Freundinnen
Das Mädchen, das sich eines Tages Mirah Noemi Alavi nennen würde, stand regungslos und mit geschlossenen Augen auf einem Bein. Ihre Handflächen berührten sich auf Höhe ihres Brustbeins, ihre Unterarme bildeten eine gerade Linie paralell zum Boden und ihre Ellenbogen zeigen nach Außen. Das freie Bein hatte sie seitlich angewinkelt, ihre nackte Fußsohle ruhte dabei oberhalb des Knies an der Innenseite ihres Schenkels.
Das allein mochte bereits ein ungewohnter Anblick sein, doch auf ihrem Kopf balancierte sie eine Waffe mit gebogener Klinge - einen Scimitar.
Der Wind wehte durch ihr schulterlanges schwarzes Haar, das im Licht der Sonne hier und da blau schimmerte.
„Was machst du da?”, fragte die Tochter des Wagenbauers, die diesem seltsamen Schauspiel eine Weile stumm beigewohnt hatte. Das Mädchen zählte etwa zehn Sommer und war damit einige Jahre älter als die regungslos da Stehende.
Der Krummsäbel geriet ins Schwanken, als ein Ruck durch ihren Körper ging und sie die Augen öffnete, um das andere Mädchen anzusehen.
„Was?”, die Waffe glitt von ihrem Kopf und landete mit lautem Klirren auf dem Boden.
Die Tochter des Wagenbauers sah sie erschrocken an. „Ich wollte nicht... es tut mir leid... ich...”, brachte sie hervor und wollte zu dem anderen Mädchen stürzen und den Säbel wieder aufheben. Doch dieses war schneller und ergriff die Hand der Älteren, um sie davon abzuhalten.
„Das ist ein echter Säbel, mit einer scharfen Klinge”, erklärte sie mit einer fremdartigen Färbung in ihrer Sprachmelodie.
„Ist das nicht gefährlich?”
„Natürlich ist es das. Deswegen muss ich es üben”, erwiderte die Jüngere lächelnd und gab die Hand wieder frei.
„Wozu ist das gut?”
„Tanzen”
„Aber du hast dich gar nicht bewegt!”
„Du hast mir zugesehen?”
Die Tochter des Wagenbauers.
„Eines Tages werde ich mit dieser Klinge auf dem Kopf tanzen und sie wird nicht herunterfallen”
„So einen Tanz habe ich noch nie gesehen!”
„Es ist ein sehr alter Tanz - aus Elona”
„Elona?”
„Das Land der goldenen Sonne. Es ist weit weg von hier”
„Deswegen sprichst du auch so komisch?”, kaum hatten die Wörter ihren Mund verlassen, schlug die Zehnjährige ihre Hände vor diesen und blickte schuldbewusst zu Boden, „Es tut mir leid... ich...”
Das Mädchen, das sich eines Tages Mirah Noemi Alavi nennen würde, lachte: „Ja. Mutter und Großvater sprechen auch so. Sie sagen, unsere Familie sei sehr alt und stamme aus Vaabi. Das ist eine Provinz in Elona. Deswegen benutzen wir manchmal Wörter, die ein bisschen anders klingen. Aber ich kenne sonst niemanden von dort.”
Die Tochter des Wagenbauers nickte ernst: „Ich auch nicht. Warst du denn schon mal da?”
„Nein. Mutter und Großvater sagen, man kann dort nicht hinreisen”
„Warum?”
„Es ist zu gefährlich dort. Warum haben sie mir nicht gesagt”
”Kommt dein Vater auch aus Vaabi?”
„Nein, er kommt aus Götterfels, so wie sein Vater und dessen Vater vor ihm auch”
„Also spricht dein Vater so wie ich?”
„Ich glaube schon. Aber Vater lebt in Götterfels. Ich sehe ihn nicht oft”
„Oh”, erwideter das ältere Mädchen und sah sie ein wenig traurig an, „Warst du schon mal in Götterfels?”
„Ja. Mutter und ich besuchen ihn manchmal dort”
„Und kommt er denn auch hierher?”
„Nie. Großvater mag Vater nicht, glaube ich”
„Oh”, machte das Mädchen erneut, doch bevor es wieder traurig gucken konnte, lachte die kleine Elonierin ihr freundliches, helles Lachen. „Sie gucken sich immer so komisch an”, sie ahmte den grimmigen Blick ihres Großvaters nach, „und reden gar nicht, wenn sie sich sehen”
Dann standen sie eine Weile im Licht der Sonne, die langsam ihre Bahn in Richtung Götterfels zog.
„Lebt dein Vater hier?”, wollte das Mädchen wissen, das eines Tages Mirah Noemi Alavi sein würde.
„Ja. Alle nennen ihn nur den Wagenbauer”
„Und deine Mutter?”
Da sammelten sich Tränen in den Augenwinkeln der Größeren und rannen schließlich über ihre Wangen: „Sie ist gestorben, als ich noch ganz klein war. Ich erinnere mich nicht an sie.”
Das elonische Mädchen trat einen Schritt auf sie zu und schloss sie behutsam in die Arme: „Wir können Freundinnen sein, wenn du willst”
„Je-etzt”, die Tochter des Wagenbauers schluchzte, „ha-abe ich dei-ein Kleid na-nass ge-gema-acht”
„Das ist nicht schlimm”
„Wir-rklich nicht?”
Die Kleine begann dem älteren Mädchen mit einem Zipfel ihres Kleides vorsichtig das Gesicht trocken zu wischen. „Ich bringe dir alles bei, was ich über die Tänze aus Elona weiß und du bringst mir alles bei, was du weißt! Würde dir das gefallen?”
„Ja!”
„Ich heiße Nileyn Mirah aban Mireya Noemi ma'alli Shad - aber Mutter und Großvater rufen mich Mirah.”
„Ich bin Jonvenn Vindurin”, sie blinzelte ein wenig verlegen, „Aber Jonvenn reicht.”
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