, die bereits zur Flucht ansetzte, „Schnell weg!“
Die Tür des Hauses wurde ruckartig aufgeschlagen.
Elyzabets schluckte.
„Lauf!“, bellte Mirage die sich bereits ein ganzes Stück weit entfernt hatte und nun zu ihrer Freundin blickte, die wie angewurzelt auf der Straße stand und entgeistert zu der Tür blickte, bevor auch sie endlich zu laufen begann.
Mirage griff in den Schnee und formte einen Schneeball den sie mit all ihrer Kraft in Richtung des wütend schaubenden Mannes warf, der nun die Verfolgung aufnahm. Bei seinem Versuch auszuweichen trat er auf eine kleine Eisfläche, rutschte und fiel zu Boden.
Das dunkelhaarige Mädchen lachte auf, zog mit ihrem Zeigefinger ihr Augenlid herunter und streckte ihm die Zunge heraus.
Die Jüngere drehte sich um und tat es dem Lockenkopf gleich, bevor sie gemeinsam das Weite suchten.
„Ich hab sooooo Hunger!“, jammerte Elyzabet weiter und blickte ihre Freundin mit großen Augen an.
„Hättest du den Vogel getroffen, hätten wir was zu Essen gehabt“, fauchte Mirage zurück und schnaufte, bevor sie weiter eilte, dann aber vor einem Geschäft stehen blieb. „He, Ely komm her, ich zeig dir was!“
Im Inneren saßen einige Adlige die sich warmen Tee und Kuchen schmecken ließen, während sie sich angeregt unterhielten.
„Was denn?“ fragte der Rotschopf und trat neugierig näher. Das ältere Mädchen holte tief Luft und hauchte gegen das Glas sodass dieses beschlug ehe es mit einem Finger ein lachendes Gesicht malte. Elyzabet lachte und probierte es selbst. Mirage beobachtete unterdessen durch die Spiegelung im Glas einen gut gekleideten Mann. An seinem Gürtel hing ein dicker Beutel und in einer Hand hielt er ein noch warmes Brot das in der kalten Luft noch dampfte.
„Komm mit!“, befahl der Lockenkopf, fasste die Freundin am Handgelenk und zog sie hinter sich her. Schon bald fanden sie sich in Rurikstadt wieder. Zwischen den Mädchen und dem Mann mit dem Brot waren kaum mehr fünf Meter Abstand, doch Mirage machte noch keinerlei Anstalten sich ihm weiter zu nähern.
Als er schließlich in eine Seitenstraße einbog, wisperte sie, „Du wartest hier und rührst dich nicht, klar! Keinen Mucks, ich hol uns jetzt Essen!“, und schnipste der Kleinen mit zwei Fingern gegen die Stirn.
Elyzabet rieb sich die Stelle und wollte etwas erwidern, doch Mirage war schon hinter der Häuserecke verschwunden.
Vorsichtig setzte Mirage einen Fuß vor den anderen und holte schnell auf. Der Mann hatte sie offenbar noch nicht bemerkt. Sie atmete noch einmal tief ein und aus, blickte nach rechts und links und rannte los. Doch der Schnee unter ihren Füßen knirschte laut, der Mann drehte sich um. Das dunkelhaarige Mädchen stand nun direkt vor ihm und griff nach dem Brot, konnte es ihm jedoch nur aus der Hand schlagen.
„Eine kleine Ratte“, knurrte er und blickte sich um, ehe er wild mit den Armen zu fuchteln begann und laut schrie, „Diebin, haltet die Diebin!“
Daraufhin kamen zwei Seraphen herbeigeeilt, musterten den wild gestikulierenden Mann und Mirage, die nun losstürmte und folgten der Fliehenden.
Die kleine Diebin kraxelte den Brunnenrand hinauf, rutschte und stolperte über das gefrorenen Brunnenwasser, ehe sie auf allen Vieren wieder im Schnee landete.
„Stehenbleiben!“, befahl der Wächter.
Mit einem kräftigen Ruck wurde der Lockenkopf nach hinten gerissen. Der Seraphen hatte ihren Umhang zu fassen bekommen. Mit einer raschen Handbewegung öffnete Mirage die Schließe und rollte sich zur Seite. Der eisige Wind ließ sie schaudern. Sie wollte davon sprinten, rutschte jedoch auf dem vereisten Grund aus und landete bäuchlings auf dem Pflaster, konnte sich aber rasch wieder aufrappeln und stürmte los.
