Gedanken eines Getreuen

Die Schreie des Soldaten erstarben, als die Knochenhände seinen Körper knirschend in den Erdboden zogen. Mit einem Wisch seines Handgelenks entließ Inquisitor Halveran die zupackenden Toten. Diese Seraphen. Konnten sie nicht sehen, dass es zwecklos war, sich zu widersetzen? Sie waren wie Würmer unter den Stiefeln des Weißen Mantels, und Würmer würde er aus ihnen wachsen lassen. Diener, um den großen Köpfen seines erlauchten Ordens zu imponieren. Diener zur Eroberung Krytas. Auch wenn es irritierend war, wie viele verblendete Narren dieser Tage umherliefen. Sucher Kelar und Sucher Bodrus hatten ihn tatsächlich davon zu überzeugen versucht, dass der Krieg verloren war. Dass er kapitulieren sollte, hatten sie gesagt. Mehr noch - sie hatten behauptet, dass der Beichtvater tot war, und der Hochinquisitor ebenso. Halveran nannte das Verrat. Er hatte Erziehungsmaßnahmen ergreifen müssen. Nun folgten Knochendiener Kelar und Knochendiener Bodrus ihm mit bedingungslosem Gehorsam.
"Kommt, meine treuen Brüder.", sagte er zu ihnen. "Sie können nicht verstecken, was sie gestohlen haben. Nicht vor mir!"
Die beiden antworteten ihm neuerdings nicht mehr oft, aber Halveran beklagte sich nicht darüber. So fiel es ihm leichter, sich auf die Stimmen zu konzentrieren. Er konnte sie immer noch hören. Die Stimme von Hochinquisitor Victor war darunter. Lasst sie beichten, verlangte er, lasst sie alle beichten! Halveran verspürte einen Rückenschauer der Vorfreude, während er zwischen den Kadavern der restlichen Seraphen hindurch schritt. Auch sie würden Diener werden in der großartigen Armee Caudecus' des Weisen, doch das konnte warten. Erst musste er das finden, wofür er hergekommen war. Er war jetzt ganz nah. Er konnte es fühlen, dieses leichte Kribbeln und Kitzeln. Ein weiterer Schauer des Entzückens fuhr ihm über den Rücken. Die Geschenke riefen nach ihm. Nach ihm, dem sie versprochen worden waren. Die Geschenke großer Männer, die sein wahres Potenzial schon bald erwecken würden. Sie standen ihm zu, ihm, ihm allein, und er würde sie aus den Klauen der Diebe befreien, die sie zerstören wollten. Diese Seraphen. Konnten sie nicht sehen, dass sie alles zunichtemachten? Ihre fruchtlosen Bemühungen erzürnten den Beichtvater. Und wenn der Beichtvater erzürnt war, war es auch der Hochinquisitor. Und wenn der Hochinquisitor erzürnt war, würde Halveran nie die Chance erhalten, endlich persönlich mit ihm zu sprechen. Mit seinem großen Vorbild. Hochinquisitor Victor war ein starker Mann. Ein Mann mit Charakter. Ein Mann mit Geschmack. Halveran wusste genau, dass er unter seinem Oberkommando nicht umsonst zum Inquisitor aufgestiegen war. Die Dinge waren jetzt anders. Nicht so wie in der Zeit, als die glorreiche Inquisition des Weißen Mantels unter der törichten Zelotin Xera vor die Hunde gegangen war. Hochinquisitor Victor wusste ohne jeden Zweifel um Halverans einmalige Talente. Auch wenn er zu beschäftigt war, um das jemals zu sagen. Oder überhaupt je etwas zu ihm zu sagen. Aber das würde sich nun ändern. Er würde zurückholen, was gestohlen worden war, und dann würde der Hochinquisitor ihm seine Hand auf die Schulter legen, warm und fest. Er würde ihm tief in die Augen schauen, und dann würde er sagen...
"Gut gemacht, mein Sohn.", kicherte Halveran. Niemand freute sich mit ihm, und das empörte ihn. "Wo bei Saul ist dieser Stümper Ludon schon wieder abgeblieben?!"
Halveran blickte sich um. Ritter Ludon war der einzige Mann gewesen, den Justiziarin Charity ihm als Verstärkung aus Fort Evennia gesandt hatte, nachdem sie ihm selbst den bedeutsamen Auftrag gegeben hatte, auszuziehen um den Feind zu zermürben. Sie hatte ihm mehr Unterstützung versprochen, aber er hatte nur Ludon angetroffen. Der Ritter hatte behauptet, dass er sich schon seit Tagen am Treffpunkt versteckt hielt, dass ihn Niemand geschickt hatte und dass er nicht weiter kämpfen wolle, aber Halveran hatte ihm diese Scherze nicht abgenommen. Knochendiener Ludon war ihm somit ebenfalls bereitwillig gefolgt. Nun hatte ein inzwischen verstorbener Seraph ihn offenbar in faulige Stücke geschlagen, was bedauerlich war. Halveran konnte den Verlust allerdings verschmerzen - Justiziarin Charity die Prächtige würde