Die Luft ist schneidend kalt. Ein ständiger Windhauch lässt die Schneeflocken wild umhertanzen, ehe sie sich auf dem gefrorenen Boden niederlassen und die Landschaft ihren weißen eisigen Mantel bewahren lässt. In diesem Teil der südlichen Zittergipfel, im Lornars Pass, scheint es nie Frühling oder gar Sommer zu werden. Ein ewiger Winter hält das Gebirge in seinem unermüdlichen Griff. Aber das frühlingswarme Löwenstein ist ja nur ein Portalsprung entfernt. Doch Ayu macht diese Kälte nichts aus. Sie hat sich längst an die Umstände ihres „neuen“ Zuhauses gewöhnt.
Weit entfernt von ihrer tropischen Heimat im Maguuma-Dschungel, fiel es ihr zunächst schwer sich an die neue Umgebung zu gewöhnen, als sie der Abtei Durmand beitrat. Auch wenn sie Schnee und Eis äußerst faszinierend fand. Doch die Kleidung, die man ihr gab, kratzte, die Sonne schien nicht so lange, wie sie es gewohnt war, der wolkenbedeckte Himmel lies alles düster wirken, der Wind heulte so laut und so schneidend, dass sie ihn kaum verstehen konnte. Zumal sie nun in einem Berg leben sollte. In einem Quartier, mit vielen anderen Gelehrten in einem großen Schlafsaal, ohne Fenster. Sie hatte Glück im Unglück. Im hintersten Winkel war ein Bett frei, welches sie für sich wählte. Ein schwacher Trost, doch es war immerhin ein Rückzugsort. Doch er reichte ihr kaum aus. Schnell erkundete sie die Räume der Abtei und fand bald im Lager einen Ort, wo sie Ruhe fand, wenn sie diese brauchte. Und das kam zu Beginn sehr oft vor. Aber viel lieber war sie draußen. An der frischen Luft… in der Sonne. Die Zeiten waren schwer, sie fühlte sich oft alleine. Aber sie schaffte es und heute ist die Abtei für sie mehr ein Zuhause als der Hain. Vielleicht weil sie hier Leute getroffen hat, die sie schätzen. Leute, die sich auf sie verlassen und sie unterstützen. Und weil sie hier Freunde gefunden hat. Freunde die ihr weiterhelfen, die für sie da sind.
Und doch …
Die Abtei kann ihr nicht mehr alles bieten, was sie braucht. Sie kann die Einsamkeit nicht mehr gänzlich vertreiben. Sicher, sie bietet jede Menge Abwechslung. Doch etwas fehlt in ihrem Herzen. Oder vielmehr jemand.
Schon damals, als Kegan fort ging hinterließ er erstmals ein schmerzliches Gefühl der Leere in ihr. Sie schaffte es, damit umzugehen. Irgendwie. Nicht zuletzt dank ihrer Freunde und der vielen Arbeit, die sie sich selbst aufbrummte.
Als sie Glyzavo kennen lernte, fürchtete sie sich vor dem Umstand, dass sie sich zu ihm hingezogen fühlt. Sie wusste, wie verletzlich es sie machen konnte. Und gleichzeitig konnte sie soviel Stärke daraus ziehen.
Sie wollte sich niemals wieder verlieben. Niemals wieder den Schmerz der Leere spüren, nie wieder diese Angst davor.
Doch als er das erste Mal fort ging, erkannte sie, dass sie es nicht länger leugnen konnte. Sarah hatte Recht. Man verliebt sich, auch wenn man es nicht will.
Also beschloss sie, zu ihren Gefühlen zu stehen.
Sie entschied sich dafür dieses Gefühl und die schöne Zeit, die ihr zuteilwurde, zu genießen. Angst vor schlechte Erfahren trübt die schöne Zeit nur unnötig und Ayu erkannte bald, dass sie das nicht länger zulassen will. Und Glyzavo schafft es so leicht sie alle Angst vergessen zu lassen – wenn sie zusammen sind.
Doch nun ist er weit weg - in Götterfels - und sucht Antworten auf Fragen, die sie nicht kennt. Er bat sie um Verständnis und was konnte sie anderes tun, als ihm dies zu gewähren? Schließlich ging sie zuerst aus den Hain, weil sie in der Abtei gebraucht wurde. Sie bat ihn ebenfalls um Verständnis für ihre Lage und nun war sie es ihm einfach schuldig, ihm diesen Gefallen zu erwidern.
Sie kann nicht leugnen, dass sie sich um ihn sorgt. Er wirkte so durcheinander, als sie sich das letzte Mal sahen und sie wüscht sich, mehr für ihn tun zu können.
Doch nun kann sie nichts anderes tun, als hier in der Abtei auf seine Ankunft zu warten.
