„Im Grunde wisst ihr, was vorgefallen ist. Ich muss es, der Vollständigkeit halber, trotzdem noch einmal darlegen. Auch, um Missverständnisse zu umgehen. Vor mehreren Wochen wurde die Fensterscheibe der Apotheke 'Zum goldenen Band' eingeschmissen. Victor hat daraufhin ein paar seiner Leute dorthin geschickt, um nach dem Rechten zu sehen und sie dann auf Wunsch der Besitzerin, weil ihr die Familie Libanez offenbar zu unheimlich war, wieder abgezogen. Mila wurde dort mit zwei komischen Kerlen gesehen, mittlerweile wissen wir, dass es Lauterwald war, der sie geschnappt und befragt hat. Er hat sie wieder gehen lassen, aber anstatt zurückzukommen, hat sie die Flucht ergriffen und sich das Vertrauen der Familie unbedacht verspielt. Wir wissen nicht, was es bedeutet, dass sie weggelaufen ist. Aber ich denke, wir können es alle deuten. Helena hat es ebenfalls gedeutet. Und dann auf eigene Faust entschieden, dass Leute, denen nicht mehr zu vertrauen ist, eine Gefahr darstellen, die für die Familie nicht tragbar ist. Sie hat Mila beseitigt. Allerdings hat sie ohne meine Anweisung gehandelt, ohne Berücksichtung der Tatsache, dass es sich um Revan Libanez' Tochter handelt und ohne mich oder jemand anderen darüber in Kenntnis zu setzen.“ Die Pause, derer er sich bediente, war zu kurz, um seine Gedanken zu ordnen. Es musste vorher geschehen sein. Jetzt trug er seine Entscheidungen in einem schnörkellosen Habitus und unduldsam gegenüber Abweichungen oder Unterbrechungen nur vor. Ohnehin war der disziplinierte Einschnitt von Schweigen in seine Rede nicht genug, ihm ins Wort zu fallen. „Sie hat mir ins Gesicht gelogen. Und es ist ironisch, dass gerade sie mich hergeholt hat, der jetzt so hart über sie urteilt. Aber im Grunde hat sie auf eine sogar noch ironischere Weise ihr Urteil schon selbst gewählt. Denn Helena hat Recht. Ich kann keine Leute gebrauchen, die ein Risko sind und denen ich nicht vertrauen kann. Unsere Sache hat klare Regeln, die jeder kennt. Helena hat schon bevor ich in die Stadt kam einen eigensinnigen Umgang mit Anweisungen gepflegt, hat Aufruhr gestiftet und sich fehlverhalten. Es wird Zeit, ein Exempel zu statuieren, und drastische Maßnahmen zu ergreifen.“ Härte und Unnachgiebigkeit prangten ohne Anmut aus Adrians Gesicht. Und für einen unwohlen Moment war er das Abbild des einen, dem er nicht gleichen wollte. Er hob eine Hand. „Ich stelle Helenas Exekution zur Diskussion.“
Es wurde lange diskutiert. Am Ende hatten sie sie holen lassen, und Adrian hatte ihr nur deshalb keine Gewalt angetan, weil Alexej sich schützend vor sie gestellt hatte. Die ganze Zeit über hatte Cionar unbetroffen auf sie gewirkt, als halte eine Pflicht ihn hier, die er nicht vernachlässigen durfte, die aber mit Dingen zusammenhing, die sie nicht verstehen, nicht nachvollziehen konnte, die ihr fremd waren und ihn ihr entfremdeten, die sie fürchten musste und deshalb hasste.
Sie hatte mit rigoroser Gefasstheit unnachgiebig angehört, was man ihr sagte und nur ein oder zweimal beinahe die Fassung verloren. Das Urteil war niederschmetternd. Es brach mit Demütigungen gegen ihre famose Haltung wie ein Bombardement aus dem Hinterhalt. Die schöne, gläserne Wiese auf der sie traumwandelte wurde in Scherben und Splitter geschlagen. Jetzt staken sie ihr im Fleisch. Sie löste sich davon, indem sie sich entblößte. Indem sie Sätze formulierte, für die sie sich selbst schämte, Dinge aussprach, über die sie nie reden wollte.