ihm schon bald mehr Männer schicken. Sie war eine hingebungsvolle Frau, diese Justiziarin, dem Beichtvater treu ergeben. Die Barriere der Königin war inzwischen ja auch verschwunden, Halveran konnte es in der Ferne sehen, und das konnte nur bedeuten, dass die falsche Monarchin entscheidend geschwächt war. Die finale Invasion stand also kurz bevor. Bald schon würden Justiziarin Charitys Truppen hier eintreffen, um seinen Befehlen zu folgen, und dann würden die Jadekanonen wieder zu feuern beginnen, und sie würden alle einmarschieren in Götterfels, wo das Volk von Kryta seine wahren Helden bejubelte und ihnen Blumen zuwarf. Das Volk von Kryta liebte den Weißen Mantel. In unterdrückten Haushalten huldigte es heimlich seinen Erlösern. Halverans Briefe an die Bevölkerung von Saidras Hafen hatten dafür gesorgt, dass sie die Lügen der Königin erkannten. Seine Propaganda hatte etwas bewegt in den Menschen. Nicht so wie die stümperhaften Zeilen des verräterischen Inquisitor Godfrey, dessen Posten man ihm zugestanden hatte, nachdem dieser feige Lump in die Arme seines falschen Gottes geflohen war. Verräter. Verräter allesamt. Wenn es Götter gab, so waren sie Männer, heilige Männer, die unter ihnen wandelten, um den Weißen Mantel zu neuer Größe zu führen. Davon war Halveran tief überzeugt. Weg mit hirnlosen Riesen und schlappohrigen Möchtergernintelligenzlern, flüsterte Beichtvater Caudecus ihm zu, weg mit der Glänzenden Klinge! Ein Gefangener im Kerker Fort Evennias, ein Seraph namens Warkallen, hatte ihn als Verrückten beschimpft, aber Halveran hatte die großen Worte der großen Männer seines Ordens gründlich studiert, und er kannte sie so gut, dass ihre Stimmen ihn immer begleiteten. Die Gewissheit ihrer leitenden Hand über seinen Taten ließ ihm ganz warm ums Herz werden. Knochendiener Warkallen stand leider schon länger nicht mehr in Halverans Diensten, sonst hätte er ihn gerne mit frischer Gesellschaft aus den Reihen der Seraphen beglückt.
"Alle müssen beichten!", informierte der Inquisitor einen röchelnden Überlebenden, der in seiner schlammbespritzten, silber-goldenen Rüstung über den Boden kroch. Mit einem Deut seines Zepters hieß er Kelar und Bodrus, den Seraphen in Gewahrsam zu nehmen. "Deine Geheimnisse werden aufgespart für meine Ohren."
Auf seinem Weg zum nächstbesten Gebäude kam er an einem Lagerfeuer vorüber, über dem ein knusprig gebratener Hase brutzelte. Halveran hörte ein Rumoren, ein grummelndes Geräusch von unten. Als er an sich hinabblickte, fiel ihm auf, dass es sein Magen war. Vielleicht, ging ihm auf, wäre es sinnvoll gewesen mal wieder etwas zu verspeisen. In der Tat verspürte Halveran gewaltigen Hunger. Er verzehrte sich so sehr, dass er es kaum aushalten konnte. Umso eiliger hatte er es, an dem Feuer vorüber zu kommen, den Hasen links liegen zu lassen und das Gebäude zu erreichen. Ja, wahrlich, er konnte spüren, dass er auf der richtigen Fährte war. Die Luft stand förmlich unter Spannung. Die Scheune war ein billiger Bretterbau mit offenstehender Tür, welche leise in den Angeln knarzte. Es war dunkel im Inneren, aber der Inquisitor mochte es, wenn es ein wenig duster blieb. Das hatte viele Vorteile in seinem Berufsfeld. Dank der reichen Geschenke seiner Vorgesetzten erhellte er sich außerdem von selbst den Weg – als er die Scheune betrat, sah er alles in einem wunderbaren roten Schimmern, das die Finsternis vor seinen Augen vertrieb. Halveran hätte sich keine formidablere Klarsicht wünschen können. Sein Geist war rein und stark, und er sah und hörte alles.
Beispielsweise jetzt gerade, ein laut donnernder Lichtkegel, der blitzartig in der Dunkelheit auftauchte und dann wieder verschwand. Niemand hätte den schärfer und zuverlässiger erkennen können als er, Inquisitor Halveran der Demütige. Mündungsfeuer, ganz ohne Zweifel. Das Militärische hatte Halveran nie so richtig gelegen. Er empfand es als rüpelhaft. Aber seine Zeit unter den Soldaten seines Ordens hatte ihn Vieles gelehrt. Er verspürte ein leichtes Ziehen im Brustkorb und blickte erneut an sich hinab. Was er sah, entrüstete ihn bis ins Mark. Da war doch tatsächlich ein Loch mitten in seiner prächtigen weißen Robe, und der Stoff sog sich langsam mit roter Flüssigkeit voll. Blut, ganz ohne Zweifel.
