((Recht starke Spoiler fürs White Mantle-RP))
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~ Königintal, fünf Tage zuvor ~
Der Besprechungssaal des Cochrane-Anwesens, weitläufig und holzverkleidet im neukrytanischen Herrenhausstil, war mit roten und weißen Bannern hergerichtet wie zu einem Staatsempfang. Obadiah Hadrick trug als einziger eine Rüstung - sogar der Justiziar hatte stattdessen die rot-weißen Ordensroben gewählt, prunkvoller noch als die der Magier. Flüchtig betrachtete Obadiah seine Mitstreiter.
Elias d'Souza hielt locker seinen linken Unterarm umgriffen und lehnte auf der weiten Parierstange seines gescheideten Zweihandschwertes, und Raevynne Rathmore hatte sich zu einem Whiskeyglas verholfen, obwohl ihre Arme - wie zumeist, seit er sie kannte - straff vor der Brust verschränkt blieben. Beide standen mit Obadiah zusammen ein Stück im Hintergrund. Er hätte es anfangs kaum glauben können, aber der Mesmer und die Sklaventreiberin waren in den letzten Monaten zu seinen wichtigsten Ankerpunkten geworden. Seinen letzten beiden Stützpfeilern. Sie waren nicht so wie er, das wusste er. Keine Ritter, keine der gerüsteten Frontbrüder, die er im Blutsteindesaster verloren hatte, aber sie waren dennoch Kameraden. Obadiah hatte gelernt, sich mit Elias' flamboyanter Art zu arrangieren, die schwertschwingenden Klone des waghalsigen Magiers waren so gute Kampfpartner wie jeder andere. Sie hatten zusammen einen Eid auf Lazarus geschworen, einen Eid, immer gemeinsam zu stehen, und Obadiah war zuversichtlich, dass er einen guten Kameraden gefunden hatte. Er hatte genauso gelernt, Rathmores herablassende Art und ihre schaurige schwarze Schminke zu wertschätzen, denn beides half ihm mit der Buße an den Unsichtbaren. Manches Mal, wenn sie ihm die Geißelpeitsche schwang, verspürte er ein unziemliches Verlangen nach ihr, das er sich jedoch rasch unter weiteren Hieben austreiben ließ.
Die Herrin des Hauses hatte sich weiter vorn neben den Justiziar gestellt. Sogar ihre Roben glichen einander, mit der hohen zweigeteilten Haube, den vergoldeten Schulterstücken, dem kunstvoll eingestickten Ordenswappen, weiß auf rotem Überwurf. Nur die Amtswürden hoben ihren gesalbten Anfüher ein Stück prunkvoller hervor als die Gelehrte. Es versetzte dem Ritter einen Stich, Charity Cochrane und Michael Severino so zu betrachten. Ein Ziehen in seiner Brust, mit dem sich selbst das unangenehme Kribbeln an der Seite seines Kopfes nicht messen konnte. Intuitiv wanderte Obadiahs Rechte nach oben, an die Stelle, wo sein linkes Ohr gewesen war. Erst seit ein paar Tagen war der Verband ab, und die knubblige Erhebung rosafarbenen Narbengewebes darunter schmerzlich offensichtlich. Aber er verschwendete keine Gedanken mehr an seinen falschen, ketzerischen Bruder. Seine Sorge galt seiner wahren Familie. Er konnte die Augen nicht vom breiten Rücken des Justiziars und der schlanken Gestalt der Gelehrten neben ihm nehmen. Sie standen so perfekt beeinander, ganz so, als sei alles in bester Ordnung, der rechte Pfad klar vor Augen. Nichts wünschte der Ritter sich mehr, als dass es die Wahrheit wäre. Aber er hatte zu viel gesehen und gehört. Wenn er doch nur wüsste...
"Seine Exzellenz, Inquisitor Godfrey!" Die Ankündigung des Hausdieners Ansgar riss ihn aus seinen Gedanken.
Durch die aufschwingenden Türflügel trat eine sechsköpfige Gruppe in den Saal. Zwei davon waren nur Banditen, kräftige Männer in grobem Leder, schwer bewaffnet mit Schwertern, Pistolen und Messern, die respektvoll nahe der Tür zurück blieben. Zwei weitere Kämpfer trugen die schweren weißen Rüstungen der Ritterschaft, und Obadiahs Herz schwoll mit Freude, aber er bekam nicht die Zeit die beiden genauer zu betrachten, denn daneben stapfte der größte Mensch, den er in seinem Leben je gesehen hatte. Weit über zwei Meter schoss die Gestalt in die Höhe, vielleicht eine ganze Haupteslänge mehr. Und obwohl unter der langen, teilweise gepanzerten Lederkluft des Mannes starke Muskeln liegen mussten, wirkte er schlaksig durch den unnatürlichen Riesenwuchs. Wenn es denn überhaupt ein Mann war. Das Haupt war durch dunkles Tuch bis auf das violette Augenpaar vollständig verhüllt, und auf dem Rücken des Hünen befand sich ein ebenso riesiges Zweihandschwert, enorm überdimensioniert, aber klassisch im Stil des Ordens geschmiedet.
