Dies sind die gesammelten Geschehnisse des Sommers, in dem der Drache sich einen Wolf holen kam...
VIII - Hoffnung (von Varda)
„Es sind der Seele laute Schreie, die stumm und schmerzend Leben heißen.
Und wenn ich meine Augen schließ', hör' und spür' ich das Heulen und Reißen.
Dem Geist des Wolfs übergeben, wird über des Tiers Seele gewacht.
Soll Dankbarkeit doch überwiegen, und nicht der Schatten dieser Nacht.“
Sveta Hunnveig
Nachdenklich betrachtete Arkadia ihre Schwester. Sie stand neben ihr, die Hände locker in die Hüfte gestemmt und sah zu der Älteren auf. Tuula hatte ihr eine Nachricht geschickt. Dass es dringend sei und dass Varda sie brauchte. Und dass Eik weg sei.
Varda selbst hatte die Arme unter der Brust verschränkt und lehnte an dem Eingangsbogen der Hütte, dem Legendenbogen. Dunkle Augenringe zierten das sonst immer so fröhliche Gesicht, müde und rot wirkten die Augen. Doch der Blick war leer, verlor sich in der Ferne, ohne etwas wirklich anzusehen.
„Varda...“, versuchte es die Schwester erneut mit sanfter Stimme. Doch die Angesprochene reagierte nicht. In Gedanken war sie weit weg.
Arkadia seufzte leise und sah über den Hof. Wohin sie auch sah, überall blickten ihr betroffene Gesichter entgegen. Ernste und Traurige. Das ganze Rudel vermisste seinen Leitwolf. Sie teilten ihren Schmerz und litten gemeinsam. Nur Varda versuchte wieder einmal, ihren Schmerz alleine zu tragen.
„Ich hör' sie in der Nacht oft weinen“, hatte Tuula der jüngeren Schwester leise erzählt, als sie angekommen war. „Manchmal ist sie dabei gar nicht wach. Dann wirft sie sich wimmernd hin und her und ist erst ruhig, wenn ich mich zu ihr lege.“
Arkadia wusste durch Vardas Erzählungen, dass sie und die kleine Norn mit der Zahnlücke sich sehr nahe standen. Sie war Teil des Rudels.
„Teil der Familie!“, hatte Varda einst mit einem strahlenden Lächeln behauptet.
Als die Jüngere ihre Schwester nun ansah, deutete nichts in ihrem Gesicht auf die Wildheit und Lebenslust an, für die sie so bekannt war. Nicht einmal Wut war zu sehen. Sie war leer. Arkadia wusste, dass sie die Gefühle tief in sich eingesperrt hatte.
„Was ist mit der Irren? Der kleinen Wölfin?“, wagte Arkadia einen weiteren Versuch.
Doch wieder erhielt sie keine Antwort. Langsam gab sie auf. Es war, als wäre ihre Schwester zu der Statue erstarrt, die sie und Aanika zeigte und in einer der hinteren Ecken der Wirtshütte stand, darauf wartend, einen ordentlichen Platz zu bekommen.
Lange war es still zwischen den beiden Nornfrauen, ehe Varda dann doch sprach.
„Wir hab'n sie verbrannt“, sagte sie und ihre Stimme war leise. Müde.
„Verbrannt? Wo?“
„Auf dem Berg, über'm Wolfsschrein. Sie sollte bei Wolf sein. Bei Wolf.“
Vardas darauffolgendes Nicken bewirkte, dass es den Anschein hatte, als würde sie zu sich selbst sprechen. Als müsse sie sich selbst davon überzeugen, dass sie die richtige Entscheidung getroffen hatte.
„Ich hab' ihn gespürt“, fügte sie flüsternd hinzu.
„Wen, Varda?“
„Wolf. Ich hab' ihn da ob'n gespürt. Als... als wir die Asche eingesammelt hab'n. Er war da und hat die Seele der Klein'n geleitet. Sie mit sich genomm'n. Wolf war da, Kady.“
Und als Varda das erste Mal den Kopf wandte und sie ansah, war der Blick klar. Sie sah die Schwester direkt an, fest und sicher. Ob Wolf wirklich auf dem Berg war, mochte vielleicht ungewiss sein, doch Varda glaubte fest daran.
