Die schwere Holztüre knarrt, kurz verharrt Lucas schweigend, automatisch die Luft anhaltend, in jener und lauscht nur. Wie die letzten Tage schon sieht er müde aus, es gibt seiner Optik eine deutlichere Strenge. Und sein Gemüt ist gereizt, Schuld daran ist nicht nur der sterbende Vater, sondern auch der viele Whiskey.
Angestrengt lauscht er.
Eine Sekunde - Stille, zwei Sekunden - Stille, drei Sekunden - Stille, vier Sekunden - Stille, fünf Sekunden - Stille.
Sekunde sechs: ein tiefer, röchelnder Atemzug.
Einen Moment lang war er sich sicher das er es geschafft hat, das Gefühl in der Bauchgegend war verräterisch und ein bisschen von Vorfreude durchzogen. Aber dann kamen sie alle wieder - die elenden Geräusche die Sterbende machen. Es erinnert fern an verkommenes Gurgeln, wenn sich zäher Schleim im Rachen sammelt und die armen Seelen es nicht mehr fortgehustet bekommen, die Atmung klingt dürftig wenn sich der Mund wie bei einem Fisch öffnet und ein kleiner Schnapp nach Luft folgt.
Der menschliche Körper aber ist zäh, der Todeskampf dauert oftmals Tage an. Der Fortschritt ist schleichend, wobei die letzten Stunden sehr einprägsam sind. Und etwas das oft vor dem Sterben geschieht: Ein klarer Moment, ein letztes Aufbäumen, ein Hoffnungschimmer im Meer der Trauer.
Der gestrige Tag sah entsprechend aus.
“Lucas, deinem Vater geht es heute besser.
Er hat sogar etwas von der Milchsuppe gegessen?”
Seine Mutter würde es nie aussprechen, aber so etwas wie Hoffnung liegt in ihrem Blick als sie die Worte an ihren Ältesten richtet. Die Farben ihrer Augen gleichen den seinen, sie hat ihn damit beschenkt und während er langsam nickt, beugt er sich zu ihr herüber und gibt ihr einen Kuss an die Stirn. Die Luft hier draußen im Garten ist klar, eine Decke liegt über ihrem Schoß und sie trägt eine Haube, denn sie friert am Kopf am Ehesten. Die Holzbank auf welcher sie sitzen, haben seine Eltern zum 25. Hochzeitstag geschenkt bekommen. Auf einer silbernen geschwungenen Platte stehen die Namen der Beiden und das Datum ihrer Hochzeit.
“Ich schaue gleich mal nach ihm, erhole dich noch ein wenig. Und wenn Sophie gleich mit Kuchen und Kaffee kommt, nimm auch etwas zu dir Mutter.”
Die Stimme des Sohnes klingt ausgewählt besorgt und sie lächelt deswegen ein wenig und verspricht mit einem Nicken der Aufforderung nachzukommen. Aber ihre hagere, erschöpfte Gestalt gibt wenig Hoffnung. Nach einem weiteren Kuss an ihre Stirn erhebt er sich und verlässt über kurzem Weg den Gartenbereich und betritt das Haus wieder. Den Weg zum Schlafzimmer seiner Eltern findet er im Schlaf und bald schon steht er dort. Der Vater ruht, die Augen sind geschlossen, also entschließt sich Lucas etwas Feuer nachzulegen und kurz zu lüften. Erst als das alles geschehen ist, erklingt die vertraute Stimme des alten Herren.
“Lucas, komm, setze dich zu mir.” Die müde Hand hebt sich und deutet an die Bettkante, das Zögern des Sohnes verletzt den Vater. Das ist es vielleicht auch, welches ihn schließlich doch dazu bringt sich dorthin zu setzen und die Hand flüchtig an die Stirn des Kranken zu legen, danach die Augenlider herunter zu ziehen und ihn dann die Zunge ausstrecken zu lassen.
“Wie fühlst du dich, Vater?” fragt er schließlich, nachdem er zufrieden nickt.
Die Gesten des Arztes, der eigentlich sein Sohn ist, lässt er über sich entgehen und er schüttelt den Kopf als Lucas die Frage an ihn richtet. Mit Mühe und etwas Hilfe bringt er sich in den Sitz, es wird ihm sogar das Kissen kurz aufgeschüttelt.
“Wir haben nie über Micaela geredet, Lucas.”
“Weil es dazu nichts zu sagen gibt, Vater.”
“Du hast sie ermordet.”
“Ja, es war eine Warnung.”
“Eine Warnung? Ich habe sie geliebt.”
“Ich weiß und sie dich.”
“Ich kann nicht begreifen warum, Lucas.”
Es war genau dieses Zimmer. Der alte Mann erinnert sich daran als wäre es gestern gewesen. Seine Ehefrau war mit den jüngsten Kindern zu Besuch bei ihren Eltern und er freute sich auf uneingeschränkte Zeit mit Micaela. Seine Zeit hatte er entsprechend eingeteilt und dafür gesorgt das nicht mal die Arbeit ihn stören würde. Seine schöne Elonierin hatte versprochen nackt im Bett auf ihn zu warten - im Ehebett - und er frohlockte schon den ganzen Tag darauf.