Sie hat eine Überraschung für ihn vorbereitet und nun ist sie schon sehr gespannt darauf, wie er darauf reagieren wird. Wenn er kommt.
Wenn er denn überhaupt kommt…
Nein, sie darf die Hoffnung nicht aufgeben. Bisher hat er seine Versprechen immer eingehalten. Er wird kommen. Sie musste einfach daran glauben.
Wieder einmal versucht sie sich von solch trübseligen Gedanken abzulenken.
Der beißende Wind pfeift der Sylvari um die Ohren und lässt ihr Kopflaub tanzen. Doch sie ignoriert dies. In Gedanken ist sie bereits bei ihrer bevorstehenden Aufgabe. Eine Aufgabe, derer sie sich freiwillig und mit zunehmendem Eifer angenommen hatte. Eigentlich war es zu Beginn nur eine Bitte. Damals – als sie noch Novizin war.
Nicht weit von der Abtei entfernt kommt er schon sehr bald in Sicht: Ein knorriger, alter und scheinbar toter Kirschbaum. Im Vergleich zu den anderen Kirschbäumen in den Zittergipfeln trägt dieser keine Blätter, keine Blüten und kein Leben mehr in sich. Vermutlich.
Aus irgendeinem Grund scheint dieser Baum längst tot zu sein. Die Äste knarzen protestierend im Wind als sich Ayu dem Baum nähert. Sie war schon oft hier gewesen, hat sich neben den Baum gesetzt und versucht sein Innerstes zu ergründen. Sie fand die Idee, ihn zu erforschen und nach einem Lebensfunken zu durchsuchen von Begann an sehr faszinierend. Sie wusste, welch gewaltige Aufgabe sie sich da vorgenommen hat, doch ihr erster Besuch des Baumes lies sie die nüchterne Wahrheit erkennen. Die Aufgabe war beinahe unmöglich. Zumindest für sie alleine. Aber anstatt nun davor zurückzuschrecken, entfachte es ihren Ehrgeiz. Damals hat sie diese Aufgabe dringend gebraucht und daher begrüßt. Dann wuchs ihr Ehrgeiz immer weiter an und heute ist es einfach „ihr“ Projekt. Selbst wenn sie es nicht schafft den letzten Lebensfunken des Baumes zu finden, so ist der Baum und die Suche danach eine ausgezeichnete Übung für Konzentration, Geduld, Feingefühl und das Erweitern ihrer magischen Grenzen. Und Hoffnung. Sie bewahrt sich die Hoffnung doch noch überlebende Zellen im Baum zu finden, um ihn schließlich wieder regenerieren zu können. Sie hat die Hoffnung, dass er eines Tages wieder blühen würde.
Das Schneetreiben lässt langsam etwas nach, die Sonne bricht bereits hinter der dicken Wolkendecke hervor und Ayu starrt lange gedankenversunken den toten Kirschbaum an.
Schließlich seufzt sie leise und schüttelt langsam den Kopf, als wolle sie unerwünschte Gedanken vertreiben. Sie geht auf den Baum zu und legt sanft ihre beiden Hände an die kalte, raue Rinde. Langsam streichen ihre Finger über das leblose Holz und sie schließt ihre Augen. Ihr Ausdruck wird immer konzentrierter während sie beginnt ihre Magie zu kanalisieren und sanft in den Baum leitet. Über die abgestorbenen einstigen Lebensbahnen leitet sie ihre magische Präsenz auf der Suche nach Lebensanzeichen. Dabei kommt sie sich so vor, als würde sie einsam und alleine durch eine verlassene Stadt streifen. Überall stehen zerstörte Häusern, die Straßen sind in einem furchtbaren Zustand, im Grunde genommen bewegt sie sich durch eine Ruine. Sie konzentriert sich und sensibilisiert ihre Suche auf die feinste Ebene. Zelle für Zelle tastet sie sich voran, überprüft jede einzelne von ihnen auf Lebenszeichen. Doch bisher war ihre Suche vergebens. Und auch heute scheint sie keinen Erfolg zu haben. Doch auch wenn sie wieder kein Lebenszeichen entdecken konnte, so kann sie sich immer noch ihre Hoffnung bewahren. Und es hat sie wieder eine Weile von ihren trüben Gedanken abgelenkt. Leise seufzend öffnet die blaue Sylvari ihre Augen und starrt hoch zum Geäst des Baumes.
„Es ist nicht unmöglich. Du magst im Innern völlig zerstört sein, doch ich bin überzeugt, dass ich dich aus diesem Zustand befreien kann.“ murmelt sie leise. Ihre Stimme ist nur für den Baum bestimmt. So trägt der Wind lediglich leise Wortfetzen davon, welche nur noch entfernt an die Klänge eines Windspiels erinnern.
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