„Die Asche is' in allen vier Element'n“, fuhr sie fort. „Feuer und Wind hab'n sie schon vorher mitgenomm'n. Was an mein'n Händen übrig war, hab' ich Erde und Wasser gegeb'n. Nun is' sie überall und mit uns. In uns. In uns'ren Herzen.“
Varda nickte wieder und sah nach vorne. Fixierte einen Punkt an der gegenüberliegenden Hütte, während sie weitersprach.
„Wir ham' die Asche in... seine Tasche getan. Er soll entscheid'n wo's hin soll, wenn er wieder zurück is'.“
Er. Damit meinte sie Eik. Sie nannte seinen Namen nicht.
Aus Angst?
Aus Schmerz?
Aus Verzweiflung?
Arkadia wusste es nicht. Vermutlich spielten all diese Gefühle dabei eine Rolle. Sie strich sich durch das lange, weißblonde Haar und atmete tief ein und aus. Wie hatte das bloß passieren können? Wie hatte er entführt werden können?
Soviel sie wusste, hatte es keinen Kampf gegeben. Irgendwas hatte Eik in der Nacht raus gelockt und ihn mitgenommen. Doch worin man sich einig war, war die Tatsache, dass die Svanir dahinter steckten. Die Drachenanbeter, zu denen auch Eiks Vater gehörte. Varda hatte ihr erzählt, dass Eik und Sjór, seine Schwester, gewusst hatten, dass der Tag irgendwann kommen würde. Der Tag, an dem der Vater seine Kinder zu sich holen würde. Doch niemand hatte gewusst, dass es schon so bald passieren würde.
„Sie hat dem Rabenschamanen eine verpasst“, hatte Tuula ihr vor einigen Stunden erzählt. „Der, der die Vision hatte. Plötzlich stand sie vor ihm und hat ihm eine ordentliche Ohrfeige gegeben.“
Doch das war der einzige Moment gewesen, an dem Varda so etwas wie Wut gezeigt hatte. Während die Anderen über Rache sprachen und ihrer Wut freien Lauf ließen, war die Rothaarige ruhig. Geradezu leer. Und voller Angst.
Sie versuchte es zu verstecken, doch Arkadia kannte ihre Schwester.
War sie so, als ich davon gerannt bin?, schoss ihr die Frage durch den Kopf.
Unglücklich mit sich und der Welt, war Arkadia vor einem halben Jahr davon gelaufen. Varda hatte sie gesucht und schließlich gefunden. Es hatte eine lange Zeit und viel Streit gebraucht, doch nun waren die Schwestern einander wieder Nahe.
„Kady, das is' es!“, sagte Varda plötzlich und schreckte die Angesprochene damit aus ihren Gedanken.
„Was...?“
„Das is' es! Es macht alles Sinn!“
Arkadia schüttelte den Kopf. War ihre Schwester verrückt geworden?
„Was macht Sinn?“
„Die Entführung! 's es jetzt passiert is'. Jetzt, wo's Rudel stärker und größer is', als zuvor. Jetzt, wo er und ich die Bindung zueinander hab'n. Es is' zum bestmöglich'n Zeitpunkt passiert!“
„Jetzt hat sie vollkommen den Verstand verloren...“, hörte man Tuula im Hintergrund murmeln und Arkadia konnte ihr in Gedanken nur zustimmen.
Doch, so verrückt es sich auch anhörte, es brachte die Jüngere zum Nachdenken. Hatte Varda vielleicht Recht? Hatten sie etwa Glück im Unglück? Hatten der arme Eik und die arme Sjór Glück im Unglück?
Als sie ihre Schwester betrachtete, erkannte sie, dass es keine Rolle spielte. Es war egal, ob ihr jemand glaubte oder nicht. Varda glaubte daran und es gab ihr Hoffnung.
Hoffnung, die die himmelblauen Augen füllte und die Leere darin vertrieb.
