Krieg und Frieden
„Hier lebst du also?“
Es war bereits das vierte Mal, das Constance Beaufort, Baronin zu Hainwacht, ihrem Sohn Alexander diese Frage über den reichlich gedeckten Frühstückstisch im Grünen Greifen hinweg stellte. Dass er sie überhaupt verstand, verbuchte er für sich als ein Wunder, denn drei seiner Neffen verursachten zusammen mit seiner jüngsten Schwester einen gehörigen Lärm. Aus dem Augenwinkel sah er, dass Kent, der Mittlere der drei Jungen, mit einem Stück in Kaffee eingeweichten Milchbrötchen seinen älteren Bruder Emmet ins Visier nahm, solange die Großmutter abgelenkt schien.
Ihre Ablenkung nämlich bestand aus ihm, Alexander, der die durchdringenden Blicke der Baronin nicht länger ignorieren konnte. Er lächelte ihr zu.
„Mutter, ja, hier lebe ich. Vorerst natürlich. Nur bis ich eine angemessene Wohnung gefunden habe.“
„Aber die Nachbarn...“
„...habe ich mir nicht ausgesucht. Ich habe dort schließlich nicht an die Türe geklopft, immerhin ist es ein Bord-...“
„Alexander Beaufort!“ Es war die Stimme von Danette, seiner ältesten Schwester und Mutter der drei Schreihälse, die ihn jetzt unterbrach. „Untersteh dich, dieses Wort in Gegenwart meiner Kinder zu benutzen!“
„Welches soll er nicht benutzen?“, erkundigte sich Deborah, mit ihren zarten Fünfzehn die jüngste der Beauforts, zuckrig. „Bordell?“
„Deborah Antoinette Beaufort!“, schaltete die Baronin sich mit strengem Ton ein, doch das Unglück war bereits geschehen. Eben noch in ihren allmorgendlichen Kleinkrieg vertieft, waren alle drei Neffen nun äußerst hellhörig geworden.
„Mutter, was ist ein Bordell?“, fragte Emmet.
Danette warf Alexander einen vernichtenden Blick zu, obwohl Deborah nach seinem Dafürhalten die Schuldige war. Ausgerechnet Kent war es, der für ihre gerechte Strafe sorgte, denn das ursprünglich für Emmet vorgesehene Milchbrötchengeschoss landete nun mit einem feuchten Geräusch in Deborahs herrlich braunroten Locken. Alexanders kleinste Schwester quietschte auf, die älteste mahnte laut ihren Sohn, während dieser lachend und von seinen Brüdern angefeuert unter dem Tisch verschwand, um Deborahs geworfenem Marmeladenbrot zu entkommen. Jetzt schaltete sich auch noch die Baronin ein. Kurz: es war genau wie zuhause früher. Ein Gedanke, der Alexander trotz allen Gezanks und Gelärms ein Lächeln entlockte.
Er erhob sich vom Tisch. Niemand bemerkte ihn gerade, deshalb konnte er den vom Wirt extra für diesen Morgen hergerichteten Raum verlassen und im Flur an ein offenes Fenster treten. Der Lärm seiner Neffen drang nur dumpf durch die schwere Holztüre, wallte aber noch einmal auf, als sie sich erneut öffnete und wieder schloss.
Er erkannte Danette an ihrem schweren Seufzer, der ja doch voller Liebe für die eigenen Kinder steckte. Nicht nur vom Alter her war sie ihm von all seinen Geschwistern am nächsten. Zehneinhalb Monate trennten sie und nur die Zwillinge Deborah und Alfred waren einander näher. Alexander legte ohne den Blick vom Marktplatztreiben vor ihm zu wenden locker den Arm um Danettes Rücken und drückte ihr einen Kuss in das Haar, das beinahe so rot war, wie das seine.
„Du wirkst heute ein bisschen schwermütig, Alex. Setzt Adam dir sehr zu? Ich nehme es mit ihm auf, wenn ich muss!“
„Du machst dir wie immer zu viele Gedanken um mich, Dani.“ Er lächelte warm.
„Da hast du recht, aber ich sehe doch, dass dich etwas beschäftigt.“
„Und du wirst keine Ruhe gebe, bis ich dir mein Herz ausgeschüttet habe.“
Jetzt lächelte auch Danette und füllte damit das kurze Schweigen ihres Bruders.
„Ich habe hier Menschen getroffen.“, begann er und wurde von ihr unterbrochen.
„Gute Menschen?“
Alexander schüttelte so langsam den Kopf, dass die Bewegung unwirklich wirkte.
„Nein, aber auf ihre Art haben sie mich beeindruckt.“
„Wie viele?“
„Drei.“
„Nur drei beeindruckende Menschen in einer ganzen Stadt?!“
Danettes empörtes nach Luft schnappen ließ Alexander auflachen und bescherte seiner kleinen Schwester gleich noch einen Kuss in die Locken hinein. Seit sie das dritte Kind hatte, hatte sie die Sache mit den geordneten Frisuren einfach gleich ganz aufgegeben.
„Sie sind allesamt grundverschieden, doch...“
„...ein jeder von ihnen fing dich ein bisschen ein.“, vollendete Danette seinen Satz, doch bevor er ihr darauf antworten konnte, ertönte aus dem Nebenraum ein dumpfer Schlag mit anschließend anhebendem Wehklagen jener Sorte, die eine routinierte Mutter ernster zu nehmen wusste. Seine Schwester lächelte entschuldigend und eilte zu ihrem Kind.
Als sich die Türe wieder hinter ihr geschlossen hatte, blickte Alexander abermals auf den Markt heraus, die Hände in den Hosentaschen, den Kragen nicht so akurat, wie seine Mutter es gerne hätte. Irgendwann lachte er leise auf.
„Ja. Da hast du wohl recht.“
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