Flucht
David schüttelte sich und betrat tropfend das Haus seines Meisters. Schon seit Wochen hatte der Himmel wie es schien seine Schleusen geöffnet und dachte nicht im Traum daran, damit aufzuhören. Wenn es weiter so regnen würde, würden die umliegenden Bauern eine sehr schwere Zeit durchmachen, sollte das Saatgut auf den Feldern verfaulen. Und das würde auch Auswirkungen auf die Preise der vorhandenen Lebensmittel haben, und das wiederrum...seufzend ließ er den schweren Mantel von seinen Schultern gleiten um ihn zum Trocken vor den Kamin zu hängen. Sein Meister und seine Frau, beide kinderlos, befanden sich auf einer Versammlung und so würde er das Haus eine Weile für sich haben. Lächelnd betrag David die Küche und stibitze einen Kanten Brot und eine Ecke Käse, bevor er sich einen Schluck Bier eingoß und sich mit seiner Beute wieder in die Wohnstube vor den Kamin verzog. Sein Meister war ein strenger aber guter Lehrer und seine Frau fast so etwas wie eine zweite Mutter für ihn geworden, dennoch war die Arbeit viel und anstrengend und so genoss er jede freie und ruhige Minute, die für ihn so spärlich gesäht waren. Langsam, um nicht zu schlingen und das einfache aber leckere Mal zu genießen, machte er sich über Brot und Käse her und spülte alles mit dem Bier hinunter. Er war froh, in diese Lehre gekommen zu sein und dachte nur noch selten an sein Elternhaus. Die Gedanken an seinen Vater und seine Geschwister trübten seine Stimmung und manchmal machte sich nagend ein schlechtes Gewissen bemerkbar, so dass er sie lieber eilig verscheuchte. Doch dieses Mal wollte es nicht so gelingen wie sonst. Er hatte die Leute im Dorf reden gehört und die Wortfetzen, die er mitbekommen hatte, hatten ihm ganz und gar nicht gefallen. Aber was hätte er schon tun können? Sein Vater war ein Kaufmann und auch wenn sein Geschäft im Augenblick eher schleppend lief und er die spärlichen Einnahmen meistens in eine der Wirtsstuben trug, war er immer noch sein Vater und er schuldete ihm Respekt. Und dennoch war er froh, nicht länger unter einem Dach mit ihm leben zu müssen...
Ein zaghaftes klopfen schreckte ihn aus seinen Gedanken und David sprang auf und eilte zur Tür. "Wer da?" fragte er vorsichtig. Da es schon dunkel geworden war, war es besser, auf der Hut zu sein, er wollte keinem Gesindel oder Bettler die Tür öffnen, die auf der Suche nach Almosen oder Streit waren...
"David...ich bins...mach doch bitte die Türe auf..." hörte er eine leise Stimme.
"Kate!" verwundert öffnete er die Türe und ließ seine triefende Schwester, die anscheinend ohne Umhang oder Mantel hergekommen war, ins Haus huschen. Kate hielt den Kopf gesenkt und hatte zum Schutz gegen die Kälte die Arme um sich geschlungen. Seinem Blick ausweichend starrt sie zu Boden.
"Kate, was machst du denn hier?" fragte er überrascht. "Noch dazu ohne Mantel bei dem Wetter, du holst dir noch den Tod. Komm erstmal mit rein vor den Kamin." er wollte seiner Schwester den Arm um die Schultern legen und sie mit sich in die Wohnstube führen, doch Kate zuckte unter der Berührung zusammen. David verzog verwundert das Gesicht "Was is denn los? Ist etwas mit Mutter?" fragte er besorgt doch seine jüngere Schwester schüttelte nur den Kopf. "Na komm...wärm dich erstmal auf und dann erzähl."
Er ging voraus in die Stube und räumte den Bierkrug beiseite, ließ sich dann vor dem Kamin auf den Boden nieder und bedeutete Kate, es ihm gleich zu tun. Seine Schwester hielt noch immer den Kopf gesenkt und wich seinem Blick aus, doch der Schein des Feuers beleuchtete nun die Blessuren, die sie davon getragen hatte.
"Kate! Um Himmelswillen, was ist passiert!" David verzog das Gesicht und musterte das geschwollene Gesicht seiner Schwester und deren aufgeplatzte Lippe. Nervös und ängstlich presste sie eben jene zusammen, bevor ihre Schultern zuckten und es aus ihr heraus sprudelte:
"David, es ist die Hölle! Vater kommt fast ständig betrunken nach Hause und fährt bei jeder Kleinigkeit aus der Haut. Nichts kann man ihm recht machen!"