Ihnen allen voran ging ein Mann, den Obadiah nur mit Mühe wiedererkannte. Aus dem ehrgeizigen Späher von damals und war ein Mann von Rang und Namen geworden. Fort waren das blutrote, weiß bestickte Wams und das straff gezogene Kopftuch, lange eingetauscht gegen einen kurzen, weißen Ledermantel mit roten Akzenten. Sogar sein Gesicht war ganz anders als früher, besser genährt und ebenmäßiger, geziert von einem schimmernden Monokel. Adieu, Sucher Godfrey, sehnig und anmutig, stets ruchlos effizient; Auftritt Inquisitor Godfrey, extravagant und nobel, mit einem makellosen Lächeln.
"Meine lieben Freunde! Gepriesen sei Lazarus." Mit ausgebreiteten Armen schritt der Inquisitor durch den Raum. "Ich bin wahrhaft entzückt, dass wir uns endlich wiedervereinigen können." Sein Blick glitt über die einzelnen Gesichter. "Justiziar Severino.. oh, meine liebe Raevynne.. ach, seid Ihr das, Ritter Hadrick? Zwei Ohren sind überbewertet, was?" Obadiahs Ohr begann wieder zu jucken, obwohl es garnicht mehr da war, aber Godfreys Blick war schon weiter über Elias geglitten, über die Gelehrte, welcher er selig zuschmunzelte, und zurück zu Severino.
"Na wenn das mal nicht Sucher Godfrey ist." Sklaventreiberin Rathmores Gesicht zeigte unter ihrer Maske und all der Schminke ein ungewohnt reizendes Lächeln. Die metallenen Klauen an ihren Fingern klimperten gegen das Whiskeyglas. "Gut seht Ihr aus, Bruder."
"Inquisitor, meine Liebe, Inquisitor, im Gegensatz zu dir habe ich es zu etwas Gesittetem gebracht.", feixte der Inquisitor zurück, dann tilgte er seinen Schalk und widmete sich ganz dem Justiziar. Dieser trat ihm ein Stück entgegen, und sie schüttelten einander die Hände. Formal waren sie von etwa gleichem Rang, aber ihre Aufgabenfelder hätten kaum unterschiedlicher sein können. Severino überragte den Inquisitor außerdem deutlich, größer und von beeindruckenderer Statur, aber da war etwas an Godfreys Lächeln, das Obadiah ein mulmiges Gefühl gab. Etwas, das früher nie dagewesen war.
"Kaum ist er Inquisitor, bin ich eine Liebe - glaubt man das?", raunte Rathmore direkt neben Obadiah in leisem Amüsement gen Elias.
"Inquisitor, lange ist es her.", sagte Severino. "Aber wie ich sehe, hat es Euch an Nichts gemangelt."
"Nun, das kann man womöglich sagen. Mir kam zu Ohren, Ihr hattet letzthin weniger Glück." Der Inquisitor trat einen Schritt beiseite und stellte seine Begleiter vor. "Den Verschworenen-" Es folgte ein Deut gen des befremdlichen Riesen, der keinen Ton von sich gab. "-meinen treuen Assistenten, kennen sicher manche noch. Ich stelle außerdem vor: Nataleigh Ainsworth, bislang Ritterin, nun bald in Exekutorenausbildung unter dem Verschworenen, und Ritter Nathaniel Roberts, ein Bruder aus der Festung der Treuen. Fünf weitere Männer haben wir noch ins Anwesen gebracht, Überlebende vom ehrwürdigen Haus Ainsworth, welches Lazarus treu war."
Die beiden Gerüsteten traten vor, als sie präsentiert wurden. "Ruhm den Ungesehenen, Justiziar.", sagte Nataleigh Ainsworth, eine große, blonde Frau mit kaltem Gesicht. Sie trug zwei Schwerter. Eines am Gurt, und ein weiteres, zweihändiges auf dem Rücken.
