„Dieser anklagende Blick ist unangebracht.“
Im Schneidersitz saß sie auf den Schieferschindeln des alten Daches im Rauhreif des neuen Tages.
Sie war die ganze Nacht durchgeritten, hatte im Mondlicht auf dem Rücken ihres schnaubenden Rappen gesessen und selbst den Weg nicht gesehen, während das Tier feuchtwarmen Atem durch die Nüstern in die Nacht spie. Sie hatte Glück dass es den Weg kannte, wusste wohin es galloppieren musste, denn sie selbst war unfähig eine Richtung vorzugeben.
Irgendwo zwischen dem Kloster Eldvin und der Nebo-Terrasse waren ihre Tränen dann versiegt, und sie hatte kraftlos und matt ausgeharrt, bis das Tier sie durch das Schmiedeeiserne Tor getragen hatte.
„Er ist immernoch unangebracht. Ich bin mir durchaus bewusst, dass Weglaufen keine valide Option ist, Herr Hasenohr!“ sie ranzte die abgegriffene, geblümte Stoffwurst die neben ihr am winzigen Sims des Daches lehnte mit der kraftlosen Gereiztheit eines erschöpften Streithahnes an. Freilich gab es keine Antwort.
„Sie ist schuld! Ganz alleine! Sie ist doch mehr als das! Meine Freundin, mein Vorbild! Sie ist erwachsen, sie weiß wie man sich erhaben benimmt! Sie ist doch keine…sie ist doch nicht sowas wie Gwennis! Sie darf nicht wie Gwennis sein!“
Sie war durch das Haus bis hinauf zum Dach gelaufen, und hatte sich dort verschanzt. Ausser ihr war weit und breit niemand in der Nähe, und doch… Die durchgeliebte Stoffwurst hatte sie neben sich abgesetzt, und eine lange Weile auf den See und den erblühenden Tag hinausgesehen. Hier, am Rande der Zittergipfel, war der hereinbrechende Winter greifbarer als im Rest von Kryta, und ein scharfer, frostiger Wind zerrte an ihrem Hut und dem Mantel. Sie fror, und war körperlich doch zu betäubt um es zu bemerken.
„Du bist ein dummes Kind. Du warst es immer, dumm und nutzlos wie deine Mutter es gewesen ist. Sogar Adrian hat das mittlerweile erkannt. Du erinnerst dich?“
„Und wenn schon. Ich brauche ihn nicht.“ Stolz hob sie das Kinn.
„Was glaubst du hast du erreicht, dadurch, dass du weggelaufen bist? Glaubst du, dass sie es sich anders überlegen und nicht zu ihm in die Kiste hüpfen wird sobald sie die Gelegenheit dazu hat? Glaubst du es macht ihren letzten Fehltritt rückgängig? Was willst du erreichen?“
Sie schwieg. Lange. Es dauerte bis sie den Kloß im Hals zurückgedrängt hatte, und überzeugt war dass sie mit fester Stimme sprechen konnte.
„Ich erreiche dass ich Zeit für mich habe. Zum Nachdenken.“
„Worüber willst du nachdenken? Wie du damit umgehst dass deine Freundin ihr Leben lebt? Wie sie genießt was sie bekommen kann, und du damit nicht umgehen kannst, weil du es ihr nicht gönnst? Weil du neidisch bist dass du es nicht haben kannst? Weil du verbohrt, prüde und zugeknöpft bist?“
„Ich bin nicht-„
„Wage es nicht mir ins Gesicht zu lügen.“
Sie schwieg. Kleinlaut, dort, wo sie sonst stets pflegte aufzubegehren. Ihr Stolz war in seinen Grundfesten erschüttert, ihre Überzeugungen, ihr Vorbild – zerbrochen.
All die Dinge, die sie so sorgfältig trainiert hatte, fortgewischt. Sie hatte geweint – öffentlich. Vor Helena. Sie hatte Schwäche gezeigt und sich angreifbar gemacht. Und wofür?
