„Helena, es läuft verkehrt herum mit dir. Du bist Licht, das von den Motten angezogen wird.“
Ilie saß bei ihr, mit seinem schönen blonden Haar, das ihm in Strähnen in die etwas zu groß geschnittenen Augen fiel. Er hatte sich in den letzten Wochen maßgeblich verändert, auch wenn sie es bislang nur an seinen Gesten und den Dingen, die er sagte, festmachen konnte, und vielleicht ein wenig daran, dass er generell mehr gesprochen hatte, seit er wieder zurück war. Sie griff zu dem Tisch, auf dem seine Hand lag, und streichelte darüber.
„Du weißt nicht, wer Motten sind.“
Sein heller, glatter Mund schwieg.
„Ich erinnere mich vielleicht besser als du. Du hattest schon immer die Angewohnheiten, Unerfreulichkeiten vor dir selbst und der Welt zu verbergen, zu kaschieren und zu unterschlagen. Wahrscheinlich hast du das Meiste einfach vergessen.“ Er küsste ihren Kopf, bevor er ging. „Dein Kater braucht noch einen Namen. Nenn ihn nicht wieder Cird.“
Sie sah seinen Schatten noch einen Moment im Gang, ehe er ganz verschwunden war. Als er schon lange weg war, wiegte sie immer noch in ihrem weißen Rock auf dem Stuhl vor und wider und sann seinen Worten hinterher. Und dann fiel ihr so ein Umstand, den sie schon ganz vergessen gehabt hatte, wieder ein....
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Vielleicht war sie an dem Tag sieben Jahre alt gewesen, es konnte aber auch sein, dass es noch einen Spätherbst vorher oder sogar später gewesen war. Adrian war zu dieser Zeit in der Stadt, um Leon zu besuchen. Helena erinnerte sich, wie sie in einem grauen Kleid, mit schwarzer Haube auf den Locken, über die darüber, weil das Wetter schlecht war, noch ein wollener Kapuzenmantel hochgeschlagen war, mit ihrer Mutter an einem Marktstand wartete und während die Frauen eilig die Waren zusammenräumten, versuchte, ungesehen mit dem ein oder anderen verstohlenen Griff etwas in ihren Besitz zu bringen, das ihr nicht gehörte. Der Wind war schnell schärfer geworden und fuhr schräg in die Straßen hinein. Der Regen blies den Leuten damit unbarmherzig in die Gesichter, prasselte und zersprang kalt auf den Holzgerüsten der Standplätze, die so schnell zusammengebaut wurden, wie die vielen durcheinandergreifenden Hände es schafften.
Über das Pflaster beeilten sich nach vorn gebeugte Frauen mit Mantillen und Tellerhüten, fortzukommen und die Kormirpriester hielten ihre Provianttaschen, die sie leer von der Armenspeisung wieder brachten, schützend über ihre Häupter.
„Da ist Adya“, sagte Helena zu ihrer Mutter und deutete, den kurzen Finger über die Straße gestreckt, in den Seitengang hinein, in dem der junge Mann sich gerade anschickte, so schnell zu verschwinden. Aber ihre Mutter hörte nicht. Ligia Iorga war ganz zerstreut, den Marktfrauen zu helfen und mit ihren unkoordinierten Bewegungen dabei im Weg zu sein. „Ich geh schonmal.“
Auch das hatte Ligia wahrscheinlich nicht gehört, denn eine Windbö hatte eine Kiste mit Feigen von der Ablage gehauen und jetzt stießen die Frauen mit den Köpfen zusammen, um sie wieder aufzuheben.
Es war diese Art von Unwetter, die einen innerhalb von Sekunden durchnässte, aber Adrian, der sich in Gesellschaft eines anderen jungen Mannes befand, durchschritt die Gassen wie ein früher König, dem die Menge an den Gassenwänden zutoste wie jetzt in Wirklichkeit der steile Regen aufs Pflaster klatschte. Neben ihm, sein Begleiter, trat genauso gefällig einher und hatte die Taschen in einem dichten Lodenmantel vergraben.