Sie hatte Cionar gebeten, sie nicht für immer zu hassen. Er hatte eine seltsame Warnung und einen noch seltsameren Glückwunsch ausgesprochen und war dann gegangen. Die Luft fühlte sich scharf an. Das Zimmer war zu eng. Die Wände drängten mit irgendeiner unsichtbaren aber fühlbaren Kraft nach innen und nahmen ihr den Raum zum Atmen. Sie erstickte hier.
Vor ihrem Schrank lag ein großer Berg reinweißer Kleider. Keine Kleider für einen Soldaten.
„Onkel Victor, jetzt sind wir wieder gleichauf. Ich mach dir deinen Blödsinn nach.“ Sie sprach in die Geräuschlosigkeit. Ihre Stimme war leise und friedfertig. Der Raum antwortete mit hohler, verzehrender Grabesstille. Helena starrte Minuten oder Stunden an die Wand, dann pustete sie einen Schwall Luft aus und ließ sich rückwärts auf ihr Bett fallen. Alles verdorben. Alles verloren. Sie seufzte wieder. Nach so vielen Jahren der Selbstaufgabe, der Gefangenschaft im goldenen Käfig und der Hintenanstellung all ihrer Freiheits- und Fernwehgelüste stand sie niederer als zuvor.
„Kann ich nicht einfach zu Onkel Victor nach Ebonfalke gehen?“, hatte sie Leon gefragt. „Er macht da ein Schlachthaus. Ich kann doch bei ihm arbeiten.“
„Das entscheide ich nicht. Rede mit Adrian.“
Mit Adrian reden. Er hätte sie wahrscheinlich umgebracht, hätten die anderen es zugelassen. Er würde ihr gar nichts zugestehen. Sie hasste ihn, weil sie wusste, dass er Recht hatte, und weil er es laut aussprach, und weil er hart und grausam war und der Sohn seines Vaters.
„Ja..“ Mit tumbem Ausdruck ging Helena zurück auf ihr Zimmer.
Sie saß vor ihrem Spiegel. Dann nahm sie den Dolch in die Hand. Während sie sich selbst betrachtete, ihre kleine, spitze Nase, den vorwitzigen hellen Mund und die Augen, die manchmal ein wenig zum Starren neigten, führte sie die Klinge oben an die Haarsträhnen, dorthin, wo sie sich noch nicht einmal lockten.
Sie wusste nicht, warum sie in die Taverne gegangen war. Es war spät und neben ihr stand nur ein einziger Mann. Er war edel gekleidet und hatte ein hübsches Gesicht. Sie mied es, ihn anzusehen.
„Fräulein Iorga?“ Aber sie kannte seine Stimme irgendwoher. Es war Herr Weißstein, der Mann mit dem wertvollen Marmor. Ihr fiel auf, wie er sie musterte. Damals, als sie einander zum ersten Mal in der Taverne begegnet waren, hatte Helena herrschaftlich ausgesehen.
Ihre Bewegung, mit der sie zu ihm sah, war ruckartig. Die schlichten, einfachen Farben und konventionellen Stoffe, die sie trug, waren ihr längst ungewohnt geworden in der Öffentlichkeit, nichtsdestotrotz hatte sie die natürlich elegante Haltung einer Diktatorin und die hellen Locken fluteten über ihren Rücken und erstrahlten dort, ganz gleich ob der Grund, auf dem sie lagen, schlicht war oder edel.
Er sprach sie auf das letzte Treffen an, wunderte sich über ihre Stimmung und ließ sich erklären, dass ihre Familie manchmal mit seltsamen Überraschungen daherkam. Der Mann, Eric Weißstein, fragte, ob es auch an der Tischnachbarin läge, die letztes Mal bei ihr gewesen war, ob sie nicht ihren Anteil hätte.