"Ehre den Ungesehenen, es ist mir eine Freude nach so langer Zeit wieder Gleichgesinnte zu sehen." Den Ritter Roberts, dunkelhaarig und bewaffnet mit einem Zwillingspaar Streitäxte, erkannte Obadiah tatsächlich entfernt aus der Festung wieder, auch wenn er zweimal hinsehen musste, bevor er sich sicher war. Roberts verneigte sich, Ainsworth stand schnurgerade, sandte allerdings ein mildes Lächeln gen Lady Cochrane. Obadiahs Hoffnung auf gleichgesinnte Ritter schwand langsam. Er wünschte, er hätte den Grund dafür in Worte fassen können.
"Ehre Lazarus.", grüßte Severino zurück und nickte nur.
"Hervorragend!" Der Inquisitor schien von den abgeschlossenen Vorstellungen ganz begeistert zu sein. "Jetzt da wir uns alle ein wenig näher gekommen sind, und in Anbetracht der Tatsache, dass nunmehr die Aufgabe ansteht, diese getreuen Brüder und Schwestern gemeinsam unterzubringen, will ich keinerlei Zeit verschwenden und die wichtigen Dinge gleich im Vorfeld klären. Würdet Ihr die Gnade besitzen, Lord Justiziar, mich darüber zu erleuchten..." Godfreys Gesichtszüge kühlten rasant ab, und sein Blick löste sich nicht mehr von dem Justiziar, während die Stimme überraschend in verächtliche Schärfe umschlug: "...was im Namen aller Ungesehen die je gelebt haben wohl in Euch gefahren ist, dass Ihr nach monatelanger, nichtsnutziger Abwesenheit aus der Arbeit der Gerechten mit Euren uniformierten Glaubensleuten durch ein krytanisches Dorf flaniert wie ein wahnsinniger Tölpel? Es grenzt an ein Wunder, dass Ihr nicht gesehen wurdet. Dass Ihr für Euren leichtsinnigen Frevel nicht bezahlen musstet!"
Obadiah spürte, wie sich ihm alles zusammenzog. Er hatte nicht den Schimmer einer Ahnung, wie der Inquisitor davon hatte erfahren können, wo doch die Lady Cochrane sofort Säuberungsmaßnahmen ergriffen hatte. Aber es spielte auch keine große Rolle. Wenn er ehrlich mit sich war, nicht die mindeste. Eilig tastete sein Blick über die Reaktionen im Raum. Charity Cochranes Gesicht war eine ernste Maske beleidigter Mühen. Rathmores Kopf hob sich beim Wörtchen 'Frevel' ein merkliches Stückchen, Elias verlagerte in räuberischer Unruhe sein Standbein und Ritter Roberts verschränkte langsam die Arme vor der Brust. Nataleigh Ainsworth grinste einfach nur, während die drei Lakaien des Inquisitors keinen Finger rührten. Das Schweigen war ihnen allen gemeinsam. Allen, bis auf einen.
"Nichtsnutzige Abwesenheit?", wiederholte Justiziar Severino in hartem Tonfall. Seine Augen waren durchbohrend auf Godfrey gerichtet. "Eure Arbeit, so gern Ihr sie auch gemacht habt, ist nutzlos. Und wagt es nicht, mich zu kritisieren, erst recht nicht wenn das schwerste was Ihr je bekämpft habt Euer Ego ist."
Einen Moment lang war der Ritter perplex. Es schien ihm für den Bruchteil einer Sekunde so, als würde der Justiziar nach all den Monaten, hier, in diesem entscheidenden Moment, endlich zu der Autorität finden, die er sich einmal von ihm erhofft hatte. Aber der Angesprochene wirkte weniger beeindruckt. Als Inquisitor Godfrey lachend den Kopf in den Nacken warf, verging auch Obadiah der Moment der Hoffnung.
"Meine Arbeit, Justiziar Severino, ist nutzlos?" Das Lachen wich rasch einem frostigem Ernst. "Während Ihr blind und geschlagen durchs Nichts getaumelt seid und in Eurer sündhaften Inkompetenz geschwelgt habt, habe ich es vollbracht, die lokale Struktur der Anhänger Caudecus' nicht nur erfolgreich zu infiltrieren sondern auch zu kontrollieren, zu dem Punkt an dem ich bald in der Lage sein werde, das Konstrukt der Ketzerei in sich zusammenstürzen zu lassen wie ein Kartenhaus. Ihr glaubt nicht an meine Arbeit? Nennt sie nutzlos und zweifelt an ihr? Ich werde Euch eine Kostprobe demonstrieren. Euch allen." Godfrey trat langsam nach hinten, schien blind seinen Weg neben einen Tisch zu finden und zitierte mit vager Gestik einen der beiden Banditen herbei. "Frank, wenn du so gut wärest. Und bitte, Ihr alle, tretet näher und seht her."
