Alltag
Natürlich hatte ihr Vater einen Grund gefunden, sie zu Hause zu lassen. Ihr ältester Bruder Stephan war auf seiner Reise durch ihr Heimatdorf Waldbrücken gekommen und hatte es sich natürlich nicht nehmen lassen, kurz bei seinen Eltern vorbei zu schauen. Da tatsächlich gerade ein Jahrmarkt, genauer gesagt eine Gruppe Schausteller – Zigeuner wie ihr Vater sie schimpfte – am Dorfrand kampierten, hatten sie beschlossen, sich gemeinsam die Vorstellung anzusehen. Also waren ihre Eltern mit ihrer kleinen Schwester Celia und ihrem ältesten Bruder Stephan losgezogen. Als Kate sich voller Neugierde hatte anschließe wollen, hatte ihr Vater jedoch nur den Kopf geschüttelt und gemeint, sie wüsste schon warum sie zu Hause zu bleiben habe. Dies sei die Strafe für ihren Ungehorsam hatte er ihr gesagt und auch wenn Kate die Zigeuner wirklich gern gesehen hätte, hatte sie nur schuldbewusst den Kopf gesenkt und genickt. Ihr Vater fand und erfand seit einiger Zeit, seit er sie nach gefühlten Wochen endlich aus diesem düsteren Loch heraus gelassen hatte – in das er sie ab und an jedoch noch immer steckte – alle möglichen Dinge, die sie angeblich getan oder gelassen hatte. Kate hatte nicht einen einzigen Versuch unternommen, sich dagegen zu wehren, wozu auch, es hätte ja eh nichts genützt. Sie hatte gelernt, dass ihr Vater tun und lassen konnte was er wollte und von ihrer Mutter war keine Hilfe zu erwarten. Diese war fast selig, dass so etwas wie Ruhe eingekehrt war – ihr Vater hatte angefangen weniger zu trinken, dass Geschäft lief zwar immer noch eher schlecht, aber soweit Kate wusste, hatte er Lena nicht wieder geschlagen und auch Celia ließ er in Ruhe. Dafür – meistens wenn ihre Mutter und Schwester aus dem Haus waren – hielt sie als sein Prügelknabe hin. Mittlerweile schlug er sie selbst ohne Grund und da sie froh war, dass er nur den Rohrstock und nicht wieder den Schürhaken nahm, beklagte sie sich nicht. Wenn ihre Mutter dann wieder nach Hause kam und sie wieder einmal unter der Kammer eingesperrt fand, erfand ihr Vater eine Geschichte, warum sie diese Bestrafung „mal wieder“ verdient hatte.
Seufzend wandte sich Kate vom Fenster ab, durch das sie, nachdem ihre Familie gegangen war, einen kurzen Blick geworfen hatte und begab sich in die Küche, um das Abendbrot vorzubereiten. Es war der Tisch zu decken und Brot, Käse und Speck wollten auch geschnitten werden. Da ihre Mutter vermutlich eine Suppe aufsetzen wollte, hing sie schonmal den großen Kessel an die entsprechende Stelle des Kamins uns ging dann durch den Hintereingang nach draußen, um Holz für das Feuer hinein zu tragen. Das Schleppen war mühsam, denn sie konnte ihre Linke, die verbunden war, nur mäßig benutzen. Als sie ihrem Vater letztens einen Eintopf hatte machen sollen, war sie gestolpert und hatte ein wenig des Essens verschüttet. Ihr Vater war natürlich aufgefahren, hatte sie angebrüllt und in die Küche gezerrt um sie zu fragen, ob sie selbst für die einfachsten Arbeiten zu blöd sei. Er hatte ihre Hand genommen und an den noch heißen Kessel gepresst und sie hatte sich natürlich verbrannt. Sie war nur froh, dass die Wunden nicht ganz so schlimm gewesen waren und das sie relativ schnell wieder heilen würden, denn ihr Vater mochte es nicht, wenn Arbeit langsam oder nachlässig erledigt wurde.