"Lynn? Sie hatte nur einen schlechten Tag. Sie ist wirklich ein verlässlicher Mensch. Gegen Ihr dürft Ihr nichts Schlechtes sagen, wenn ihr nicht wollt, dass ich böse mit Euch werde."
Dann wollte er einen Termin mit ihr vereinbaren. Und sein Lächeln war so offensiv in seiner Geschäftlichkeit, dass sie sich fast beleidigt davon fühlte. Ihre Antwort, die sie ihm gab, ihr gesamter Umgang, musste es ihm wohl klar machen, denn er streckte seine linke Hand aus.
„Verzeiht, ich wollte Euch nicht beleidigen“, sprach er. Der feine Mann hatte gar sein Weinglas abgestellt. „Oder gar zu solch später Stunde belästigen. Lasst es mich wieder gutmachen, ja?“ Immer noch hielt er seine Hand offen zu ihr hin. „Tanzt mit mir.“
"Mit Euch ta-..." Erst legte sich ihr Blick lange auf seine Finger. In ihrem Gesicht tat kein Muskel einen verräterischen Zuck. "Aber hier ist doch überhaupt keine Musik", versetzte sie vorsichtig.
„Braucht es denn Musik?“ Er sah sie immer noch an. Sie erkannte ein Grübchen seitlich seines Mundwinkels.
Hinter ihrer glatten Stirn, die den Eindruck von Eitelkeit trotz ihrer einfachen Kleider unterstrich, dachte sie über seine Frage nach, so sie auch rhetorisch gewesen sein mochte. Dann zischte sie leise und nahm in ihrer Neigung zu fatalistischen Entscheidungen die Hand an, indem sie ihre eigene hineinlegte.
Er führte sie in die Mitte des Schankraumes. Er durfte sie führen und sie hielt seiner Betrachtung mit Verwunderung über seine unwahrscheinliche Einladung in der Nacht und einem Hauch von Ironie in den Augen stand.
"Ihr macht auf mich den Eindruck, als würdet Ihr über alles und jeden nachdenken...und dabei vergessen selbst hin und wieder loszulassen.“ Seine Stimme war ruhig.
„Tatsächlich. Das passt nicht zu dem Eindruck, den andere haben."
„Vielleicht mag ich mich täuschen, doch so wirkt Ihr auf mich. Was sehen...“ Er pausierte kurz, drehte sie mal und holte sie dann wieder zurück, dabei legte er seine Worte zurecht „denn die anderen in Euch?“
"Es war ja abzusehen, dass Ihr das fragt. Hab ich es provoziert?" Sie wand sich um sich selbst, wenn er es andeutete und trat zurück, wenn es an der Zeit war. "Sie denken umgekehrt."
„Und behalten sie damit Recht?“ Sie wusste nicht, ob seine Hand an ihrem Rücken sank, ob sie es nur befürchtete oder sich einbildete.
"Natürlich nicht", antwortete ihr Stolz für sie, doch er gab sich als das zu erkennen was er war und konnte niemals mit der Wahrheit verwechselt werden. Sie musste es wohl selbst hören. "Ich kann es nicht sagen." Einmal kurz flirrte ihr Blick zur Tür, dann richtete er sich wieder auf das Gesicht des Mannes. "Wisst Ihr denn nicht, dass man sich selbst immer zu nahe ist und sich deshalb nicht richtig sieht? Man hat immer ein sehr eingeschränktes Blickfeld."
„Auch nicht, wenn man in einen Spiegel schaut?“ Er drehte sie, sodass sie mit dem Rücken zum Eingang stand und er selbst nun den Blick darauf hatte. Sie versteifte sich denn seine Hand lag bereits an ihrem Steißbein, und sie fühlte sich machtlos, wie gelähmt. Warum nur schritt sie nicht ein. Wo waren die stolzen Worte, die ihm einer Ohrfeige gleich ins Gesicht schlugen? „Erwartet Ihr noch jemanden?
"Ein Spiegel ist aber nicht so vieldimensional wie unser echtes Bild. Wen sollte ich um diese Zeit erwarten? In einer Taverne. Ich kam nur her weil es in dem Haus, in dem ich zur Zeit schlafe, zu still ist. Im anderen ist es aber zu laut."
