Der Tisch im festlichen Saal in der ascalonischen Siedlung, in der die Familie jährlich zu feierlichen Gelegenheiten zusammenkam, war so übervoll köstlich beladen, wie man es gewohnt war. Dolyakkalbsrouladen in Schalottensoße mit hart gekochten Eiern, schwere Pfannkuchen, die mit einem hellen, duftenden Fleisch gefüllt waren und Keramikschüsseln voller gebratener Kartoffeln gingen um, dazu geraspelter und in Wein eingekochter Rotkohl, Brennnesseln mit Speck, Zwiebelkuchen und eine Suppe mit deftigen Fleischknödeln, die so groß waren wie Kinderfäuste. Die Angestellten brachten schon den Nachtisch herein, der sich freilich nicht weniger schicklich ausnahm. Da waren Mandelcreme mit Rosenwasser, helle und dunkle Kuchen, Käseplatten und eine Süßspeise, die aus Biskuitkuchen, Himbeeren, Sahnecreme, Makronen und Sherry bestand, und zwischendrin griffen die Hände nach Schnapsgläsern oder ordentlichen Kelchen, aus denen massenweise Wein aus Holzfässern getrunken wurde. Es herrschte ein froher Trubel im gesamten Saal, das lustige Treiben zog sich über eine lange Reihe aneinander gerückter Tische, an denen man so ausgelassen miteinander anstieß, dass ein Außenstehender nichts von den strengen Regeln geahnt hätte, nach denen die Plätze hier im Raume aufgeteilt waren.
Am hintersten Tisch, an dem die Ältesten und Ranghöchsten Mitglieder der Familie saßen, waren Plätze leer. Dafür drangen aus dem Nebenraum Stimmen, die nicht weit unter der Spalte der geschlossenen Tür hindurch kamen, ehe der Trubel der Feiernden sie verschluckte.
„Das lasse ich im Leben nicht zu!“, rief eine ärgerliche Stimme, die zu einem eindrucksvollen Mann gehören musste. „Hörst du? Du hast keinen Respekt. Du lässt es bleiben! Du wirst es nicht machen! Ich warne dich! Veruca! Hörst du deinen Bruder? Hörst du, was er zu mir sagt? Welche Stirn er besitzt?“
Auch wenn man bis zum Tisch der Familie nicht mehr das geringste Geräusch hörte, mussten im Inneren des Nebenraums doch vor Erregung die Wände dröhnen. Vor jener Tür, in der so heftig gestritten wurde, standen zwei Männer, die dem Wirbel, den sie bewachten, mit dem eloquentesten Erscheinungsbild den Rücken zuwandten.
„Sie hat mich gehört“, sprach eine zweite Stimme, die viel ruhiger war, sodass sie nicht einmal durch den Spalt reichte. „Falls du mich nicht verstanden hast, wiederhole ich es gern. Du unterbindest das, oder ich mache dich zunichte. Du kennst mich schlecht, wenn du glaubst, ich ließe zu, dass ich deinetwegen den Respekt der Meinen verliere. Nimm dich in Acht, Nicolae, ich bin keiner deiner Häscher und auch kein Laffe, der sich von dir herumkommandieren lässt. Du weißt von meinen Mitteln und auch, wer mich gelehrt hat. Den Rest magst du dir selbst zusammenfügen.“
„Dein Lehrer soll ich gewesen sein? Das muss ein anderer gewesen sein! Wäre ich es gewesen, würde es dir nicht so an Respekt fehlen. Du bekommst nichts von mir Junge, außer der Verachtung, die du für dein gedankenloses Handeln verdienst!“
„Papa..!“
„Nein, Mädchen, bring dich da nicht ein. Er treibt es zu weit. Gnade ihm Gott, wenn ich nicht mehr über ihn und seine Zieraffen hinwegsehe. Was hat er denn im Kopf? Hurerei und Besäufnisse! Ein Regiment wie Gleb kann er führen, und was führt er an? Ein paar Bastarde und Bastardsbastarde. Ein König willst du sein, Junge? Unter dem Abhub der Gesellschaft ist der Gossenkönig, der einen Stock in der Hand hält.“
Einige wenige Momente herrschte Schweigen.