Der Bandit, ein starker Kerl mit langen schwarzen Haaren, trat von der Tür heran und überreichte dem Inquisitor eine Umhängetasche aus teurem Leder. "Bitte, tretet heran.", fordete der Inquisitor nochmals auf. Es dauerte einen Moment, bevor sich alle im Halbkreis um den Tisch versammelt hatten. Obadiah folgte mit aufeinander gepressten Zähnen erst, nachdem Elias und Rathmore ihm voran getreten waren. Das Gefühl einer Wiedervereinigung war ihm vergangen. Gelehrte Cochrane sah schuldbewusst aus, aus welchem Grund auch immer. Rathmore führte das Glas an ihre schwarz geschminkten Lippen. Ihre Arme waren nicht länger verschränkt, dafür jedoch die des Justiziars, der in abwartender Verachtung dreinblickte.
Inquisitor Godfrey legte die Tasche ab, nachdem sein Handlanger wieder fort getreten war. Er zog einen flachen Gegenstand daraus hervor, etwa tellergroß, aber solide und doppelt so hoch. Das glatte, matt bearbeitete Metall mit den arkanen Gravuren und dem rötlich schimmernde Energiekristall in der Mitte dessen legten die Vermutung nahe, dass es sich um gottloses Teufelszeug handelte. Stirnrunzelnd betrachtete Obadiah das fremdartige Ding. Er hatte ähnliche Verarbeitung früher zumindest einmal bei diesen minderwertigen Inquestur-Asura gesehen, mit denen zu arbeiten der Orden gezwungen gewesen war. Allerdings hatte er nicht den blassesten Schimmer einer Ahnung, wozu dieser Unrat jetzt noch gut sein sollte.
"Seht gut hin.", sagte der Inquisitor, als könne er die Wichtigkeit dieses Umstandes nicht oft genug betonen. Mit gewichtiger Miene blickte er jedem von ihnen einzeln ins Gesicht, bevor er irgendeinen Knopf oder Druckpunkt an dem asurischen Apparat berührte und das Ding summend zum Leben erwachte.
Der Kristall flackerte kurz, nicht besonders hell, dann warf er eine durchsichtige Wand aus schwachem, farblosem Licht senkrecht nach oben. Obadiah spannte sich an und hätte beinahe nach seiner Axt gegriffen. Dann aber sah er, dass in dem weiten Lichtkegel ein Bild entstand. Nach einem kurzen Augenblick nahm es flimmernd die Form eines Menschen an. Der Ritter blinzelte überrascht und hatte keine Augen mehr für seine Umgebung. Er erkannte sofort, wer dort abgebildet war. Kein Geringerer als Justiziar Michael Severino höchstselbst, der mit ihnen hier im Raum stand. Nur dass er auf der Abbildung keine offiziellen Roben trug, nichteinmal seine prächtige Plattenrüstung. Der Justiziar war zu sehen in einem schlichten Kettenpanzer - demselben, den er in den letzten Wochen immer wieder getragen hatte, während er beinahe jeden Abend für mehrere Stunden aus dem Haus verschwand und seine Gefolgsleute ohne Erklärung im Nichts sitzen ließ, unzufriedener von Tag zu Tag. Und dort war er nun zu sehen, den Schild und sein Blutstein-durchwirktes Rapier in den Händen. Das Bild begann sich zu bewegen. Die Lichtgestalt, etwa halb so groß wie der echte Mann, absolvierte schwungvolle Waffenübungen, wirbelte die Klinge umher, stach zu, rammte den Schild präzise ins Leere. Dann plötzlich wurde aus der Trainingsroutine mehr. Severinos Gestalt löste sich auf, und Obadiah dachte zunächst, der Apparat würde spinnen und das Bild verzerren, aber dann erkannte er, was tatsächlich geschah. Der Justiziar löste sich wirklich auf. Er verschwand in einer manifestierten Nebelwolke, die hin und her zuckte, nur um die Gestalt des Mannes wieder auszuspeien, bevor das übernatürliche Schauspiel sich wiederholte. In seiner gesamten Dienstzeit hatte der Ritter noch nie etwas Vergleichbares gesehen, auch wenn es nur eine Projektion war.
