Fortune

Nach dem Aufwachen saß Fortune auf der Kante seines neuen Bettes. Es war ein gutes Bett, mit einer guten Matratze. Nicht zu weich und nicht zu hart. Die Laken waren nicht rau und die Decke hielt einen warm. Man konnte gut schlafen in diesem Bett. Wenn er ehrlich mit sich war, wunderte Fortune sich darüber, wie gut er tatsächlich darin schlief. Vielleicht hatte er aus irgendeinem Grund mit Alpträumen gerechnet, mit rastlosen Nächten voller Ungewissheit. Da war er sich nicht ganz sicher. In jedem Fall schlief er hier gut. So gut wie schon lange nicht mehr. Wenn überhaupt, dann waren die Alpträume Tagträume.
Durch die Wände konnte er einige Vögel zwitschern hören. Unbeschwert besangen sie den neuen Morgen. Es war sicher ein herrlicher Frühlingsmorgen, sonnig und frisch, der grüne Vorbote eines geschäftigen Tages. Fortune hätte es nicht sagen können, sein Zimmer hatte keine Fenster. Aber das störte ihn nicht groß. Eigentlich störte es ihn überhaupt nicht. Er tastete blind auf seinem Nachttisch umher, schob ein leeres Wasserglas zur Seite und fand die Streichholzschachtel.
Ratschend entfachte er sich ein Zündholz. Im Flackern der zarten Flamme wirkte die bescheidene Dachkammer viel kleiner als sie tatsächlich war. Fortune rutschte barfuß vom Bett und steckte vorsichtig einige der im Raum verteilten Kerzen an. Als er das Hölzchen ausschüttelte, war das Zimmer erhellt von sachtem Kerzenschein. Mehr Licht brauchte er nicht. Er hatte es geräumig hier. Wenn er abends die enge Treppenstiege hinauf kam, hatte er oft das Gefühl sich zurückzuziehen in eine Burg, seine ganz persönliche, hoch oben und losgelöst von den vielen Problemen des Lebens. Wenn er sich ins Bett legte und die Augen schloss, war er fest abgeriegelt von der Außenwelt, und die hölzerne Dachschräge war unentwegt Sinnbild für Schutz. Fortune wusste natürlich, dass das nur eine schöne Fantasie war. Er war jetzt immerhin ein belesener Mann. Er hatte sich schon als Junge immer Bücher gewünscht. Gelesen hatte er nie viel, auch wenn er gern mehr Zeit dazu gehabt hätte. Jetzt hatte er so viel Auswahl, dass er kaum wusste wohin mit all dem beschriebenen Papier. Jeden Abend nach der Arbeit lag er stundenlang alleine wach und las, aber er schien nie besonders weit zu kommen. Vermutlich war das ebenfalls Gewöhnungssache. Die ledergebundenen Wälzer stapelten sich in Türmen neben seinem Bett.
'Canthanische Philosophie und Nekromantie' hatte er inzwischen fast durch, auch wenn die Thematik sich zäh las. 'Pflanzenkunde für Kinder' war ihm ein wenig peinlich, aber er blätterte gerne darin. Die Beschreibungen erinnerten ihn auf amüsante Weise an früher. 'Auf Windes Schwingen: Exodus der Tengu' und 'Olias: Vom Weißen Mantel zu Grenths Vollstrecker' waren die nächsten auf seiner Liste, und irgendwie war ein alberner Abenteuerroman namens 'Ruf des Wintermondes' ebenfalls hier gelandet.
Als Fortune in seine Hosen stieg, meldeten die Muskeln sich zu Wort, brennend aber angenehm. Sport trieb er jetzt auch jeden Tag. Nicht ganz freiwillig, aber er wusste dass es ihm gut tat. Neben den Büchern hatte er hier nicht viel, trug jeden Tag dieselben Sachen, die er zum Glück regelmäßig waschen konnte. Vielleicht würde er bald genug verdienen, um sich neue Kleidung zu kaufen. Nein, er hatte hier wahrlich nicht viel. Und trotzdem mehr, als er gehabt hatte. Sich das einzugestehen fiel ihm erstaunlich schwer. Unten in der Küche quäkte eines der Kinder, und Fortune konnte nicht anders als zu grimassieren, bevor er sich das Hemd glatt strich und die Stiefel zu schnüren begann.
Ein weiteres Geräusch ließ ihn aufmerken, ein schleimiges Schmatzen aus Richtung seiner Schlafstatt. Marry die Made hing über den Bettpfosten drapiert und sperrte mal wieder hungrig das Maulwerk auf, während sie sich hin und her wand. Fortune seufzte und ging angekleidet zum Nachttisch zurück, zog einen Apfel heraus und setzte sich zurück auf die Bettkante. Er legte sich die fette Dschungelraupe um die Schultern, stopfte ihr das Stück Obst in den Gierschlund und kraulte sie zwischen den Noppen an der weichen Bauchseite. Marry fraß und scherte sich nicht darum. Wer konnte ihr das auch verdenken, sie besaß immerhin kein nennenswertes Gehirn. Die gewaltige Raupe erfüllte keinen Zweck außer zu fressen und ihm mit ihrem Gewicht die Schultern runterzudrücken, aber Fortune liebte sie trotzdem. Hätte man ihn gefragt warum, er hätte keine Antwort parat gehabt.
Und nun saß er wieder hier, auf der Kante seines neuen Bettes. Es war ein gutes Bett, mit einer guten Matratze. Man konnte gut darin schlafen... Fortune saß da und kraulte die Raupe. Er merkte, dass ihm die Tränen kamen.


"Wer weder zögert noch zurückweicht, wird belohnt werden."


[color=#000000]- Schriften des Balthasar, 48 V.E.

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