Das war Lucas Cazardieu, der Freund von Adrian und Leon, über den sie gestern noch am Tisch der Fleckensteins, ihrer Nachbarn, die Mädchen hatte tuscheln hören. Seine Augen seien ja so warm wie Bernstein, hatte die eine, sich heimlich der anderen zuneigend, gesagt. Und er habe einen fürchterlich schönen Blick. Die andere hatte behauptet ihn etwas gruselig zu finden, aber begründen können hatte sie es nicht. Als beide sich in einem relativ dümmlichen Kichern ergangen waren, hatte Helena aufgehört, ihnen zu folgen.
Der schmale Gang zwischen den Häusern, in den sie den jungen Männern hinterherbog, gehörte nicht zu ihrem Heimweg, ihr spukte aber noch unablässig die Aussage im Kopf herum, dieser Lucas Cazardieu sei 'etwas gruselig', und weil ihre Brüder und Cousins, zu denen auch Adrian gehörte, sie freiwillig nicht mitgenommen hätten, kam sie ihnen heimlich nach. Die beiden Burschen waren so arrogant in ihrer Sicherheit, dass man ihnen bei dem Wetter nicht folgte, dass sie kaum einen Blick über die Schulter warfen und gleich in einem Haus verschwanden, das Helena unvertraut war. Sie wagte sich zuerst nicht ganz heran, weil einerseits der abgebröckelte Putz an der Fassade sie schreckte und sie andererseits nicht riskieren wollte, dass die beiden gleich wieder herauskamen und ihr von oben ins Gesicht starrten. Mit angezogenen Schultern wartete sie im Regen und konnte nicht sagen, ob es lange oder kurz war, aber ihr lief, als sie schließlich die Stufen hochtrat und das Haus umrundete, um zu sehen, in welchem Fenster Licht brannte, das Wasser über die Kaputze wie von einer Dachkante und troff ihr unten wieder auf den Saum. Sie schürfte sich das Knie an einer kleinen Mauer auf, über die sie klettern musste, damit sie rückseitig des Gebäudes zu dem Fenster gelangte, das vom orangefarbenen Lichtschein von drinnen ausgekleidet wurde. Wortlos und mit großen Augen zog sie sich dann am Fenstersims hoch, und lächelte noch eine Sekunde, als sie drinnen die Gestalten wiedererkannte, denen sie nachgeschlichen war. Was sie aber durch die Scheiben sah, an denen das Regenwasser heruntertrieb, ließ ihr den Mund aufklappen.
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Sie hatte es ganz vergessen, dass Lucas Cazardieu in der Tat 'ein wenig gruselig' war, und heute, wo es ihr wieder einfiel, wo sie sogar an sein Haus klopfte, um bei seiner Schwester Sophie, die in ihrem hochgeschlossenen, schönen Kleid wieder einen ordentlichen und treuen Eindruck machte, einen Korb mit Kräutertees und einige Wintergewürze für die Mutter abzugeben, da beschäftigte es sie beinahe mehr als damals, denn Ilie hatte Recht, sie schob das Seltsame gern zur Seite; heute aber wollte sie nicht in diesen Zustand der Vertuschung übergehen, sondern drehte und wendete ihre Erinnerungen in alle Richtungen, beschaute sie in Gedanken bis in die Fugen und ließ sich davon einnehmen, sodass sie die Einladung Sophies, hereinzukommen, ausschlug, sich verabschiedete und dann davon ging zu dem Haus, das ihr im Andenken wieder gewahr geworden war. Es hatte jetzt eine andere Fassade und glänzte unter neuem Putz. Die Tür hatte ein sichtbares Schloss und wie zwei Augen starrten aus dem oberen Stock, den es früher noch nicht einmal gegeben hatte, Fenster mahnend auf sie hernieder. Für Minuten stand sie vor dem fremden Haus und erlangte das seltsame Bewusstsein, dass sie in ihrem Keller mehr an Erinnerungen vergraben hatte, das sie vielleicht, wenn sie etwas aufräumen und entstauben würde, wiederfände. Dann ging die Tür auf und eine junge Frau trat heraus, rief noch etwas in die Räume zurück und machte sich fröhlich auf den Weg. Sie zog an Helena vorbei, ohne sie wahrzunehmen. Helena aber sah ihr lange nach und fühlte sich ein bisschen flau.
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Happy Birthday, Luke
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