"Während Justiziar Severino seine Getreuen hier ahnungslos alleine ließ, um immer wieder unerklärt zu verschwinden, haben meine Männer ihn observiert." Inquisitor Godfrey adressierte die Versammlung, während der befremdliche Apparat die Szene weiter abspielte. Irgendwann brach das Ganze ab, als die wiederkehrenden Nebelschwaden sich komplett auflösten und die durchsichtige Menschengestalt endgültig verschwunden blieb. Wenig später deaktivierte das asurische Unding sich von selbst, und die Lichtwand war fort. "Der Justiziar hat nicht nur seine Leute im Stich gelassen, nein; Er tat es um den blasphemischen Kräften eines Widergängers zu frönen, die er vor Euch allen geheim gehalten hat! Kräfte, mit denen die Feinde der Ungesehenen kanalisiert und ihre faulen Techniken angewandt werden!"
Es waren gefühlt alle Blicke auf Severino gerichtet, welcher seine Überraschung nicht verbergen konnte. Obadiah merkte erst jetzt, dass auch seine eigenen Augen ungläuig aufgerissen waren. Er stellte fest, dass er einige Schritte von den anderen zurückgewichen war, ohne es selbst zu bemerken. In vollkommender Verwirrung starrte er zwischen Justiziar und Inquisitor hin und her. Das also waren die mysteriösen Kräfte der Widergänger, von denen man so viel zu hören bekam. Obadiah tat sich schwer, zu begreifen. Wie konnten solche Kräfte ketzerisch sein, wenn ihre bloße Existenz doch jünger war als die heiligen Schriften der Unsichtbaren? Täuschte der Inquisitor sie etwa mit diesem merkwürdigen Zaubergerät? Aber am Ende dachte er nur zurück an Severino im Kaminzimmer, wie er ihm gesagt hatte, dass er ihm vertraute. Und er stellte er sich nur noch die Frage, warum der Justiziar dies vor ihnen verheimlicht hatte, wenn es nicht ketzerisch war.
"Das ist richtig.", sagte Severino schließlich, der jetzt ein hämisches Schmunzeln nach außen trug. "Ich bin ein Widergänger.. und ich habe diese Fähigkeiten trainiert ohne Jemanden von Euch in Kenntnis zu setzen. Weshalb auch, es ist nicht meine Pflicht." Er war nun derjenige, welcher von Person zu Person blickte. Charity Cochrane sah noch immer schockiert aus, als sie die Augen mit dem Mann kreuzte. "Doch ich habe nicht mit ketzerischen Feinden der Ungesehenen kommuniziert." Sein Blick fand sich wieder bei Godfrey ein, nicht länger schmunzelnd. "In den Nebeln warten weit mehr Geheimnisse als Euch und Eurem mickrigen Verstand klar werden können."
"Lügen! Die häretischen Kräfte haben ihn berührt, und er spricht mit der Zunge der Ungläubigen. Michael Severino, ich urteile über Euch! Ich enthebe Euch Eures Amtes als Justiziar des Weißen Mantels und klage Euch der Ketzerei, des Verrates und des unverzeihlichen Versagens an." Der Inquisitor hob seinen Zeigefinger und deutete anprangernd auf den Justiziar. "ERGREIFT IHN!"
Noch immer sah der Ritter den Justiziar im Kaminzimmer vor sich. Der entscheidende Moment war nun gekommen, aber Obadiah konnte sich nicht lösen von den Erinnerungen. Der Mann, dem er die letzten Monate über gefolgt war, wie er ihm offenbarte, dass er Niemandem mehr vertraute außer ihm, dem treuen, alten Ritter. Wie er ihm den Auftrag erteilte, die Gelehrte, langjährige Brieffreundin und Geliebte des Justiziars, für ihn auszuhorchen. Es hatte geschmerzt. Geschmerzt, selbst ein Puzzlestück der Scharade zu sein. Wie hätte der Justiziar auch ahnen sollen, dass der treue, alte Ritter ihn längst an die Gelehrte verraten hatte? Er war nicht da gewesen. Er hatte sich nicht gekümmert. Vor wie auch nach der Ankunft aus dem Dschungel. Er hatte als Anführer versagt, wieder und wieder, schlechte oder garkeine Entscheidungen getroffen, wieder und wieder, bis nur noch die Kampfkraft seiner desillusionierten Mitstreiter die Gruppe überhaupt am Leben gehalten hatte. Obadiah hatte lange Stunden des Gebets und der Selbstreflexion benötigt, bevor er den Mut gefunden hatte, seinen Vorgesetzten zu hintergehen. Treue und Gehorsam. Das waren seine großen Prinzipien. Die Prinzipien, die der Weiße Mantel ihm abverlangte. Nach denen er leben wollte. Aber eines wusste er mit allumfassender Gewissheit: In der Festung der Treuen hätte Michael Severino für seine Schwäche schon lange den Kopf verloren. In der Festung, in der er selbst zum Justiziar aufgestiegen war. Wie, das war dem Ritter schleierhaft. Erst nach dem großen Desaster waren sie einander überhaupt begegnet. Lange Zeit, besonders nachdem sie Zeugen des großen Lazarus geworden waren, hatte er sich eingeredet, dass die Explosion des Blutsteins den Justiziar verändert hatte. Dass er ein guter Mann war, für den es noch Hoffnung gab. Aber nach dem Auftrag im Kaminzimmer hatte er gewusst, dass Severino nicht weniger hinterhältig war als die meisten anderen. Und jetzt war der Moment gekommen.
