Abschied
Kate wusste gar nicht, wie ihr geschah. Stephan hatte sich früh am nächsten Morgen, nach dem er die Nacht in ihrem Haus verbrachte hatte, verabschiedet und war wieder aufgebrochen. Sie hatte damit gerechnet, dass ihrem Vater spätestens nach dem Mittagessen, um das sie sich gekümmert hatte, wieder etwas eingefallen wäre um sie zu quälen, deshalb hatte sie versucht, möglichst den Kopf unten zu halten. Aber tatsächlich hatte er sie in Ruhe gelassen und auch die darauffolgenden sechs Tage rührte er sie kein einziges Mal an. Er war häufig weg, im Geschäft, in der Taverne oder in dem Hurenhaus vermutete sie und jedes Mal wenn er zurück kam warf er ihr einen dieser seltsamen, neuen Blick zu aber er schlug sie nicht. Die Verbrennung ihrer Hand war mittlerweile ganz verheilt und sie ging wie gewohnt ihren Pflichten im Haushalt nach, als es an der Tür klopfte.
Etwas verwundert, sie erwarteten eigentlich keinen Besuch, lehnte sie den Reisigbesen an eine der Küchenwände und ging zur Türe, um sie zu öffnen. Als sie durch die Wohnstube kam sah sie jedoch, dass ihre Mutter schneller gewesen war und schon in der kleinen Eingangshalle stand und den unerwarteten Besucher umarmte.
Vorsichtig lugte Kate um die Ecke und versuchte zu erkennen, wer sie da mit seiner Anwesenheit beehrte, als ihre Mutter auch schon zur Seite trat und sich suchend nach ihr umsah. „Ah, Kate, sei doch so gut und setzt etwas Wasser auf, ja? Einen Tee können wir uns noch genehmigen bevor wir aufbrechen oder?“ wandte sie sich dann mit dem letzten Satz an ihren Gast. „Aufbrechen?“ fragte Kate leise und machte gleichzeitig Anstalten, sich abzuwenden und in die Küche zurück zu gehen um zu tun, wie ihr geheißen wurde.
„Ja.“ sprach ihre Mutter in ihrem Rücken während sie den Gast in die Wohnstube führte „Meine Schwester bekommt ein Kind und Marius hier, ihr Ehemann, holt mich und Celia ab, damit wir uns ein wenig um Großmutter kümmern können währenddessen, es muss jetzt bald soweit sein – und ein Auge auf die Hebamme haben, Rika traut ihr wohl nicht so ganz.“ sie schüttelte den Kopf, als wäre so ein Misstrauen typisch für ihre Schwester. „Wie lang bleibt ihr fort?“ erscholl Kates Stimme aus der Küche, während sie mit zitternden Fingern Wasser für den Tee aufsetzte. Deshalb war also ihr Vater in den letzten Tagen so ruhig gewesen. Er hatte gewusst, dass er das Haus für sich alleine haben würde...
„Das weiß ich noch nicht.“ gab ihre Mutter zurück. „Aber Marius sagt, es kann jetzt jeden Tag soweit sein, dass is doch richtig oder?“ vergewisserte sie sich und Marius nickte. „Eine Woche vielleicht.“ tippte sie dann während sie sich mit ihrem Schwager vor dem Kamin nieder ließ. Kate hatte mittlerweile das Wasser aufgebrüht und balancierte nun zwei dampfende Becher in ihren Händen in die Wohnstube. „Danke!“ ihr Mutter schenkte ihr ein Lächeln und wandte sich dann wieder an den Mann ihrer Schwester „Ich weiß, wir werden morgen Abend da sein, aber du weißt wie gern ich Neuigkeiten höre, erzähl mir doch, wie geht es euch, ja?“
Kate verschwand wieder in der Küche und griff sich den Reisigbesen, um den Boden zu Ende zu fegen. Aber die ganze Zeit über war sie in Gedanken bei dem Moment, in dem ihre Mutter mit ihrer Schwester das Haus verlassen und sie mit ihrem Vater allein sein würde...
Sie hatte sich von ihrer Mutter und kleinen Schwester verabschiedet, hatte das Abendessen für sich und ihren Vater vorbereitet, dass sie größten Teils schweigend eingenommen hatten, und hatte dann die Küche wie gewohnt wieder in Ordnung gebracht. Ihr Vater saß mit einer Pfeife vor dem Kamin in seinem Sessel und schaute nachdenklich in die Flammen, einen Bierkrug in der Hand.
Ihre Arbeit war getan, also schlich sie sich möglichst lautlos durch die Wohnstube nach oben in ihre Kammer um sich ins Bett zu legen und nach dem anstrengenden Tag endlich schlafen zu können. Als sie den Kamin und damit ihren Vater passierte warf dieser ihr nur einen stummen Blick zu und sah ihr nach, als sie den Raum verließ. Robert konnte, nachdem Kate die Wohnstube verlassen hatte, ihre kleinen Füße auf der Treppe eilig trippeln hören und nahm noch einen großen Schluck aus seinem Krug. Es war knapp geworden, aber im letzten Endes hatte er doch alles zu seiner Zufriedenheit regeln können. Ein breites Grinsen begann, sich auf sein Gesicht zu schleichen. Seine Frau war ein paar Tage aus dem Haus, so dass er endlich seine zwei drängendsten Probleme lösen konnte: seine aufmüpfige Tochter und seine Geldsorgen. Für beides hatte sich eine wunderbar zueinander passende Lösung gefunden! Und da Lena mindestens eine Woche nicht in der Nähe sein würde bestand auch keine Gefahr, dass sie ihm einen Strich durch die Rechnung machte.