Laut Erics Aussage kannte er dies.
„Doch stellt sich mir die Frage“, begann er dann, „warum ein Licht, wie Ihr es seid, alleine leuchten muss. Sollte man nicht alles daran setzen, an Eurer Seite leuchten zu können?“
"Ein Licht?" Sie lachte höhnisch, weich und mild. Ihr Spott war von mädchenhafter Unverfänglichkeit, aber ihr Blick warf kühle Schatten darüber. "Ihr seid so ein Hallodri, richtig? Einer der sich Komplimente aus dem Ärmel schüttelt und dann werden die Frauen süchtig nach dem Zucker, den ihr ihnen zuwerft. Aber ich mag keine Zuckerware."
Ein wenig brach sein Lächeln und kehrte dann bald wieder.
„Hübsch und clever, eine seltene Kombination. Da habt Ihr mich aber ordentlich durchschaut. Nun dann kann ich ja nur hoffen, dass Ihr ein Buch auch zu Ende lest, ganz gleich wie schlecht der Prolog sein mag.“
"Ihr...macht ja einfach weiter!" Sie lächelte zwar, aber Vorsicht schmiegte sich um das klare Augenblau, das ihn weiterhin fixierte, denn ihr wurde gewahr, dass die Schritte sie langsam der Säule im Raum entgegenbrachten. Dann war sie plötzlich eingekesselt zwischen dieser Säule und ihm.
„Was habt Ihr anderes erwartet. Ich meine, wenn Ihr etwas haben wollt...gebt Ihr dann rasch auf, oder bleibt Ihr am Ball?“ Er neigte sich ihr entgegen, und beinahe war es, trotz des gewissen eingehalteten Abstandes, schon unverschämt.
"Wer seid Ihr?", fragte sie ihn, unabhängig dessen, dass sie seinen Namen bereits gehört hatte und deutete vage in ihrem Tonfall an, dass er ihr etwas Vorenthalten musste, eine derartige Stirn zu besitzen, dass sie fast mehr beeindruckt als beleidigt war, mochte es auch an einer generellen Einstimmung liegen. "Dass Ihr hier so kokettiert. Meine Brüder würden Euch verprügeln, wenn sie das sähen." In ihren Augen blitzte die Überheblichkeit, die Zier, die Warnung, der Spaß.
„Eure Brüder sind aber nicht hier“, flüsterte er ihr entgegen. Der Atem striff über ihre Wange. „Und wart Ihr es nicht, die die Arbeit heute einmal außen vor lassen wollte?“
"Das hat mit der Arbeit nichts zu tun.." Sofort ruckte sie in eine gerade Haltung, als Schritte Seraphen ankündigten. Sie hob und drehte das Gesicht und räusperte sich still, dann senkte sie die spitze Nase und wandte sie von der Tür ab, als wolle sie nicht gesehen werden. Dabei grinste Helena still und ertappt, peinlich und argwöhnisch berührt in sich hinein. Der fast fremde Mann lockerte seinen Griff, der noch immer der eines ausgesetzen Walzers war, als er über die Schulter zu den zwei Soldaten schaute.
„Ehre der Krone.“ Der Gruß des Seraphen Bray Viamon traf sie dennoch und sie grüßte leise zurück. Sie hatte ihren Kopf schon wieder gehoben, dabei hatte sie die Strähnen zurückgestrichen, die ihre Wangen einrahmten und dahinter heimliche Worte an den Mann bei ihr gerichtet. "Seht Ihr, in was für komische Situationen Ihr mich bringt?"
Doch seine Antwort war abermals sehr zuckrig süß, er sprach von ihrer Schönheit und dass der Rest unwichtig sei, und dabei verriet sein Grübchen und auch wie nah er ihr kam, dass er sich seiner Taten genau bewusst war. So bewusst mindestens, wie Helena sich aus dem Augenwinkel der Beobachtung des Seraphen war.