"Lady Cochrane?" Elias' Stimme. Aus irgendeinem Grund wurde noch gezögert. Severino hatte die Hand an der Waffe.
"ERGREIFT IHN SOFORT!", kreischte Inquisitor Godfrey, furios über die Zurückhaltung. Durch sein gerade noch so makelloses Gesicht fraß sich jetzt eine gierige Wut.
"Ergreift ihn." Charity Cochrane klang frostig entschlossen. Danach ging alles seinen Lauf. Elias' Körper brach in violette Splitter, ohne zu verschwinden, und ein zweiter Elias tauchte hinter Severino auf, um dem Justiziar eine Hand auf die Schulter zu legen.
"Na dann, Justiziar..." Godfreys Ritterin, Ainsworth, stapfte frontal ins Bild und packte den Justiziar mit beiden Armen bei der Robe. "...sehen wir, was Euch erwartet."
Obadiah riss seine Axt aus der Gürtelschlaufe. Er hatte vor lauter Anspannung kaum bemerkt, dass Cochrane und Rathmore ebenfalls zurückgewichen waren. Die Sklaventreiberin saß in einem Sessel, den Stab in der Hand. Eis knackte. Severino schnaufte, von vorn und hinten ergriffen, und seine Faust ballte sich fester um den Griff des Rapiers. Blutrote Energie knisterte und wand sich in magischen Blitzen seinen Arm hinauf. "Lebend bekommt Ihr mich nicht-", brachte er hervor, "-und wenn ich Euch mitreißen kann, tue ich Lazarus gleich einen Gefallen." Nataleigh Ainsworth rammte ihm die Faust in die Magengrube, und der Justiziar krümmte sich unter Schmerzen zusammen, aber die Blutstein-Energie breitete sich weiter über ihn aus.
"Jetzt!", fauchte der Inquisitor. Der wandelnde Riese, den man als 'den Verschworenen' vorgestellt hatte, zog soeben sein gewaltiges Schwert aus der vom Rücken gelösten Scheide und stieß die in zwei bleiche Klingen gespaltene Waffe mit beiden Händen in den Dielenboden, während eine Rune der Kraft im Waffengriff aufglimmte. Eine farblose Schutzkuppel begann sich im Raum zu bilden und alle Anwesenden einzuschließen außer den beiden Banditen, welche mit Pistolen in den Fäusten an der Tür blieben. Der Zeigefinger der Gelehrten Cochrane zeichnete derweil einen Kreis in die Luft und begann mit violetten Zauberfäden komplexe Muster darin zu weben. Severinos Kopf flog in einem Schauer aus Blutstropfen unter Ainsworths gepanzertem Kinnhaken nach hinten. "Sein Schwert!", rief Godfrey, noch immer aufgebracht. "Nehmt ihm die Waffe ab!" Elias' Gestalt tastete forsch nach dem Blutstein-Rapier, begann jedoch violett aufzubersten, wo die rote Energie in Kontakt mit der Hand kam.
Dann beendete Cochrane ihren Zauber, und das Gefüge der Zeit war dahin. Severino drehte den Kopf in gefühltem Schneckentempo gen der Gelehrten, Hass in den Augen, während der Blutsteinzauber sich in greller Langsamkeit weiter ausweitete. Obadiah verspürte eine beschwingende Leichtigkeit. Mit einem Kampfschrei stürmte er vor und schwang seine Axt nach Severino, hinein in rotes Glühen und violettes Splittern. Ein Licht blendete ihn. Plötzlich konnte er Nichts mehr sehen. Alles war grell, dann dunkel, helle Punkte tanzten, er taumelte blind zur Seite.
"TÖTET IHN!", kreischte Godfrey.
Ein schockartiges Krachen berstenden Eises erklang, Stahl bohrte sich durch Fleisch. Ein einzelner Schuss knallte, schwach aber eindeutig innerhalb der Schutzkuppel. Dann wurde Obadiah von einer plötzlichen Druckwelle nach hinten geschleudert. Seine Rüstung schepperte auf dem Boden und er konnte sich intuitiv auf den Unterarm stützen, statt auf den Rücken zu stürzen. Mit einem Blinzeln begann er endlich wieder verschwommen zu sehen, und kaum dass das der Fall war, kam alles rasch wieder.