"Ketzer!", klagte er lautstark. "Verschwörer! Du kannst dich nicht verstecken!" Halveran straffte seine Haltung und durchquerte mit eifrigen Schritten den dunklen Raum. Er wusste genau, was hier vor sich ging. Haargenau wusste er es. "Konspiration! Komplott! Beichte deine Sünden und finde Erlösung!"
Die Hintertür der Scheune - er entdeckte sie sofort ob des einfallenden Lichtes - flog auf und ein Mann eilte hinaus. Ein Bauer in schäbiger Kleidung, eine qualmende Flinte in der Hand. Die Tür fiel hinter ihm wieder zu.
"Alle müssen beichten..", rief Halveran ihm informierend hinterher, aber zu seiner Enttäuschung kam der Mann nicht zurück.
Zweifelsohne würden jedoch weitere Verschwörer kommen, denen er die Zunge lockern konnte. Der Inquisitor blickte sich um. Er war allein mit einer Menge Holzbohlen und Baumstämmen, aufgestapelt und sortiert. Natürlich - er musste nahe beim Holzlager am Doric-See sein. Bei seinem Aufbruch aus Fort Evennia hatte er leider nicht daran gedacht, eine Landkarte mitzunehmen. Er war folglich ein wenig vom Weg abgekommen, nur ein paar Tage lang. Diese unübersichtlichen Wälder, er hatte keine Zweifel, waren Teil der Verschwörung des Feindes, geschaffen um seinen mächtigen Vorstoß zu verzögern. Aber jetzt war er ja da. Plötzlich verspürte er das Kribbeln und Kitzeln in seinen Knochen wieder ganz stark, eine wachrüttelnde Erinnerung an seine wahre Bestimmung hier vor Ort. Es schmerzte bisweilen, wenn das geschah. Bei Saul, er fühlte sich so ausgezehrt. Der Hunger war groß. Er musste sich dringend stärken. Und jetzt war er ganz nah. Nur eine kleine Stärkung, nur eine klitzekleine. Dann würde er bereit sein. Bereit, aufzusteigen in der Gunst des Hochinquisitors.
"Das ist alles für mich.", raunte er, als er bei der Truhe ankam. Sie war rasch gefunden. "Alles für mich..."
Ein Stoß dunkler Energie, und der hölzerne Kistendeckel barst auseinander. Halveran verspürte eine wohlige Gänsehaut, als ihm das Wabern blutroten Lichtes entgegen kam. Das hatten sie also bewacht. Er hatte es gewusst. Die Seraphen und ihre Knechte zitterten vor der Macht, die der Weiße Mantel zu Felde führte, und versteckten die Gaben des Beichtvaters in ihrer Furcht davor, sie selbst zu verwenden. Aber kein Geheimnis war sicher vor ihm, Inquisitor Halveran dem Demütigen, dessen wahre Begabung so lange verschmäht geblieben war. Sie hatten ihn einsperren wollen, all die Verschwörer und Banausen, doch die wahren Herren Krytas hatten ihm eine neue Bestimmung verliehen. Das rote Leuchten ließ ihn jauchzen, doch dann jaulte er mit Zorn.
"Stümper! Saboteure! Schmierfinken!"
Mit beiden Händen griff er tief in die Kiste, in die man Jadefragmente und Blutsteinkristalle gemischt geworfen hatte. Zischend schleuderte Halveran links und rechts Jadefragmente hinaus. Er hatte Nichts zu schaffen mit alledem, seine eigenen Konstrukte bestanden aus Fleisch und Knochen. Gewiss würde Justiziarin Charity einen Gelehrten entsenden, der aus diesen Bruchstücken eine machtvolle Waffe formen konnte. Halveran jedoch verspürte eine andere Macht. Sie kitzelte an seinen Händen und ließ die feinen Härchen zu Berge stehen. Er zitterte ekstatisch. Sein Brustkorb fühlte sich nass an, doch das spielte keine Rolle mehr. Blutsteinstaub rieselte zwischen seinen Fingern hindurch, als er sich die roten Kristalle vor Augen hielt. Sie waren das wunderschönste, was er in seinem Leben je gesehen hatte. Dunkle, rot-violette Schwaden waberten um das leuchtende Material, und er konnte die rohe Kraft in ihrem Innern fühlen, so verlockend, soll voller Macht.
"Die Magie gehört mir..", seufzte Halveran, und seine Lippen zitterten, als er begann, die Kristalle mit Küssen zu bedecken. "Endlich.. endlich.."
Er sperrte den Mund weit auf und begann sie zu verschlingen.


"Wer weder zögert noch zurückweicht, wird belohnt werden."


[color=#000000]- Schriften des Balthasar, 48 V.E.

Kommentare 3

  • omfg, sogar die Landkarte hat sich gegen ihn verschworen! xD

  • Lass dir schmecken!


    Woyzeck: "Es geht hinter mir, unter mir." – Stampft auf den Boden: "Hohl, hörst Du? Alles hohl da unten! Die Freimaurer!"

  • Ja Halveran! Du bist zu großem auserkoren! Nun gehe hin und verbreite die Botschaft! Spread the Word!