"Ihr vergesst Euch, Herr." Ihr Tadel blieb höflich, sie rührte sich auch kein Stück. Sie sah nicht ein, vor ihm zurück zu weichen, doch blass vor Stolz, als habe ihre Würde sie zu einer Figur aus jenem wertvollen Marmor erstarren lassen, den er so bewarb, tat sie auch sonst nicht eine einzige Bewegung und ihre Augen erinnerten ihn durch ihre Verschlossenheit daran, dass es ihn kosten konnte, keinen Anstand zu wahren und sich zu weit über die Grenzen hinaus zu lehnen.
Er wägte ab. Die Seraphen gingen und Helena harrte in dieser haarsträubenden Nähe aus, indes der Mann sich auf die Lippe biss und sich zu einer Entscheidung durchrang. Plötzlich führte er sie schwungvoll wieder in den Tanz. Sie hatte neuen Raum, größere Freiheit oder immerhin die Illusion dessen, denn ihre eigenen Schritte wurden nicht von ihr selbst bestimmt.
"Um Eure Frage zu beantworten", erwiderte sie spät, mit einem Schmunzeln von Hoheit, so als bestimme sie den Zeitpunkt dafür, wann ein Thema recht war und wann nicht. "Wenn ich etwas will, dann nehme ich es mir. Aber ich gebe niemals mehr anderen den Rat, es genauso zu tun. Denn es hat mich schon in seltsame Lagen gebracht."
„Euch? Oder jene, welchen Ihr diesen Rat mitgegeben habt?“
"Einmal hätte es einen armen Mann fast das Leben gekostet. Mein Umfeld ist sehr protektiv." Sie lächelte gläsern, als erzähle sie von der schönen Fassade der Rurikhalle. Hindurch stach Suggestivkraft, eine Ironie, die sich hinter der wenigsagenden Maske der Belanglosigkeit verbarg.
Das Lachen, das Eric darauf erwiderte besaß einen dünnen Anstrich von Nervosität. Sie empfand Zufriedenheit, vielleicht solche einer etwas grimmigen Natur, zu hören, dass er ihre Worte nicht recht einschätzen konnte.
„Es ist gut, wenn man in einem sicheren Umfeld verkehrt, auch wenn es klingt, als würde man sein Leben mitunter in Einsamkeit verbringen. Umgeben von vielen und doch allein.“
Er ahnte nicht und sie zeigte ihm nicht, welch Stich er ihr damit versetzte.
"Ihr scheint viel mehr das Problem der Einsamkeit zu haben. Heute Nacht in Eurem Bett wahrscheinlich." Stattdessen kam sie ihm erneut mit einem Vorwurf der Ungehörigkeit, den sie auf eine so vornehme Weise aussprach, dass es wirken musste, als habe ER die Dreistigkeit begangen.
Der Druck seiner Hand verstärkte sich und sie wusste, sie hatte ihn, ihn oder seinen Stolz, getroffen. Aber sein Lächeln gab er nicht auf, hielt es unbeirrbar, auch wenn die Halterung, in der es steckte, sich zu lockern begann.
„Wollt Ihr etwas daran ändern oder warum sprecht Ihr mich so forsch darauf an?“
Helena lächelte boshaft und dünn, ein wenig zur Seite weg.
"Haltet Ihr mich denn für so ein Mädchen?", fragte sie sanft, ohne eine gewisse Distanz der Höflichkeit zu überbrücken.
Er führte sie weiter durch einen Tanz ohne Musik und schwieg. Es dehnte sich dieses Schweigen zeitlich so weit aus, dass es seltsam zu werden begann. Dann lachte er leise.
„Ein Teil von mir würde sich wünschen, dass dem so wäre, doch mein Verstand sagt mir, dass dem nicht so ist.“ Die eigenartigste, einfangendste Ausstrahlung ging von diesem Mann aus, denn sie schlug ihn nicht, obwohl der Drang für einen infernalischen Moment in ihr aufkam, als sie hörte, dass es fast mehr eine Frage war denn die Aussage, als die es sich tarnte. Dreimal fein und kaum zu bemerken zuckten Helenas schmale Nasenflügel. Eine Art fernes Lächeln, ein Ausdruck von anderswoher, der sanftmütig und gelinde war, und den sie ihm nicht gönnte, striff schemenhaft ihre Züge. Und sie wertete seine Worte als Aussage, nicht als Frage.
