Es war spät. Sophie Cazardieu hatte den Tisch bereits verlassen, um mit einem leichten Gang, der sich den offensichtlichen Rausch nicht anmerken lassen wollte, durch den Flur zum Gästeflügel zu verschwinden. Auch der Taschenspieler war schon nicht mehr bei der Runde. Er war seiner Wege gegangen und hatte eine Gruppe von dreien zurückgelassen. Alexej und Adrian Iorga waren noch wach und saßen nachdenklich, mit ernsten Gesichtern, ergraut von der Last ihres Gespräches, beieinander. Lynn sah schläfrig aus. Die Trunkenheit funkelte ihr in den nur noch halb offen stehenden Augen.
„Es ist ein riesen Problem, die Sache mit Nicolae“, sagte Adrian gerade, nachdem ein Thema sie über Umwege, über helle und dunkle Wege, mehr aber über die, die im Zwielicht lagen, zu dem Mann geführt hatte, an den sie dieser Tage viele rastlose Gedanken verschwendeten. Adrian saß am Eck des Küchentischs. Er hatte sich in seinem Stuhl zurückgelehnt, seine Grundhaltung war leger, ließ sich aber nichts von der Herrschaftlichkeit nehmen, die ihm in Momenten wie jetzt schlechterdings angeboren schien. „Nicolaes Demütigung hängt immer noch wie ein Schwert an einem Faden über ihr. Ich hab das Gefühl, den Draht zu ihr verloren zu haben. Ständig muss ich befürchten, dass sie die Regeln bricht, dass sie auf eigene Faust etwas macht, das sie nicht darf. Ich kann nicht noch einen Kopf absetzen und will nicht Leons Schwester bestrafen müssen, aber bei Balthasar gelten für sie die gleichen Regeln wie für uns alle.“
„Das ist letztlich“, sagte Alexej Iorga auf seine besonnene, angenehme Weise, „wovor ich dich mehr als einmal gewarnt habe – und es noch immer tue. Wir können das Problem mit Nicolae nicht ewig vor uns herschieben. Und das betrifft nicht nur Helena. Ich weiß nicht, wie du das wegsteckst. Aber meine Meinung zu Nicolae steht bereits länger im Raum. Er mischt sich in unsere Dinge.“
Adrian beweget keinen Muskel seines Körpers. Allein sein Blick gewahrte, wie durch Lynns Augen ein verräterisches Signal von Wachheit zuckte, ein Index ihres Verstandes, der seine Finger durch den Nebel des späten Abends streckte und die Hand aufhielt für die Informationen, die hinein gelegt wurden.
„Ich habe ihm sein Geld nicht zugestanden“, sagte der junge Patriarch ruhig und klemmte den Stiel eines Marianiglases zwischen zwei Finger. "Es ist nicht so, dass er sich ständig in alles einmischt. Er hat einen zu großen Anteil verlangt und auf die ihm typische Weise durchgesetzt, dass neu verhandelt wird. Dabei hat er sich noch ein paar miese Züge erlaubt.“ Er trank einen sehr bedächtigen, sehr angespannten Schluck. „Das ist allerdings nichts im Vergleich zu dem, was passieren würde, wenn wir einen Krieg begännen.“
„Vielleicht solltest du mal mit ihr sprechen.“ Lynns Vorschlag drang halblaut aus dem Hinergrund und richtete sich an Alexej.
Doch Adrian war in seinen Gedanken schon nicht mehr bei Helena. Er hatte sich auf eine größere Sache versteift und folgte seiner schlechten Angewohnheit, auszublenden, was ihn gerade nicht beschäftigte. Und da er Lynns Äußerung nicht vollkommen ignorierte, entfremdete er sie ihres Urprunges und bezog sie auf seine eigenen Gedanken.
„Er würde Alexej nicht einmal empfangen, vermutlich. Er empfängt auch Helena nicht. Er käme zu Libanez, mit Glück bis zu Godart.“
„Einen Krieg will ich natürlich auch nicht“, erklärte Alexej. „Aber wenn Helena uns entgleitet, dann wackelt eine der wichtigsten Stützen unseres Hauses.“
Lynn klärte Adrian derweil freundlich auf, dass ihr Vorschlag Adrians Cousine galt, nicht Nicolae.
„Ach...mit ihr.“ Erst jetzt wurde ihm seine Vebohrtheit klar, seine Unfähigkeit, richtig zuzuhören. „Viel Glück. Nimm dir ein Werkzeug mit, um durch eine dicke Wand aus Ignoranz und Vergleugnung zu bohren.“
„Ich probiers mit weniger brüderlichem Paternalismus, mein Lieber.“
„Was soll ich tun. Alexej. Mit dem Mann ist nicht zu reden.“ Adrian hatte ihm wahrscheinlich zugehört. Sowie er konnte aber riss er das Gespräch gemeinhin zurück zu dem Faden, der ihn beschäftigte, und dort knüpfte er an. „Wenn ich hingehe, wird er ein höhnisches Arschgesicht sein, wie immer. Ich werde mit Zorn gehen, wie immer. Vielleicht einen seiner Leute mitnehmen. Wie manchmal. Und es wird nichts Gutes daraus erwachsen. Ich brauche ein Druckmittel. Nur ist es bei ihm, der sich selbst und sonst keinem nahe steht, schwer. Wen könnte ich nehmen? Meine Schwester? Meine Mutter?“ Er lächelte herb und bitter.
Mit einer Hand stützte Alexej seine Lynn am Rücken, die sich gegen ihn gelehnt hatte und dort kauerte wie ein müdes Kind, das nur zufällig dabei war und warten musste, bis die Erwachsenen ihr Gespräch beendet hatten. Ein trügerischer Eindruck, dem keiner aufsaß, so echt er einem auch erschien. Alexej hatte mit Adrians Blick nicht gebrochen.