Dafür, dass es doch nichts änderte. Jeder wusste mehr als sie. Lynn, Lucas, Al.
„Du bist schon eine tolle beste Freundin. Niemand weiß weniger über sie als du.“
Auch diesmal widersprach sie nicht. Es stimmte ja. Was wusste sie schon.
Nichts, ganz offensichtlich.
Helena hatte sich nicht getraut sich ihr anzuvertrauen. Vielleicht hatte sie gut damit getan.
Mit Lucas hätte sie leben können. Ohne Probleme. Nur ein Kapitel in einem langen Buch voll guter Geschichten. Aber der andere - ausgerechnet er. Das alleine hatte sie tief erschüttert, und sie an ihrem Glauben an die Freundin zweifeln lassen. Nur kurz, dafür aber überdeutlich.
Nun war sie nicht sicher ob sie mit den Dingen leben konnte die sie wusste. Sie hatte Helena versichert, dass sie sie nicht verurteilen würde. Das tat sie auch nicht. Aber sie war enttäuscht. Von Helena, und noch mehr von sich selbst. Und letzeres war das, was ihr schlimmer zusetzte als alles andere.
„Du bist am Ende eben doch nur ein dummes Landkind das in der Stadt maßlos überfordert ist.“ Sie triefende Genugtuung die bei den Worten mitklang, trieb ihr die Galle den Hals hoch.
„Wer hat sich denn verpisst und aus der Verantwortung gezogen?!“ giftete sie zurück.
„Aktuell? Du.“ Schachmatt.
In hohem Bogen flog die geblümte Stoffwurst vom Dach und fiel mit der Last von vielen einsamen Jahren beladen schwerfällig zu Boden.
Sie dachte daran, wie sie vor wenigen Nächten neben Helena gelegen, und all die Gedanken gewälzt hatte. Sie wollte Helena beschützen, auf sie Acht geben und all das Übel von ihr fernhalten.
Auch jetzt noch bemaß sie die Freundschaft als ihren wertvollsten Besitz.
Wieviel ihre eigene Freundschaft wert war… darüber wollte sie nicht nachdenken. Es stimmte, dass sie keine gute Freundin war. Sie kannte es nicht, wusste nicht wie man eine gute Freundin war. Sie wollte nur das Beste, wollte helfen, doch wie sollte sie wenn sie stets zurückgestoßen wurde?
Diese elenden Rückschläge entmutigten sie, denn sie kam nicht vorwärts. Sie wollte besser werden, eine gute Freundin sein. Doch offenbar war sie nicht für Freundschaften geschaffen.
„Das hast du davon, Freunde haben zu wollen.“ Sprach es gehässig.
„Richtig.“ Antwortete sie nach einer Weile, und stemmte sich in die Höhe.
„Aber wer den Weg beginnt, muss ihn auch zuende gehen, egal ob aus der Pflasterstraße ein Feldweg oder ein feiner Teppich wird. Ich bin besser als ihr es wart.“
Sie trat aus der kleinen Küchentür und das angefrorene Gras knirschte leise unter ihren Stiefelsohlen, als sie im kühlen Licht des frühen Tages über die Wiese lief. Sie bückte sich, und hob die durchgewetzte Stoffwurst auf, strich ihr liebevoll die Frostkristalle von den baumeligen Gliedmaßen.
„Ich bin vielleicht keine gute Freundin“ erzählte sie dem Stofftier „aber vielleicht bin ich ausreichend in meiner Unvollkommenheit. Was denkst du, Herr Hasenohr? Lustig, nicht? Ich werfe ihr ihre Fehler vor, dabei bin ich die, die wegläuft.“ Plötzlich musste sie lachen, verstummte aber gleich, als sie hörte wie hässlich das Geräusch über den See hallte. „Normalerweise bin ich diejenige die sie fortstößt, und trotzdem läuft sie mir nach. Und was mache ich wenn sie mich fortstößt? Ich laufe weg. Ich bin ein Arschloch.“
„Das liegt in der Familie.“
„Ich weiß.“
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