***
„Und wie läuft das Geschäft?“ fragte ihn sein Ältester während sie auf die bunten Wagen zu schlenderten. Robert gab eine brummige Antwort. Das ging seinen Spross nun wirklich nichts an. Seit er sich etwas Geld geliehen und einige der ausstehenden Schulden und Aufträge hatte begleichen und erledigen können, sah es nicht mehr ganz so katastrophal aus, aber es wurde Zeit, dass sich langsam richtig etwas tat. Beiläufig schweifte Roberts Blick über seine Frau Lena, die ihre jüngste Tochter an der Hand führte und sich fast ebenso aufgeregt wie sie, die geschmückten Wagen und die aufgestellten Gerätschaften ansah, je näher sie ihnen kamen. Er hatte schon verschiedene Möglichkeiten abgewogen aber alle davon wieder verworfen. Es hätte zum Beispiel die Möglichkeit bestanden, einen Kompagnon einzustellen, aber dann hätte er Teile seines Geschäftes verkaufen müssen und wäre nicht mehr der alleinige Herr gewesen – eine undenkbare Sache.
„'s alles in Ordnung. Die letzten Aufträge liefen was schleppen, aber jetzt geht’s wieder bergauf...“
Stephan nickte und warf seinem Vater dann einen kurzen Seitenblick zu „Hoffe du hast nicht zu viel Ärger mit Kate“ meinte er dann „sie war ja früher schon ein Wirbelwind...“ Er konnte sich eigentlich gar nicht mehr richtig an seine kleinere Schwester erinnern, weil er wenige Jahre nach ihrer Geburt das Haus verlassen hatte aber er wusste noch, dass sie als Säugling viel geschrien und als Kleinkind überall herumgewuselt war, wo sie eigentlich nicht hingehörte. Und jetzt hatte sie sich selbst den Jahrmarktbesuch durch ihren Ungehorsam verdorben. Dabei hatte ihr Vater weiß Gott genug damit zu tun, dass sein Geschäft lief und seine Familie versorgt wurde, als das er sich auch noch um eine aufmüpfige Tochter kümmern musste.
„Hrm.“ brummte Robert „'s hört einfach nich das Mädchen. Da kann ich fast machen was ich will...“
Aber nicht nur die Widerspenstigkeit seiner ältesten Tochter war Robert ein Dorn im Auge, Lena hatte letztens beiläufig fallen gelassen, ob es nicht langsam an der Zeit wäre, sich nach einem Ehemann für Kate umzuhören. Gewiss, es waren noch drei bis vier Jahre Zeit, aber man konnte nicht früh genug damit anfangen, eine gute Partie zu finden hatte Lena gemeint. Aber wer würde dieses bockige Miststück schon haben wollen? ging es Robert durch den Kopf. Sie war nicht sonderlich begabt in der Küche, konnte nicht hören und nachdem was der Medicus gesagt hatte war es fraglich, ob sie überhaupt würde Kinder bekommen können. Ganz zu schweigen von der Mitgift, die er bezahlen müsste, und die er sich aber nicht würde leisten können.
„Papa!“
Celia kam auf ihn zu gerannt und riss ihn aus seinen Gedanken. „Guck doch was sie alles haben!“ in kindlicher Aufregung griff sie nach der Hand ihres Vaters und wollte ihn mit sich ziehen und tatsächlich ließ Robert es geschehen. Bei dem Anblick der bunt geschmückten Wagen und seltsamen Geräte, an denen die Zigeuner alle möglichen Kunststücke aufführten, war ihm eine Idee gekommen, wie er das Problem mit seiner ungehorsamen Tochter und seinen Geldnöten vielleicht mit einem Schlag in den Griff würde kriegen können. Ein zufriedenes Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus und für alle wurde es ein recht angenehmer Abend, da Robert überraschend gutgelaunt und freigiebig war. Selbst seiner Frau legte er nach langer Zeit mal wieder fast liebevoll den Arm um die Schultern während er sich mit seinem Ältesten und seiner Jüngsten die Vorstellung ansah. Kurz bevor sie sich gemeinsam auf den Rückweg machen wollten, immerhin war es schon relativ spät geworden, entschuldigte er sich kurz wegen einem „dringenden Bedürfnis“ und verschwand hinter einem der bunten Wagen.