„Meiner Meinung nach endet sein Regime erst, indem er eines 'natürlichen' Todes in den Ruhestand geht. Du hast Recht: Wer nichts liebt, dem ist nicht auf die Weise beizukommen. Ich weiß, es klingt nach wie vor grausam, aber wir kennen ihn lange genug. Und wir wissen, dass er es ebenso halten würde.“
„Und dass ich nicht er bin.“ Adrian stellte das Weinglas ganz sanft, ganz ruhig, ganz tonlos ab. Als er aufstand, wirkte er für eine Sekunde zwei Köpfe größer als er war, und schwärzer in den Augen, und breiter, als spanne sich sein eigener Schatten wie eine Spinne hinter ihm auf. Dann stöhnte er leise und erschöpft, fuhr sich über das Gesicht und schrumpfte. „Und selbst wenn....selbst wenn“, sagte er in einem unruhigen Tenor, mit Augen ohne Wohlbefinden, die hierhin und dorthin blickten und nichts erfassten. „Es brächte keine Ruhe. Der Krieg wäre damit vielleicht dennoch nicht abzuwenden. Godart und Libanez sind wie die Marschälle zweier Heere. Aber Nicolae ist der Eid, der sie zusammenhält. Wird er aufgelöst, wird heilloses Chaos ausbrechen. So wie die Dinge gerade stehen, so schwach, wie wir jetzt im Moment sind, werden wir es nicht abfangen können, noch können wir es durchsetzen. Oder – nicht ohne untragbare Verluste.“
„Mit Nicolaes Tod wären wir plötzlich weit weg und nichts, womit sich die Löwensteiner befassen müssten. Sie hätten miteinander genug zu tun, müssten sich neu sortieren, das halte ich nicht für das Schlechteste.“ Alexej sprach nachdenklich in seinen Marianiwein, von dem er dann trank. An seiner Schulter hob das müde Mädchen einen Mundwinkel.
Etwas Brütendes war in Adrians Augen getreten. Und da sie wieder Ruhe fanden und sich zum Flur hin richteten, lächelte er.
„Das ist das Problem. Ich bin immer noch im Herzen nicht ganz ein Götterfelsener. Was glaubst du denn, wer sein Nachfolger sein soll?“
„Ein Libanez oder ein Godart. Oder beide für sich. In jedem Fall sind die Löwensteiner damit nicht mehr dein Problem, oder denkst du, du könntest Götterfels den Rücken kehren, nachdem du es hier so weit gebracht hast? Du bist Ratsherr. Dich himmeln Gräfinnen an – nichts davon gibt es im Löwensteiner Hafenbecken.“
Ein gedankenloses Murmeln, das von Lynn her stammte, verbesserte den Titel und Alexej wiederholte einen, der richtig war und zutraf.
Aber in Adrians Lächeln, das auf seinem Gesicht langsam wuchs und zunahm, noch während er seinen Vetter lange ansah, lag die gesamte Wahrheit darüber, dass er konnte.
„Es gibt salzige Luft...“ Sein Lächeln hing schräg, aber es sah immer noch aus als wöge es jede Aufzählung, zu der Alexej mächtig war, tausendfach auf. Fast sah er aus wie ein Junge.
Sekunden zogen hin und irgendwo tickte eine Wanduhr.
„Ich weiß es nicht, Alesh. Es ist nicht so leicht zu beurteilen.“ Er war wieder schwermütig. „Ich kann diese und jene nicht im Stich lassen. Und ich bete, dass ich in die Situation nicht komme, ehe ich eine Lösung habe.“
„Ich weiß, mein Lieber, ich weiß.“ Der andere rieb sich, den Blick senkend, den Nasenrücken.
„Vielleicht bist du irgendwann soweit. Aber jetzt sei erstmal Kopf. Das ist genug für den Anfang.“
Adrian stand bereits. Seine Hand berührte leicht die Rückseite des Mädchens, das in jenem Dämmer lag, in dem nur Kampfgeist einen aus dem Sog des Schlafes noch heraushalten konnte, bei dem der Sog aber so stark war, dass man auch mit Aufwand nicht mehr ganz aus dem dumpfen, schwärzlichen Zwischenraum treten konnte, der einen von der Welt der Wachenden trennte. Die Hand auf ihrer Schulter zog sie, ohne dass es die Arbeit dieser Hand war, sondern nur das, was sie selbst damit verband, wieder einigermaßen aufrecht in Position. Adrian schlug auch seinem Vetter im Vorbeigehen auf den Rücken und ihm sogar etwas fester.
Es war leichte gequälte Heiterkeit, mit der Alexej Iorga seinem Abgang folgte.
„Glaub ja nicht, dass du dich so klammheimlich aus dem Staub machen kannst, wenn dein Alter abtritt.“
„Wenn er geht, wirst du es mitbekommen. Und dann werden wir uns alle zusammensetzen müssen.“ Einen Moment stand Adrian still da. Immer noch schlank, war er schon früher von einem großen Wesen, das die Leute als einnehmend bezeichneten, gewesen, nur hatte jetzt auch seine Gestalt an mancher Stelle Kraft gewonnen. Er musste viel an sich arbeiten.
„Stärke und Unbeugsamkeit“, sagte er und sie wünschten einander gute Nacht. Er wäre fast aus müder Gewohnheit in den falschen Flügel gebogen, bis ihm einfiel, dass in seinem Bett ein Mädchen lag, und er die Treppe hinaufbog.
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