Sie kannten diesen Teil der Stadt nicht gut. Deswegen war es schwierig, nicht in Sackgassen zu rennen und die richtigen Ecken zu finden, um sich zu verstecken.
An einer Häuserwand rannte das aufgewühlte Mädchen rechts herum und warf einen Blick über die Schulter um Ausschau nach ihren Verfolgern zu halten. Doch dadurch geriet Mirage nur wieder ins Rutschen.
Ein junger Ministerialwächter beobachtete ihren Sturz, trat einen Schritt nach vorne, rutschte selbst aus, landete neben ihr und betrachtete sie erstaunt. Der Lockenkopf lag regungslos im Schnee und starrte den Mann für einen Augenblick an, als wäre er Grenth persönlich.
Elyzabet war ihr gefolgt, rutschte aber ebenfalls auf dem eisigen Untergrund aus und landete direkt auf dem Rücken ihrer Freundin. Mirage keuchte auf, konnte sich dann aber aufrappeln. Hinter ihnen hörten sie bereits das Gebrüll der Seraphen. Schützend stellte sich Mirage vor den Rotschopf, ohne den Ministerialen aus den Augen zu lassen. Der schwarzhaarige junge Mann erhob sich nun ebenfalls, etwas schwerfälliger, griff sich an den Bart und strich diesen glatt. Er war groß und breit genug die beiden Mädchen vor dem Blick der Seraphen zu verstecken. Er wendete seinen Kopf in die Richtung der Rufe. Als er die Verfolger näher kommen sah, nickte er knapp zur Seite, wo sich eine schmale Gasse befand. Ungläubig blickten die Mädchen einander an ehe sie hinein stürzten.„Habt Ihr so eine braunhaarige, kleine Diebin gesehen?“, fragte einer der Seraphen keuchend.
Der Ministerialwächter verschränkt nur die Arme vor der Brust: „Nein.“
„Dann muss sie in die andere Richtung gelaufen sein.“
Der junge Ministeriale nickte, der Seraph wendete und verschwand.
Als die Luft wieder rein war. wandte sich der schwarzhaarige Mann den Mädchen zu, die am Ende der Gasse kauerten. Er ging auf sie zu und wollte eine Hand ausstrecken, um ihnen aufzuhelfen, doch Mirage beugte sich rasch vor Elyzbat, als wollte sie diese vor einer Ohrfeige beschützen. Der Mann hob eine Augenbraue und musterte sie noch mal eingehend: „Zwei kleine Diebinnen also.“
Mirage ließ ihn nicht aus den Augen, verfolgte jede seiner Bewegungen misstrauisch. Der Mann nickte nur beschwichtigend, dann griff er an seinen Gürtel und löste einen ledernen Beutel, öffnete ihn und holte ein in Seidenpapier geschlagenes Päckchen hervor. Er hielt es den beiden Mädchen entgegen. Vorsichtig wollte die Dunkelhaarige danach greifen, doch er ließ nicht sofort los. Mirage funkelte ihn gierig an und zerrte heftiger an dem Päckchen. Prompt saß die anfangs erwartete Ohrfeige in ihrem Gesicht.
Elyzabet jaulte auf als Mirage sich wegdrehte und die schmerzende Wange hielt.
„Du wirst nie wieder klauen, verstanden! Wie heißt ihr zwei?“, fragte er mit strenger Stimme und musterte Elyzabet die ihr Gesicht an das ihrer Freundin drückte. Noch immer hielt er den Mädchen das Päckchen und hin diesmal entriss Mirage es ihm mit einem kräftigen Ruck. Sie reichte es an ihre kleine Begleiterin, die das Päckchen sofort unter ihrem abgewetzten Mantel verschwinden ließ.
„Ich heiße Mirage“
„Und das ist deine Schwester?“
Mirage zögerte einen Moment, dann nickte sie
Der Mann musterte die beiden noch immer streng. „Mein Name ist Varus Kastella“, er trat zur Seite und gab den Weg aus der Gasse frei, „Jetzt verschwindet, bevor die Seraphen zurück kommen!“
Intro
Es gibt zwei Sorten von Ratten
Die gemeinsame Kindheit mit Mirage
Ein Tag wie jeder andere
Geburtstag
Seraphen und andere Probleme
Der neue Klingenmeister
Weil sie uns niemals kleinkriegen werden
Henry von Greifenstein
Das Ende der Freundschaft zu Mirage
Blut
Wir. Töten. Diese. Ratte.
Kein Feuer so heiß *Spoilerwarnung*
Das Feuer
Erinnerungen