Sie hatte von vorne herein vermutet, dass er den Kampf gewinnen würde. Zwar war sie jünger, doch er war ihr Ausbilder, ihr Mentor, der sie zu dem geformt hatte, was sie heute war. Jeden Angriff, jede Finte hatte er ihr beigebracht und so war es nur eine Frage der Zeit gewesen, bis er eine ihrer Bewegungen vorher sah. Ein angetäuschter Angriff auf seine rechte Seite, eine schnelle Drehung nach links um ihn an der nun potenziell ungeschützten Seite zu treffen. Doch anstelle von Leder und Fleisch zerschnitt ihr Dolch nichts als pure Luft. Sie erkannte ihren Fehler den Bruchteil einer Sekunde ehe seine Klinge sich in ihren Rücken bohrte.
Der Schmerz ließ sie zischend nach Luft schnappen. Sie war eine hervorragende Dolchkämpferin und hatte in ihrem bisherigen Leben nur selten irgendwelche ernsten Verletzungen davon getragen. Auch diese Wunde war sicher nicht tödlich, doch der Schmerz lähmte sie, ließ sie taumeln und auf die Knie sacken. Kraftlos entglitten die beiden Klingen ihren Händen und ihre Sicht verschwamm.
"Ruhig atmen", mahnte er sie in einer Tonlage, die sie an ihre früheren Übungsstunden erinnerte. "Es wird dich nicht gänzlich lähmen, nur außer Gefecht setzen."
Gift... natürlich. Wie hatte sie nur so dumm sein können? Aus irgendeinem sentimentalen Grund war sie tatsächlich davon ausgegangen, sie würden diesen Kampf mit unpräparierten Waffen austragen.
"Dachtest Du wirklich, ich würde auf Gift verzichten, nur weil Du es bist?" Er schien ihre Gedanken lesen zu können, diese Gabe hatte er immer schon besessen.
Irgendwie schaffte sie es, nicht gänzlich umzukippen. Kraftlos in sich zusammen gesackt kniete sie vor ihm und hörte ihr eigenes Blut tosend in ihren Ohren rauschen. Der scharfe, brennende Schmerz hatte sich inzwischen in ein gleichmäßiges, dumpfes Pochen verwandelt, vermutlich eine Nebenwirkung des Giftes, welches sich in ihrem Organismus ausbreitete. Ihr Herz donnerte gegen ihre Brust als wolle es allein sich gegen die Niederlage wehren, doch beschleunigte es nur die Geschwindigkeit, mit der das Gift ihre Glieder bleischwer werden ließ.
Er trat in ihr Sichtfeld. Von Kopf bis Fuß in dunkles Leder gekleidet, die langen, schneeweißen Haare wie immer zu einem Zopf gebunden, doch Ennorath war kein alter Mann. Seltsam alterslos schien er in all der Zeit, in der sie ihn nun kannte, im Grunde überhaupt nicht gealtert zu sein. Sein linker Mundwinkel zuckte, seine Form eines Lächelns, auch wenn es traurig wirkte. Melancholisch. Sanft schob er seine Hand unter ihr Kinn und hob es an, so dass sie ihm in die Augen sehen musste.
"Warum?"
Nur diese eine Frage, dieses eine geflüsterte Wort. Aber so war er eben. Natürlich hätte er sie fragen können, warum sie ihn verraten hatte. Warum sie einen der ihren getötet und damit den Schwur gebrochen hatte, sich niemals gegeneinander zu wenden. Jene wie sie konnten niemandem trauen, gerade deshalb war es so wichtig, dass man seinesgleichen zu jeder Zeit bedenkenlos den Rücken zuwenden konnte. Doch er fragte sie nichts dergleichen, nein, nahm ihr ganz im Gegenteil sogar die Antwort vorweg.
"Wegen ihm."
Sie war sich nicht sicher, ob sie überhaupt noch genug Kraft besaß, um zu sprechen, doch er las es in ihren Augen.
"War es das Wert, Szarah?"