Keiner war mehr fest auf den Beinen, außer dem Verschworenen. Unerschüttert schwang der menschliche Riese seinen enormen Bidenhänder mit pfeifendem Luftzug, um an der Stelle niederzuhacken, wo Michael Severino eben noch gestanden hatte. Wie sich herausstellte, war die Henkersarbeit garnicht weiter nötig. Der Körper des Justiziars lag bereits von roter Energie zerfressen am Boden, seine prachtvollen Roben vernichtet. Wortlos schnaufend hebelte der Verschworene seine Klinge wieder aus dem gespaltenen Kadaver. Auch die Schutzkuppel löste sich langsam wieder auf, als Obadiah schließlich ächzend auf die Beine kam. Die Glieder schmerzten ihm, aber er hatte schon Schlimmeres erlebt.
Niemand schien verletzt zu sein, doch das Chaos war komplett. Raevynne Rathmore war mitsamt ihrem Sessel rücklings umgefallen. Inquisitor Godfrey saß mit dem Rücken zur Wand auf dem Hintern, direkt neben dem Tisch mit seiner asurischen Apparatur, welcher ebenfalls fast umgestürzt war. Gegenüber lag Elias auf einem anderen Tisch und stöhnte genervt, während Ritter Roberts seine Kameradin Ainsworth stützte, die ein blutiges Schwert in der Hand hielt. Sie redeten miteinander, aber Obadiah hörte nicht hin. Aus irgendeinem Grund schneite es im Raum. Grimmig blickte der Ritter auf Severinos sterbliche Überreste herab, während eine kalte Flocke auf seiner Wange schmolz. Danach kamen keine weiteren mehr. Schließlich hob sich eine ganz spezifische Stimme von den anderen ab, und Obadiah sah auf.
"...merwürdige Anwendung, allerdings. Sieht aus, als hätte der Zauber sich gegen ihn selbst gewandt, statt uns zu befallen. Blutstein reagiert schnell und chaotisch, wenn genügend Zauber hinzu kommen." Der Inquisitor hatte sich von Nataleigh Ainsworth auf die Beine ziehen lassen und hielt sich mit verzogenem Gesicht das Kreuz.
Ritter Roberts klang genervt: "Dennoch verstehe ich nicht, warum Ihr diesen erlesenen Kreis in solche Gefahr bringt, anstatt ihn von Caudecus' Wegwerfsoldaten ausschalten zu lassen. Sie wären kein Verlust gewesen, im Gegensatz zu einer toten Gelehrten, einem toten Ritter oder gar einem toten Inquisitor." Weiteres Getuschel lag ihm Raum, während alle sich langsam wieder berappelten und einander aufhalfen.
"Dies war leider die einzige Möglichkeit, um sicher zu stellen dass er nicht entkommt und für seine Verbrechen zugleich erkannt wird." Mit nüchterner Miene stieg Inquisitor Godfrey über Severinos Leichnam, klatschte laut in die Hände und bezog die Mitte des Raumes. "Hergehört!"
Alles verstummte. Waffen wurden fortgesteckt, Köpfe gewandt, und das zerstreute Grüppchen an Jüngern des Weißen Mantels fand sich mit etwas Abstand um den letzten verbliebenen Mann von Rang zusammen.
"Mit dem... tragischen aber erforderlichen Ableben des verderbten Justiziars..." Der Inquisitor tippte in beiläufiger Nonchalance mit der Stiefelspitze an Severinos energieverbrannten Kopf. "...fällt der Oberbefehl mit sofortiger Wirkung an mich." Er hob in kühner Symbolik das Kinn und ließ mit poliert glänzendem Monokel den Blick wandern, welcher hier und da länger verweilte als anderswo. "Das bedeutet, dass das disziplinarische Fehlverhalten einiger Individuen vorhin..." Weiter kam er allerdings nicht.
"Nun-", fuhr Charity Cochrane ihm mit einem scharfen Atemzug dazwischen. Mit einem höflichen, zutiefst bedauernden Gesichtsausdruck trat sie nach vorn neben Godfrey und wandte sich trotz seines empörten Blickes anstelle des Inquisitors an die Runde: "Es freut mich bekanntzugeben, dass ich ab heute den Rang einer Justiziarin bekleide und meine Ausbildung beendet ist. Ich freue mich auf eine..." Sie zog ein gefaltetes Pergament aus ihrer Robe. "...gute Zusammenarbeit zum Ruhme und zur Glorie von Lazarus dem Schrecklichen."