Mit einem letzten großen Schluck leerte er seinen Bierkrug, stellt ihn dann auf den Kaminsims und erhob sich aus dem Sessel. Dann folgte er seiner Tochter langsam nach oben und lauschte an der Tür zu der Kammer, die sie gewöhnlich mit ihrer Schwester teilte, nach irgendwelchen Geräuschen. Tatsächlich schien sie aber schon eingeschlafen zu sein, jedenfalls konnte er nichts hören. Robert öffnete leise die Türe, trat in den Raum hinein und blieb am Bett seiner älteren Tochter stehen. Eine Weile betrachtete er das schlafende Kind, bevor er sich hinunter beugte und recht grob die dünne Decke zurück zog. „Wach auf Kate.“ meinte er und bemühte sich nicht im geringsten, leise zu sein.
Sofort als sie die Stimme ihres Vaters hörte schlug Kate die Augen auf und starrte angstvoll in Roberts Gesichts. Doch dieser trat, im Gegensatz zu dem was sie befürchtet hatte, von ihrem Bett zurück und meinte „Steh auf und zieh dich an, wir haben noch etwas zu erledigen. Beeil dich.“
Kate sprang sogleich wortlos aus dem Bett auf und folgte der Anweisung. Dann wandte sie sich um und sah zu ihrem Vater, genauer an ihm vorbei. „Gut.“ Robert drehte sich ohne weitere Erklärung um und verließ den Raum und Kate folgte ihm. Gemeinsam gingen sie die Treppe hinunter und steuerten die Haustüre an. Ihr
Vater verschloss sie hinter ihr sorgfältig wieder, nachdem sie hinaus getreten waren, bevor er sich in der beginnenden Dämmerung nach rechts wandte und eine
Weile durch das Dorf schlenderte. Kate blieb die ganze Zeit stumm hinter ihm, den Blick gesenkt. Sie vermutete, es würde vielleicht zu einem späten Kundentermin gehen, aber es könnte auch etwas ganz anderes sein. Sie hatte sich abgewöhnt, ober Dinge die geschahen Gedanken zu machen sondern begonnen, sie einfach so hinzunehmen wie sie passierten.
Nach einer Weile bemerkte sie, dass ihre Schritte und die ihres Vaters sich dem Dorfrand näherten und sie ihn irgendwann hinter sich ließen. Überrascht und etwas verwirrt hob sie den Kopf und sah sich kurz um, wobei sie in einiger Entfernung die bunten Wagen der Zigeuner entdecken konnte. Was wollte ihr Vater dort?
Robert hingegen ging zielstrebig auf die Gruppe zu und Kate konnte beim Näherkommen einige Gestalten erkennen, die vor den reisebereiten Wagen standen. Vor der kleinen Gruppe angelangt bliebt ihr Vater stehen, streckte den Arm nach hinten aus und schob sie ein paar Schritte vor sich auf die Fremden zu. „Hier ist sei.“ meinte er ruhig und der vordere der Zigeuner machte einen Schritt auf sie zu und beugte sich leicht hinab, um sie besser in der Dunkelheit mustern zu können. Er verzog die Lippen zu einem schiefen Grinsen und Kate konnte sehen, dass ihm ein Zahn fehlte.
„'s isn hübschs Ding, bisschen dünn vielleicht aber sehr zart, da kann man sicher was draus machen.“
Kate runzelte verwirrt die Stirn. Ein zweiter Kerl trat heran, griff an seinen Gürtel und warf dann ihrem Vater einen kleinen Beutel zu, der leise klimperte. Robert fing den Beutel überraschend geschickt auf und nickte dann zufrieden.
„Also, Kleine, komm.“ Zahnlücke wollte sie packen und mit sich zu den Wagen führen, doch Kate wich reflexartig einen Schritt zurück und starrte fassungslos zu ihrem Vater hinüber.
„Was...?“ ihre Lippen formten die Frage doch sie kam nicht dazu, sie ganz zu stellen. Zahnlücke brummte, setzte ihr nach und packte sie dann recht unsanft, hob sie mühelos hoch und warf sie sich dann über seine Schulter. Kate fing an zu zappeln und sich zu wehren, während Robert sich ohne Kommentar abwandte und zurück Richtung Dorf schlenderte, doch erfolglos.
„Vater!“ schrie Kate während Robert sich immer weiter von ihr entfernte und der Zigeuner sie gnadenlos, mit einem seltsamen Kichern, auf die bunten Wagen zutrug.
„Halts Maul.“ fuhr sie der Kerl an, der ihrem Vater den Beutel zugeworfen hatte. Neben ihm ging noch eine Frau, die jedoch keine Anstalten machte irgendwas zu sagen oder zu tun. In Panik trat Kate weiter um sich und versuchte, sich aus dem harten Griff zu befreien und irgendwas schien sie getroffen zu haben, denn Zahnlücke zog auf einmal scharf die Luft ein. Daraufhin plumpste sie plötzlich unsanft zu Boden und der Beutelwerfer beugte sich drohend über sie „Wenns nich so geht, dann eben anders.“ knurrte er und holte aus. Sekunden später traf seine Faust Kate an der Schläfe und sie sackte reglos zusammen und wehrte sich nicht mehr.