“Du musst dich doch nicht verstecken, Täubchen!” brummelte er als er das Schlafgemach betrat und sie im Schein des Kaminfeuers nicht ausmachen konnte, aber eine Erhebung unter der Decke sah und sie dort wähnte. Aus seiner Kleidung sprang er, als sei er ein wachgeküsster junger Gott und riss wenig später die Decke fort. Voller Schreck sprang er einen Schritt zurück, dann erbrach er sich schwallartig auf den guten Teppich, nur um dann weitere Schritte zurück zu taumeln.
“Weiß du…”
Lucas Stimme erklingt aus dem Eck des Zimmers, nahe der Türe zum Badezimmer.
“Du...Du elender..”
“Na na na..” Die Hände hebt er beschwichtigend. “Hör mir lieber zu.”
Der Vater sieht beinahe Rot, aber noch bevor er auf Lucas zustürmen kann, fesseln ihn seine Worte an Ort und Stelle.
“Mutter ist arglos, sie will das hier nicht wissen. Aber wenn du mich dazu zwingst?”
Seine Augenbrauen heben sich flüchtig.
“Ich habe Zeugen, Vater. Glaubhafte Aussagen darüber das sie deine Affäre auffliegen lassen wollte, um endlich mit dir zu leben. Aber hättest du das alles hier behalten können? Wohl kaum.”
“Du Lügner!” knurrt er.
“Nein, ich bin nur jemand der es nicht leiden kann wenn man sich einmischt. Also halte dich aus meinem Leben raus. Wenn nicht, ich kann immer noch mit Mutter sprechen..”
Er packt Lucas am Kragen, sein Sohn lässt es sich gefallen, er wähnt sich auf der Spur des Siegers.
“Wenn dir das aber gleich ist?”
Der Schlag trifft ihn. Lucas hat vielleicht damit gerechnet, aber nicht mit der Wucht und auch nicht mit der Präzision. Seine Nase bricht, Blut schmeckt er sofort.
“Geh mir aus den Augen, verschwinde. Verschwinde von hier!”
Sie tauschen einen Blick miteinander und nach kurzem Zögern verlässt der Sohn das Schlafzimmer seiner Eltern und wenige Stunden später auch das Haus.
Während die Hoffnung andauert, sitzt Lucas immer noch neben seinem Vater, seine Gedanken waren kurz abgedriftet. Hin zu dem was gewesen war. Nachdenklich betrachtet er das Gesicht seines Herren, aber er nickt kurz.
“Ich würde es heute nicht mehr so machen.” sagt der Arzt.
“Ist das eine Entschuldigung?” fragt der Kranke.
Das Schweigen zieht sich, keiner will zuerst reagieren.
Lucas erhebt sich vom Bett und stellt sich an das Fenster, stützt die Hände auf der Bank ab und lenkt den Blick in die Ferne, auch wenn er wirklich im Hier und Jetzt ist. Nach Zögern, Zaudern und dem Für und Wider nickt er langsam.
“Ja Vater, das ist eine Entschuldigung.”
Entgegnet er schließlich.
Es stand zwischen ihnen, seit es geschehen war, dennoch hat er seinen einzigen Sohn nie verstoßen. Vielleicht auch weil er nach all den Jahren so etwas wie Verständnis und weniger Gram empfunden hat. Die Hand streckt er nach seinem Kind aus und wieder zögert Lucas, wendet sich aber vom Fenster und dem Licht ab, um in das Dunkle des Zimmers zu treten und die Hand seines Vaters zu ergreifen. Die Hand ist kalt und hager, die Krankheit hat an ihm gezerrt, trotzdem entbehrt der Händedruck nicht einer gewissen Kraft.
Eine der ersten zärtlichen Gesten seit Jahrzehnten, welche sie teilen.
Und eine der Letzten.
“Mein Geschenk an dich, Vater.”
Lucas hat leise gesprochen und löst sich aus dem Türrahmen, tritt mehr in den Raum und legt noch ein bisschen Holz nach, greift sich eine Decke vom Stapel und legt sie seiner Mutter über, welche im Sessel eingeschlafen ist. Kurz öffnet sie die Augen, aber Lucas schüttelt den Kopf, küsst ihre Stirn wieder und seine Stimme klingt warm wie lange nicht.
“Schlaf weiter, es ist alles in Ordnung, Mutter.”
Erst wenn sie es tut, bewegt er sich zum Bett herüber und holt aus dem Koffer der am Nachtschrank steht, eine lederne kleinere Tasche. Es sind geübte Handgriffe, die die Spritze mit füllen und wenig später hat er die Nadel am Hals angesetzt, sticht zu und schenkt ihm die letzte Ruhe. Der goldene Schuss, ein gnadenvoller Tod.
Der Zeitraum den er braucht um alles zu verstauen ist auch jener, den der Vater braucht um erlöst zu werden. Die Atmung versiegt, das Röcheln findet ein Ende, ein letztes Gurgeln, dann herrscht endlich Stille. Das Leben weicht aus dem menschlichen Körper, es war immer faszinierend für ihn, aber hier ist er mehr Angehöriger als Arzt, er sieht es nicht und spürt es dennoch. Es überrascht ihn das seine Augen brennen, es überrascht ihn auch das keine Erleichterung eintritt. So ist er einen Moment sogar zornig darüber, besinnt sich aber. Seine Augen reibt er mit Daumen und Zeigefinger, dann erhebt er sich um die Mutter zu wecken.
Er bleibt im Zimmer auch wenn ihm nach Flucht wäre, hatte seine Schwester dazu geholt und bleibt trotz der Anspannung stoisch stehen, während Schluchzen und Tränen Einzug halten.
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