Zuvor
"Klasse Vorstellung", begrüßte sie der braunhaarige Mann aus der Taverne. "Komm, Enno wartet schon." Mit einem "Danke", folgte sie Androsch durch die unterirdischen Gänge, die schließlich in einen großen Keller mündeten. Von einem Schreibtisch mit allerlei Pergamenten sah ein in dunkles Leder gekleideter Mann zu ihnen auf. Auch wenn seine Haare schneeweiß waren, schien sein Gesicht seltsam alterslos.
"Ennorath..." Beide Hände wie zum Gebet miteinander verschränkt vor ihr Gesicht gehoben, sank Szarah zu einer ehrfürchtigen Verbeugung hinab und Androsch tat es ihr gleich.
"Hat alles wie geplant funktioniert?", erklang Ennoraths tiefe Stimme und Szarah erhob sich wieder. "Ja, er hat angebissen."
Der Weisshaarige nickte. "Das ist gut. Und hat er auch dauerhaft angebissen?"
Ein selbstsicheres Lächeln umspielte die Lippen der Assassine. "Ich denke schon."
Wieder auf dem Rückweg rang Androsch sich zu einer Frage durch, die ihm schon den ganzen Abend auf der Seele brannte. "Wie weit bist Du dabei gegangen?" Szarah, vor ihm gehend, warf ihm einen unergründlichen Blick über ihre Schulter hinweg zu. "Lass es gut sein..."
Den nächsten Vormittag verbrachte sie damit, durch die Stadt zu schlendern. Sie kannte sich zwar in Götterfels aus, aber es war wichtig, dass sie sich so normal wie möglich verhielt und den Zirkusleuten, bei denen sie im Moment unter gekommen war, hatte sie erzählt, erst ein einziges Mal in der großen Stadt gewesen zu sein und das vor Jahren.
Nachdem sie mittags eine Kleinigkeit gegessen und danach eine Stunde im Schatten eines Baums gedöst hatte, begab sie sich am späten Nachmittag zurück zum Zirkus. In dem großen Zelt war Tag und Nacht ein Seil zwischen zwei schweren Pfosten gespannt, so dass sie üben konnte wann immer sie wollte. Sie war zwar keine ausgebildete Seiltänzerin, ihr Balancegefühl aber war dermaßen gut, dass es ihr keine Probleme bereitete, sich als eine auszugeben.
Von Kyle fehlte am Folgetag jede Spur. Offensichtlich hatte er das kleine Techtelmechtel als solches abgetan und die blonde Frau zu einer von den vielen Eroberungen seiner Laufbahn deklariert. Mit eher verhaltener Laune brachte Szarah die Abendvorstellung hinter sich. Sie war sich so sicher gewesen, dass der Krieger sie wiedersehen wollte. Natürlich könnte sie ihn selbst aufsuchen, aber sie wollte auf keinen Fall zu viel Interesse an ihm signalisieren. Sicher, er sah gut aus, aber für ihren Plan war es wichtig, dass er zu ihr kam.
Aus Langeweile kletterte sie am nächsten Abend auf ein Haus und balancierte über den First.
"Wie weit bist Du dabei gegangen?"
Sie bekam Androschs Frage einfach nicht aus dem Kopf. Es ging ihn nichts an und er hatte kein Recht, ihre Arbeit in Frage zu stellen, doch hatte er den Finger genau auf den wunden Punkt gelegt. Sie war zu weit gegangen.
Natürlich setzte sie ihre weiblichen Reize immer wieder gerne ein, um einen Auftrag zu erledigen. Allerdings ging sie nie weiter als bis zu einer bestimmten Grenze. Sie war eine Assassine, Meuchelmörderin, wie auch immer man sie nennen wollte, aber keine Hure. Der Plan hatte vorgesehen, Kyle ein wenig zu tief in ihren Ausschnitt sehen zu lassen und somit sein Interesse zu wecken. Zu flirten. Sich interessant zu machen. Möglichkeiten anzudeuten, ohne direkt mit der Türe ins Haus zu fallen. Sie wusste, wie man so etwas machte, verdammt sie hatte es perfektioniert. Professionalität hieß das Zauberwort. Nur dass ihre diese Professionalität für ein paar Stunden völlig abhanden gekommen war.
Das Geräusch von Hufen auf Stein unterbrach ihre Gedanken. Ein Lächeln umspielte ihre Mundwinkel, als sie einen der beiden sich nähernden Reiter erkannte. Er hatte angebissen.
Jetzt
Hätten viele andere die Frage wohl eher rhetorisch gemeint, schien Ennorath auf eine Antwort zu warten. Seelenruhig stand er vor ihr, mit seinen Fingerspitzen nach wie vor ihr Kinn stützend, und wartete.
Aber was sollte sie ihm sagen? War es das alles Wert gewesen?
Sie wusste es nicht...