Auszug aus "Folklore: Fakten und Fantasie - Band 4, Die Zittergipfel", zu finden in der Bibliothek der Abtei Durmand
Die Sage vom Jólnir, dem Letzten der Riesen
"Vor langer Zeit, länger noch zurück als die Urahnen unserer Ältesten sich zu erinnern vermochten, da war die Welt bevölkert von Riesen. Winzig war unser Volk gegen sie, reichten ihre Beine doch höher als die Berge und schauten ihre Köpfe weit hinauf über die Wolken. Sie lebten mit uns im Einklang, denn wir brachten sie zum Lachen mit unseren winzigen Leibern und im Gegenzug lehrten sie uns das Poltern und Kämpfen, das Streiten und Schreien. Generationen lang wanderten Norn und Riesen in Respekt nebeneinander über das Antlitz der Berge. Doch immer mehr von den Riesen verschwanden aus den Tälern, die ihre Schritte geformt hatten. Nach und nach wich das Riesenvolk in die Nebel bis sie eines Tages alle fort waren. Die Norn nahmen es mit Bedauern, hielten jedoch alles Gelernte in Ehren und vermachten es weiter.
Zwei Generationen zogen in die Lande, bis eines Tages etwas Furchtbares geschah. Eine große Heimstatt inmitten der großen Zittergipfel erwachte des Nachts vom Beben der Felsen. Es rollte und polterte, krachte und splitterte, denn die Erde bebte wie geschlagene Butter und brachte alles auf ihr zum Einsturz. Felsspalten rissen auf unter dem großen Donnern des Bodens, verschluckten Kerl und Kind und Weib. Fackeln fielen, entzündeten die großen Holzhallen um die Nacht der Schrecken zu beleuchten. Als alles still war, erhob sich großes Wehklagen unter jenen, die zurückblieben. Es wurde getrauert, wie es Brauch ist und dann angepackt, um Hab und Gut wieder aufzubauen. Doch kaum standen die ersten Balken wieder, da begann das Beben von neuem und so ging es Nacht für Nacht für Nacht. Verzweifelt waren unsere Ahnen, denn sie sahen ihr Leben und Heim schwinden, ohne Aussicht auf Rettung. Nach der dritten Nacht der Schrecken sandten sie ihre besten Späher aus, um in allen Richtungen des Winterwindes nach Ursache und Hilfe zu suchen.
Die Späher zogen fort und suchten in den Gipfeln. Die einen fanden Hilfe bei anderen Heimstätten, die anderen warnten die bisher verschonten Gehöfte. Jener Norn jedoch, der gen Norden gezogen war, entdeckte endlich die Ursache des Übels. Sieben Tage und Nächte war er gewandert und schließlich kam er in ein entlegenes Tal. Und dort erblickte er ein Wesen, so mächtig und groß, wie er es nur mehr aus Erzählungen der Ältesten kannte. Zwei Arme und Beine so riesig wie die hohen Berge. Ein Bauch, so weit dass er die ganze Heimstatt zehnmal fressen könnte. Ein Bart so lang wie der Nordfluss, der die Zittergipfel durchzog. Das hier musste ein Riese sein! Versteckt durch seine Winzigkeit und hinter Felsen verborgen spähte der Norn nach dem Riesen. Und dieser zog stampfende Kreise durch das Tal. Raufte sich wehklagend Haar und Bart und schickte lautes, verzweifeltes Grollen in die Winde. Seine Tränen liefen zu einem See zu seinen Füßen zusammen und sein schweres, heftiges Stampfen brachte die Erde herum zum Beben, die Berge zum Wackeln und den Boden zum Zerreissen. Dies war der "Jólnir", der "Letzte" des Riesenvolkes. Nacht um Nacht sandte er seinen Riesenruf nach den anderen aus und Nacht für Nacht blieb jener ungehört. Und so wurde mit der Zeit sein Ruf immer lauter, sein Schritt immer schwerer und seine Verzweiflung zu Zorn.
Der Nornspäher rannte, was seine kurzen Beine hergaben zurück in die Heimat, um den Ältesten Kunde vom Jólnir zu bringen. Sie riefen die Geister um Rat an, berieten sich und schnell hatten sie eine Lösung gefunden: Jede Nornsippe solle in ihre zerstörten Häuser kriechen und eine Gabe für den Jólnir finden. Sie sollten bauen, brauen, weben, kochen, dichten, malen, schlachten, zimmern und gerben, bis ein großer Haufen an Geschenken für den letzten Riesen bereitlag. Und so geschah es, dass das Nornenvolk beladen mit den Gaben ihrer Hände und Herzen über die Berge in das Tal des Jólnir zog. Und als sie ihre zahlreichen Schlitten und Karren vor dem Jólnir entluden, da hörte er auf zu Weinen und zu Stampfen, denn er sah, das er nicht alleine war. Zwar antwortete kein Riese auf den Ruf des Bruders mehr, doch waren da viele kleine Seelen, die an ihn dachten. Nein, der Jólnir war gar nicht alleine. Es war ein rauschendes Fest im entfernten Tal, das Norn und Jólnir dort feierten und sie hatten alle soviel Freude daran, dass sie beschlossen, im nächsten Jahre wieder die Schlitten und Dolyaks zu beladen und zum Jólnir zu wandern.
So wurde es Brauch unter den Norn, gen Mittwinter zum Riesenfest zu ziehen. Eines Tages kamen sie beladen an, doch der Jólnir war nicht mehr. Im Sommer war er in die Nebel gegangen, zum Rest seines Riesenvolkes. Die Norn klagten um den liebgewonnenen Freund und gaben ihm zu Ehren dennoch ihr rauschendes Gabenfest. All die Geschenke, die dem Jólnir zugedacht waren, verteilten sie einfach untereinander. Und so tun sie es bis heute, um dem Jólnir zu gedenken und die Weisheit der Geister zu ehren, dass keiner je alleine und vergessen sein muss auf dieser Welt."