Die Sonne schleicht sich über die Bergkuppen und färbt den Himmel in ein tiefes rotorange. Ayu weiß es, auch wenn sie es nicht sieht. Sie hat die Sonne schon viele Male in den Zittergipfeln aufgehen sehen. Doch heute ist sie nicht, wie sonst, draußen. Sie sitzt in ihrem Zimmer, auf einem dicken Moosteppich im Schneidersitz und hat beide Hände ruhig auf die Knie abgelegt. Es ist dunkel im Raum, sie hat keine Leuchten eingeschaltet. Nur sie selbst füllt den Raum ein wenig mit ihrem sanften weißlichen Glimmen. Und es ist still. Alles was sie hört ist ihr eigener tiefer ruhiger Atem.
Es ist früh am Morgen. Es ist ihre Zeit.
Sie schließt ihre Augen und atmet tief und gleichmäßig weiter.
Nach monatelanger Übung fällt es ihr inzwischen erstaunlich einfach sich selbst in eine meditative Trance zu versetzen und so dauert es auch dieses Mal nur wenige Augenblicke, bis vor ihrem inneren Auge ein sanfter heller Nebel erscheint. Sie streckt die Hand aus und fühlt die feuchte Kühle. Sie sinkt tiefer hinein in den Traum. In ihren eigenen Traum, der ihr doch nicht alleine gehört.
Der Nebel ist fast immer da. Er erzeugt ihn. Um sich vor ihr zu verbergen. Doch sie hat auch einen Einfluss auf ihren Traum. Sie wandert tiefer in den Nebel und findet eine Lichtung. Der Nebel kommt dort nicht hin. Es ist IHR Platz. Ihre Zuflucht in Mitten des Traums. Der Ort erinnert an den Hain, an eine friedliche Stille. Ein heller, freundlicher Ort Ruhe.
Ayu schnaubt leise. Nein, das ist nicht, was sie jetzt sucht. Nicht, das was ihr jetzt hilft. Sie geht weiter und verlässt ihre kleine Traumoase. Sie konzentriert sich und kann ihn fühlen. Sie geht dem Gefühl nach und versinkt erneut im Nebel.
„Na sowas, na sowas. Wer kommt mich denn da besuchen? Der kleine blaue Schmetterling.“ Säuselt eine helle Stimme spöttisch. Ayu geht weiter, folgt der Stimme.
„Hast du etwa noch nicht genug? Ich bewundere deinen Mut, wirklich.“ säuselt die Stimme weiter.
Ayu kneift die Augen leicht zusammen und spannt sich innerlich langsam an. Sie ist entschlossen. Sie ist immer entschlossen, wenn sie ihm gegenüber tritt. Sie drängt für gewöhnlich ihre Furcht vor ihm zurück. Doch dieses Mal spürt sie keine Furcht. Nur Entschlossenheit und….ja Wut.
„Ohhhh, der Schmetterling ist wütend. Was ist passiert? Hat man dir dein Lieblingsblümchen weggenommen?“ Er lacht leise. Er hat so eine schöne, warme Stimme. Doch seine Stimme klingt voller Hohn und Abscheu.
Ayu geht weiter auf die Stimme. Bisher hat sie seine Stimme stets gefürchtet. Sie wusste um die Macht seiner schönen, giftigen Worte. Doch dieses Mal heißt sie seine Worte willkommen. Sie führt sie direkt zu ihm. Sie folgt seinem Klang, denn der Nebel verdunkelt sich immer mehr, je weiter sie geht. Bis sie in völliger Schwärze steht. Wieder einmal.
„Warum bist du hier?“ fragt Nherihs mit schneidender Stimme und mit einem Mal steht er vor ihr. Genauso blau, wie sie. Genauso groß wie sie. Genauso zierlich wie sie und genauso wütend wie sie. Er ist ihr Ebenbild, nur mit einem männlichen Körper. Und er war ein Magier, ein Elementarmagier.
Ayu antwortet nicht. Sie greift mit ihren Händen an ihre Hüfte und zieht langsam ihre Dolche hervor.
Worte bringen ihr nichts mehr. Sie hat genug gesprochen.
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