„Über wen redest du eigentlich?“, fragte dann ganz ruhig und besonnen die jüngere Stimme. „Mr scheint es, als würdest du dir irgendetwas zusammen fantasieren. Es sind einige von Revans Verwandten, die mir folgen und viele der deinen. Deine Tochter, wie sie hier steht, ist mir loyal. Ist sie der Abhub der Gesellschaft für dich? Du kannst sagen was du willst, es berührt mich nicht, ich habe ein reines Gewissen. Überhaupt glaube ich, dass du gar nicht mich, sondern dich selbst zu überzeugen versuchst. Du erwartest wohl, mir Angst einzujagen mit deinen Drohungen.“ Wieder gab es eine kurze Pause, wie wenn im Inneren der junge Mann, der sprach, eine Geste machte. „Ich habe keine. Ich habe meine Leute und alles was ich habe Maß genommen und bin bereit, wenn du es drauf ankommen lässt. Ich will es nicht, das möge Kormir mir bezeugen. Aber wenn ich es muss, kann ich es mit dir aufnehmen. Ich nehme keine Rücksicht mehr darauf, wer du bist.“
„So? Ist das so?“ Schritte bewegten sich erst harsch in die eine, dann abgehackt in die andere Richtung. „Veruca! Was sagst du dazu? Dass er die Nerven hat, seinem eigenen Vater gegenüber am Wintertag eine solche Drohung auszusprechen. Welcher Narr hat ihm das eingezwitschert?“
Als die Stimme einer jungen Frau antwortete, schwangen in ihrem Tonfall Wut und Liebe, und beides schien beiden zu gelten.
„Ich finde es unsäglich von euch beiden, dass ihr ausgerechnet heute so ein Thema auf den Tisch bringt. Draußen feiern die Leute! Keiner von euch wird den anderen bekriegen, das lasse ich nicht zu. Und obwohl Adya solche Sachen nicht sagen sollte, hast du ihn doch irgendwie dazu gezwungen, Papa. Ihr solltet heute beide großzügig sein. Ihr einigt euch, begrabt diesen Machtkampf, unterlasst die Drohgebärden und kommt zurück, bevor Mama wieder Sodbrennen bekommt vor Sorge!“
„Da hast du es“, sagte die jüngere Stimme gesetzt und vollkommen nüchtern, so nüchtern gar, dass bereits wieder eine Note von Belustigung darin zu tanzen schien. „Da du scheinbar nach Anweisungen gefragt hast, hast du sie bekommen. Ich sehe mich Manns genug, dem Wunsch meiner Schwester nachgeben zu können, ohne mich zu entmännlichen. Aber meine Bedingung muss erfüllt sein. Ich verlasse diesen Raum nicht mit weniger als dem, was ich als Einsatz erbracht habe.“
Als sich die Tür öffnete und Nicolae Iorga mit seiner Tochter den Nebensaal verließ, war die große Tafel schon abgeräumt und wurde für den nächsten Gang bereitet. Bald würde es Musik geben, wilde Melodien, zu denen nach Tradition bis tief in die Nacht übermütig und lebhaft getanzt wurde.
Leon, Alesha und Lynn hatten sich wie Helena zu Ilie und an den Tisch gesetzt. Auch der uralte Benjin und ein entfernter Verwandter mit fliehendem Kinn und ungleich großen, stets beunruhigt umher blickenden Augen waren dorthin umgesiedelt, um auf Victor, den armen, alten Kerl anzustoßen, den sie dieses Jahr in der Runde vermissten. Die zuerst so gestrenge Sitzordnung wurde längst nicht mehr eingehalten, obschon nur von besseren auf niedere Plätze, nie aber in die andere Richtung gewechselt werden konnte. Florim gab gerade ein paar Witze zum Besten, die er unterwegs aufgeschnappt hatte, über die Kolja am lautesten lachte, obwohl er sie falsch verstand, Nevia klagte über Bauchschmerzen, weil sie zu viel von der Mandelcreme gegessen hatte und Razvan erzählte den älteren Zeitgenossen erregt von einem ganz unsäglichen Vorfall, der neuerdings geschehen sei und ihn selbst sowie einige der Anwesenden, vor allem aber einen Priester des Balthasarklerus beinhaltete. Adrian war im Nebenzimmer geblieben und hatte Revan Libanez zu sich gerufen, um einiges mit ihm zu besprechen. Als sich die Tür zum Dorfplatz öffnete, zogen die herein strömenden Kinder mit ihren roten Wangen und den glücklichen Gesichtsausdrücken viele Blicke auf sich. Die meisten gehörten zur Libanez-Sippe, manche hatten aber auch die hellblonden Strähnen der Familie Iorga auf dem Haupt sitzen. Ligia Iorga hatte sie durch die Siedlung geführt, um einer weiteren langjährigen Tradition nachzugehen, bei der Münzen an die Ärmeren verteilt wurden. Helena hatte sich an ihnen festgesehen, ihre nervöse und etwas unstete Aufmerksamkeit war dort hängen geblieben, sodass sie erst bemerkte, dass Nicolae zu ihr gekommen war, als er sich von oben herab dicht zu ihrem Gesicht hinabbeugte.