Der Blick ihres Bruders verdunkelte sich und er versuchte seine Schwester zu beruhigen "Ssssch...jetzt bist du ja erstmal hier." Er musterte Kate aus den Augenwinkeln während sich langsam ein merkwürdig flaues Gefühl in seinem Inneren auszubreiten begann. "David, ich gehe nicht mehr dorthin zurück! Es ist nicht auszuhalten!" Kate begann zu schluchzen "Ich weiß, ich bin nicht immer eine folgsame Tochter gewesen und habe manchmal seinen Zorn verdient, aber..." sie stockte und rang um Fassung "Er kann sich nicht mehr beherrschen. Er ist wie ein tobendes Tier, es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis..."
"Du solltest so etwas nicht sagen Kate, er ist immer noch dein Vater." schalt David sie und versuchte das unbehagliche Gefühl, dass sich in seinem Magen gebildet hatte, loszuwerden. Kate schnaubte abfällig bevor sie wieder zu schniefen begann "Du hast ja keine Ahnung. Du bist hier in deiner Lehre...er..." Kate brach ab und schüttelte den Kopf. David konnte seine Schwester nicht länger ansehen und wandte beschämt den Kopf zur Seite. War es verwerflich, dass er froh war, diesem Haus entkommen zu sein? Verstohlen mussterte er Kate. Obwohl er der Ältere war, wenn auch nur zwei Jahre Unterschied zwischen ihnen lagen, hatte er sie immer als die Stärkere betrachtet. Sie waren sich eigentlich schon immer sehr nahe gewesen, ihre zwei älteren Brüder waren schon länger aus dem Haus und als Celia gekommen war, war sie natürlich das Nesthäkchen und der Himmel für ihre Mutter gewesen, schon allein weil sie ihrem Vater ähnlich sah.
David seufzte und legte Kate die Hand auf den Arm "Und was willst du jetzt tun? Wie bist du überhaupt hergekommen?" fragte er. Das Haus seines Meisters lag im Nachbardorf und es gab eigentlich keinen Grund, warum seine Eltern sie hergeschickt haben sollten.
"Ich bin abgehauen." gab sie zur Antwort "Mutter ist mit Celia Großmutter besuchen gegangen und war einige Tage fort. Vater...Vater hat getrunken und..." so stockte wieder und erschauderte bei dem Gedanken. Er hatte getrunken, sie herum gescheucht und geschlagen, Normalität für sie. Sie hatte bisher alles klaglos ertragen weil sie wusste, dass ihr Vater dafür ihre kleine Schwester nicht anrührte. Aber in letzter Zeit...immer öfter kam es vor, dass ihr Vater sie so ansah, wie ein Vater seine Tochter nicht ansehen sollte. Als er das letzte Mal nach Hause gekommen war, betrunken wie meistens, hatte er versucht sie auf seinen Schoß zu ziehen - sie hatte sich herauswinden und ihn mit einem weiteren Bier ablenken können. Als er dann in seinem Sessel eingeschlafen war, war sie voller Panik geflohen. Sie wusste, was ihr blühen würde, sollte sie ihrem Vater je wieder unter die Augen kommen und lieber würde sie sterben.
"Ich gehe nicht mehr zurück, niemals." entschlossen schüttelte sie den Kopf und David sah für den Bruchteil einer Sekunde den alten Trotz aufblitzen, den er früher so an ihr bewundert hatte. "Du...du musst mir helfen. Ich weiß, ich kann nicht hierbleiben, aber bitte David, nur eine Nacht! Morgen...morgen verschwinde ich von hier, aber ich bin so müde und hungrig..." David rang mit sich und musterte das Häufchen Elend, dass seine Schwester war.
"Was...was ist, wenn du mit dem Bürgermeister sprichst?" fragte er in dem Versuch, ihr eine andere Möglichkeit aufzuzeigen.
"Pah, selbst wenn der mir glaubt...der schickt mich doch zurück nach Hause um "die Anschuldigen zu untersuchen"" äffte sie und schüttelte dann erneut den Kopf "und du weißt, was dann passiert. Er wird nicht helfen können..."
David schwieg und musterte sie eine Weile nachdenklich. Dann fasste er einen Entschluss, nickte und stand auf.
"Bleib du hier. Du kannst dir in der Küche etwas zu Essen nehmen und in meine Kammer gehen, ich werde sie dir zeigen."
"Was hast du vor?" fragte Kate und sah ihren Bruder mit einer Mischung aus Neugierde und Nervosität an.
"Lass mich nur machen..." meinte er beschwichtigend und Kate nickte nur müde, erhob sich und folgte seinem Vorschlag.