"Was?! Gebt das her!" Inquisitor Godfrey riss ihr den Schrieb aus der Hand, bevor sie ihn überhaupt weiterreichen konnte. Er faltete das Papier auseinander, überflog eilends den Inhalt und demonstrierte verdächtiges Schweigen, als er damit fertig war. Es war das erste Mal an diesem Abend, dass Obadiah den Mann völlig fassungslos erlebte.
Ritterin Ainsworth hob eine Augenbraue, während Ritter Roberts ihr etwas zutuschelte, Rathmore wirkte vollkommen baff, und Elias unter seiner Maske... lächelte. Er war der Erste, der sich untertänig in Richtung Cochrane verneigte. "Zum Ruhme und zur Glorie von Lazarus dem Schrecklichen.", wiederholte er klangvoll die Worte.
"Unterschrieben von Severino... das ist wertlos!" Keifend und mit verengten Lidern fuhr der Inquisitor zur Hausherrin herum, schwenkte das Dokument erbost vor ihrer Nase. "Da ist doch eindeutig Trickserei im Spiel!"
Sie schenkte ihm nur ein Lächeln. "Ich wusste, dass Ihr das sagen würdet, Inquisitor. Allerdings kann ich bestätigen, dass er mir im Rahmen der Unterrichtssitzungen kein ketzerisches Wissen hat angedeihen lassen. Gerne jedoch lasse ich Euch das Dokument auf seine Richtigkeit prüfen."
Rathmore tuschelte wieder etwas an Elias' Ohr, das Obadiah diesmal jedoch nicht verstand. Er hörte auch nicht hin. Jetzt, da es getan war, fühlte er eine seltsame Leere in sich. Eine seltsam angenehme Leere. Da war keine Reue mehr gewesen, das Leben des Justiziars zu beenden. Aber auch kein Ruhm. Er war endlich frei. Frei, zu gehorchen. "Sh.", machte er in harscher Entschlossenheit, als Rathmore ihren Rand nicht halten konnte. Die Augen nahm er zu keinem Zeitpunkt vom werdenden Gefüge der Macht.
Inquisitor Godfreys Gesicht war ein Ebenbild der Arroganz. Er beschoss Cochrane mit Blicken wie giftigen Nadeln und krallte die Finger zerknüllend in das Dokument, bevor er sich mit einem Schlag beherrschte. "Selbstredend.", sagte er schließlich, merklich unterkühlt. "Ich werde das Dokument prüfen. Sehr gründlich... Justiziarin..."
"Gerne, werter Inquisitor." Die Justiziarin lächelte immer noch ganz reizend.
"Eine ungeahnte Wendung der Geschehnisse.", sagte Nataleigh Ainsworth.
"Zum Ruhme und zur Glorie von Lazarus dem Schrecklichen!" Obadiah ließ seine rechte Faust auf den Harnisch krachen und stand im Salut vor Justiziarin Cochrane. Rathmore sprach die Worte ebenfalls, zusammen mit einer tiefen Verneigung. Sie hatten eine neue Herrin.
"Ich denke, wir sollten alle ein wenig feiern.", verkündete die Justiziarin in huldvoller Ansprache, nachdem sie die Treuebekundungen entgegen genommen hatte. "Denn Grund dazu haben wir: Zum Ersten, die hervorragende Arbeit des Inquisitors, der durch sein Zutun diese Schande ausmerzen konnte, und zum Zweiten.." Sie pausierte für ein weiteres Lächeln. "..meinen Aufstieg. Ich hoffe, Ihr lehnt nicht ab, Inquisitor?"
Wie sich herausstellte, musste der Inquisitor sich und seine Handlanger dringlichst entschuldigen, um wichtige Untersuchungen an den Hinterlassenschaften Meister Severinos anzustellen, die augenscheinlich keinen Aufschub duldeten, auch wenn genügend Zeit war, die Hausherrin und alle anderen Ordensmitglieder unterkühlt aus dem Saal zu komplimentieren. Es vergingen sicher anderthalb Stunden, bevor Godfrey und Nataleigh Ainsworth sich dem Festessen anschlossen, und auch dann waren die Spannungen im Raum so offensichtlich wie der Nachtisch auf den Tellern, aber Justiziarin Cochrane lächelte nur und war die Ruhe selbst. Am nächsten Morgen wurde die frisch vereinigte Truppe an einen neuen Standort abkommandiert, und die Befehle waren endlich wieder klar. Obadiah war guter Dinge, denn er war überzeugt, dass seine neue Anführerin dem allmächtigen Gott Lazarus treu ergeben war.
Bis der Tag schließlich kam.
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