Jetzt
Sie erwachte durch das selbe Gefühl, welches sie zuvor in gnädiger Ohnmacht hatte versinken lassen: Schmerz. Purer, ungefilterter Schmerz, der allerdings abrupt endete. Panisch nach Luft schnappend riss Szarah die Augen auf und sah sich dem Fremden gegenüber, der für ihr aktuelles Elend verantwortlich war. Ohne auch nur mit der Wimper zu zucken oder sonst irgendeine Regung zu zeigen stand er vor ihr, die Klinge, welche er ihr soeben aus der Brust gezogen hatte, in der rechten Hand haltend.
Szarahs malträtierter Verstand brauchte ein paar Sekunden, um die Situation zu erfassen. Sie war wieder gefesselt, dieses Mal allerdings wurden ihre Arme über ihren Kopf nach oben gezogen, wo ihre Handgelenke von zwei eisernen Schellen an Ort und Stelle gehalten wurden. In ihrem Rücken spürte sie kalten Stein, unter ihren Füßen harten Fels. Entfernt drangen metallische Geräusche an ihr Ohr und der Geruch, oder vielmehr Gestank von Öl lag in der Luft. Was auch immer dies für ein Ort war, er war dunkel, kalt und feucht.
Viel mehr, als ihre Umgebung aber zog der nach wie vor grünlich schimmernde Dolch Szarahs Aufmerksamkeit auf sich. Die Klinge war unversehrt, ohne auch nur die kleinste Spur von Blut und ebenso verhielt es sich mit ihrer Brust. Fassungslos starrte die Assassine auf die Stelle, in die der Fremde den Dolch gestoßen hatte, aber dort war nichts. Keine Wunde, kein Blut, nicht einmal eine Narbe. Alles, was sie sah, war unversehrte blasse Haut und das konnte einfach nicht sein.
"Wir sind an einem Ort, an dem deine Schreie von Niemandem gehört werden", drang seine ruhige, kalte Stimme an ihr Ohr. "Ich verlange meinen Preis."
Hektisch flog ihr Blick durch den dunklen gewölbeartigen Raum, ein Fehler, wie sich heraus stellte, denn scheinbar gewann der Fremde dadurch den Eindruck, sie würde ihm zu wenig Aufmerksamkeit schenken. Den Dolch hebend setzte er die Spitze an ihren Bauchnabel an und erst jetzt wurde der Assassine bewusst, dass ihr Oberteil nach wie vor in zwei Hälften geteilt war. Eine falsche Bewegung und sie würde halb nackt vor ihm stehen. Allerdings hatte sie im Augenblick wohl dringlichere Probleme, als sich Gedanken über ihre Blöße zu machen, denn der Mann begann die Klinge langsam über ihren Bauch zu ziehen. Sofort spürte sie den scharfen, brennenden Schmerz, doch ihre Haut blieb vollkommen unversehrt.
Du wirst verrückt..., meldete sich ein leises Flüstern in ihrem Kopf, welches sie jedoch schnell wieder verdrängte.
Um dem Fremden zu zeigen, dass er ihre Aufmerksamkeit nun wirklich besaß und sie nicht weiter quälen musste, blickte sie ihm direkt in die blauen, so leer wirkenden Augen. "Was willst Du von mir..?"
"Das, was Du in dem See verloren hast", gab er zur Antwort, doch sie verstand nicht. "Du wirst mir dienen, Aufträge erledigen und weit mehr...", holte er schließlich etwas weiter aus und nach wie vor suchte Szarah vergeblich nach irgendeiner Regung. Seine Mimik wirkte verschlossen, ausdruckslos und seine Augen bar jeglicher Gefühle. "Ich glaube, Du verstehst noch nicht ganz...", sprach er weiter und nun schwang so etwas wie Spott in seiner Tonlage mit.
"Dann erklär es mir!", verlangte sie, die Stimme vor Anspannung zitternd, aber auch schärfer klingend.
Er reagierte kaum, schien sich lediglich an ihrer Angst und ihrem Zorn zu weiden. "Glaube nicht, dass Du dich verstecken kannst, oder verschwinden, oder gar abhauen." Nach wie vor hielt er den Dolch in seiner Hand, eine beständige stumme Drohung.
Dennoch hätte sie ihm am liebsten eine scharfe Antwort an den Kopf geknallt oder direkt ins Gesicht gespuckt. Sie war eine Assassine, kein verängstigtes Mädchen und konnte mit Schmerz weit besser umgehen, als viele andere, doch etwas in seinem Blick ließ sie zögern.
Sein Flüstern begann den Raum zu füllen, leise Worte, die sie nicht verstand, von denen sie aber instinktiv wusste, dass es sich um irgendetwas wahrhaft Dunkles handelte. Seine Gestalt begann zu verschwimmen, sich aufzulösen, fast als würden Schatten seinen Platz einnehmen wirkte er mit einem Mal seltsam durchscheinend. Überaus langsam beugte er sich zu ihr und ohne eine Möglichkeit, ihm irgendwie ausweichen zu können, spürte sie einen nebelartigen Kuss. Kalt und unwirklich lagen seine Lippen auf ihren und selbst sein Atem, der bis dahin noch warm und menschlich schien, war mit einem Schlag erkaltet. Eine unwirkliche Kühle umfing ihren Körper und ließ sie erneut ansatzweise spüren, wie es war wenn der Tod nach einem griff.
Dann war der Augenblick vorüber. Als wäre nichts dergleichen geschehen stand der Fremde wieder in seiner normalen Gestalt vor ihr, während sie noch die Nachwehen des eben geschehenen verdaute. Als wäre es das normalste der Welt griff er nach den Schellen, die um ihre Handgelenke lagen, löste sie und trat von ihr zurück. "Geh und verstecke dich, laufe weg! Verkrieche dich, wenn Du willst!", verhöhnte er sie und eröffnete ihr fast nebenbei noch etwas anderes. Ungläubig schüttelte sie den Kopf, wollte, konnte nicht glauben, was er sagte.
Sie war frei, das Gift hatte sich verflüchtigt und sie war wieder Herrin über ihre Gliedmaßen. Sie konnte gehen, denn jetzt in diesem Moment würde er sie nicht zurück halten, das wusste sie aus irgendeinem Grund. Und doch ging sie auf seine Aufforderung hin zu ihm, um ihn den Beweis erbringen zu lassen, dass seine Worte der Wahrheit entsprachen.