„Helena“, sprach er mit feierlicher Strenge. Sogleich durfte er sich aller Augen am Tisch und deren sorgfältiger Beobachtung gewiss sein. Es scherte ihn allerdings mitnichten. Seine linke Hand legte sich mit einem festen, sicheren Gespür um die Schultern seiner Nichte und drückte sie von hinten zwischen dem Daumen und den anderen Fingern ein. „Es ist gut, dass ich dich hier sehe. Ich habe dich lange nicht gesprochen.“
Es war tiefe Beherrschung, mit der Helena ihre hellen Lippen aufeinander presste, sodass alle Farbe aus ihrem rosafarbenen Aussehen wich. Sie starrte dabei zu Lynn, ohne sich irgendeine Regung anmerken zu lassen oder das alarmierte Misstrauen, das alle in der Runde teilen mussten, zu verraten. Einmal kurz zuckten ihre Augen zu der Gabel auf dem Platze vor sich. Weil sich daraufhin Lynns Augen schmälerten, musste sie es bemerkt haben.
„Ich möchte dir etwas sagen.“ Nicolae zwang das Mädchen durch seinen Griff, sich ihm zuzudrehen, dabei beugte er sich immer noch in der Manier eines ranghohen, wohlmeinenden Älteren unangenehm nah an ihr Gesicht, beeinflusste wohin sie sah und den Blickwinkel, den sie darauf hatte. Helena entwich dieser Manipulation, indem sie ihre Lider senkte und die Augen still auf den Boden gerichtet hielt. Umso enger wurde der Griff seiner halben Umarmung.
„Am wichtigsten, Kind, ist die Familie. Das darfst du niemals vergessen. Die Familie kannst du dir nicht aussuchen. Sie ist in jedem Tropfen deines Blutes. Und darum musst du sie lieben.“
Es mochte wohl zuerst der Eindruck entstehen, dass in jenem Moment eher Medowucha oder der starke Kartoffelschnaps nach Familienrezept in jedem Tropfen seines Blutes war, doch war dafür seine Aussprache zu klar und gestochen scharf. „Ich habe ein Weihnachtsgeschenk für dich.“
Ohne den anderen einen Blick zu widmen – einzig Leon bekam einen kurzen, vielleicht galt der Ausläufer desselben noch Alexej – zwang er Helena, sich zu erheben und mit ihm einen Klafter vom Tisch fort das Gespräch weiterzuführen. Sie sprachen nicht lange. Und bald wurde denen, die am Tisch geblieben waren, der Blick verwehrt, weil Tante Anya mit dem alten Valerius zu tanzen begann und Nevia mit einem der allesamt ähnlichen Libanez-Söhne. Lynn und Ilie zuckten, aber es waren die Köpfe, deren ruhige Hand sie aufforderte, eben da zu bleiben, wo sie waren. Und bald schon kam Helena zurück.
„Und?“, fing Ilie an. „Soll ich ihm aufs Maul hauen?“
„Ilie.“ Leons Mahnung war sanft, aber unmissverständlich. Dann sah er, dass Helena etwas ratlos und ungläubig aussah, um ihre Lippen aber etwas glänzte, das länger nicht dort gewesen war.
„Er hat sich mit Adrian geeinigt“, sagte sie. „Cionar arbeitet für Revan, aber es ist ihm erlaubt, seine Geschäfte in Götterfels zu machen, weg von Nicolaes direktem Einfluss. Dafür darf Adrian jemanden in Löwenstein abstellen. Über die Prozente hat er mir nichts gesagt, das ist zwischen den beiden geregelt.“
Hinten öffnete sich die grüne Flügeltür in den Nachbarraum. Adrian Iorga in seinem feinen Zwirn eines Ehrenmanns trat heraus und schlug, indem er ihn zurückließ, dem schroffen Revan Libanez noch auf die Schulter. Er fing Helenas Blick und hob seinen Kelch. Obwohl ihm dabei das Lächeln fehlte, war ein zager Zug von etwas Liebevollem um seinen sanften Mund gezeichnet. Helena senkte den Blick wieder und rang ihr eigenes sie überfallendes Lächeln nieder.
„Na gut“, sagte sie dann mit Würde und Beherrschung, als sie das liliengeschmückte Haupt weit hochzog und ihrem Vetter Alexej direkt entgegenschaute. „Du hattest Recht.“
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