"Dann", setzte sie nämlich in einem feinen, etwas gedämpften Altton an, der tiefer war als ihre gewöhnliche Stimme, "solltet Ihr mich auch nicht so behandeln, mein Herr. Gute Nacht." Und mit der mildesten und doch nachdrücklichsten Entschlossenheit wollte sie sich aus dem Tanze lösen.
Und als sie sich löste, stand der Mann sprachlos, als habe ein Spatenhieb sein Gesicht getroffen und könne ihn doch nicht umhauen. Seine Hände ballten sich zu Fäusten, der Ehrgeiz glomm in seiner Miene. Er antwortete höflich, doch die Floskel hatte nicht viel Platz, zwischen seinen Zähnen hindurch zu kommen.
„Es...war nicht meine Absicht...euch das Gefühl zu geben...ich hätte es nur auf...“
"...Ja?" Ihre Brauen hoben sich nur um einen Deut, denn sie war nicht gewillt, ihrer Miene dieses Aussehen von Überheblichkeit zu geben, wo ihr Gesicht bereits arrogant geschnitten war, ohne dass sie etwas dazu tun musste. Ruhig und geduldig musterte sie den Mann genau und in seiner Gänze. Sie wollte nicht nur vom Prolog abweichen, sondern die Botschaften zwischen den Zeilen des eigentlichen Buches erkennen. Seine Entschuldigung war freundlich, bedachte man die Worte. Doch die Spannung in seinen Fingergliedern, das maliziöse Versprechen seiner Augen und die Qual, mit der er die Dehors wahrte ließen Mitgefühl in Helena wach werden für den Mann in seinem maßlos teuren Anzug, dem gleichen, wie er ihn schon beim letzten Treffen getragen hatte. Vielleicht war es auch kein Mitgefühl, sondern die Ahnung, dass sie ihm Unrecht tat.
"Ach, Herr. Es ist schon gut. Ich finde Eure Worte nett. Aber Ihr seid doch auch ein Geschäftsmann. Ihr wisst doch auch, dass die Ware, die man am übertriebensten lobt, oft die schlechteste ist, und dass man als Verkäufer versucht, über den Makel der Ware hinwegzutäuschen. Und dass die tatsächliche Qualität gar nicht viele Worte zum Lob braucht."
Er wurde weniger gespannt. Einerseits gewann Helena den Eindruck, er hätte sie verstanden, auf einer anderen Ebene aber würde sie dafür keine Hand ins Feuer legen. Er sagte noch, er hoffe, es stünde einer eventuellen Geschäftsbeziehung nicht im Wege.
"Ach wohin. Macht Euch keine Sorgen, es ist doch gar nichts passiert. Ich wohne am Zamonplatz 3 mit meiner Familie, hier in Ossa. Kommt vorbei, wenn Ihr übers Geschäft sprechen wollt. Nur über die Festtage sind wir fort. Und jetzt gehe ich besser, ehe Ihr mich doch noch zur Unvernunft anstiftet." Das letzte, was sie sagte, war in jenem verschmitzten Unterton gesprochen, der eine Neckerei zum Schmeichel seines Egos sein konnte oder ein liebgemeinter Hohn, den er als solchen vielleicht nicht ausmachen konnte, wenn ersteres nur groß genug war.
Helena verließ die Wunderlampe, ohne ein Getränk bestellt zu haben. Sie lachte den gesamten Heimweg über und weinte erst, als sie zu Hause war. Dann fiel es ihr wieder ein. Und weil ihr Gemüt im Grunde doch mehr Sonnenschein als Mondlicht hatte, lachte sie wieder, mitten in ihre Tränen hinein, bis sie schlief.
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