IX - Katzenaugen (von Camra)
Ihre Glieder schmerzten, doch die Jägerin hielt nicht inne. Irgendwann würde das Ziehen in den Waden verebben, das Gefühl abflachen, dass ihr der Rücken brechen mochte. Sie kannte diese Anzeichen und wusste, dass es vergehen würde. Bei manchen Jagden durfte man nicht ruhen oder ausharren, sondern musste seine Beute über Tage verfolgen, mit wenig Schlaf und Nahrung, Irgendwann wurde die Beute müde, auch die stärksten Tiere musste irgendwann rasten. Dann war die Stunde des Jägers gekommen und Camras Hände brachten das Ende mit schneller Sicherheit.
Dieses Mal jedoch war die Beute unbestimmt, und das Ziel noch weniger sichtbar. Seit sie an der Rast gewesen war, um sich wegen Eik zu vergewissern, hatte sie keine Ruhe mehr gefunden. Was sie dort von Tuula erfahren hatte, war beunruhigend - und es hatte gezeigt, dass in ihrem seltsamen Traum erschreckend viel Wahrheit lag. Eik war verschwunden, mit hoher Wahrscheinlichkeit von Svanir-Jüngern entführt, und die kleine Wölfin war getötet worden. Nicht einfach dem Leben entrissen, sondern brutal und grausam abgeschlachtet, als sei ihr Leben nichts wert gewesen. Doch die Trauer um das tote Tier, welches sich mit seinen Zähnchen in Camras Stiefel verewigt hatte, musste warten. Vater Wolf hatte das Kleine gewiss in sein ewiges Rudel aufgenommen - und für die Lebenden gab es wichtigere Aufgaben, die ihrer harrten.
Sie hatte nicht bei der Rast bleiben können, nicht bei den stummen Wogen an Verzweiflung und Wut, die in der kurzen Zeit, die sie dort verharrt hatte, so überdeutlich zu spüren gewesen waren. Für einen Jäger gab es nur eines - die Jagd. Mochte das Rudel einander Trost und Hilfe in dieser schweren Zeit sein, Camra war kein Teil des Rudels und war sich sicher gewesen, dass es hilfreich sein würde. Denn eine Gruppe konnte man leichter finden als einen einzelnen, und ihr Gesicht war nicht oft genug an der Rast zu sehen gewesen, dass sie sich recht sicher war, man würde es der Gruppe um Eik nicht zurechnen. Würden die Svanir-Jünger sie aufgreifen, könnte sie überzeugend lügen, gerade weil sie dort nicht oft gelagert hatte.
Und zu verharren und zu klagen war nicht ihre Art, war es nie gewesen. Trauer über Vergangenes änderte das Geschehen nicht. Zorn über Gegenwärtiges konnte es nicht ungeschehen machen. Camra blickte voraus, unbeirrt. Manche nannten das gnadenlos. Manche nannten es kalt, doch das war es nicht. Eine weitere Person, welche herumsaß, tröstete und redete würde das Geschehen nicht ändern. Ein Jäger aber, der einer erkaltenden Spur zu folgen begann, bevor sie vollends erlöschen würde, konnte einen Unterschied für die Zukunft bringen. Es war der Weg der Schneeleopardin, der im Hier und Jetzt lag, nicht im Vergangenen. Sie blickte immer voraus.
Und es hatte sich ausgezahlt. Zwar nicht in der Art und Weise, welche die Jägerin vermutet hatte, aber es hatte eine wichtige Erkenntnis gebracht, wegen derer sie nun ihre müden Füße zwang, sich zur Doppelsporn-Freistatt zu bewegen. Ursprünglich war sie aufgebrochen, um den Svanir-Anhängern nachzuspionieren. Tuula hatte berichtet, dass das Rudel glaubte, die Svanir-Jünger würden versuchen, neben Eik auch seine Schwester Sjór zu finden und gefangen zu nehmen. Sein Vater schien einer der Drachenknutscher zu sein, und den Sohn durch das Leid der Schwester zu Jormag zu bekehren, klang in Camras Ohren wie der reichlich perverse, aber nachvollziehbare Weg eines dieser Verirrten.
Wer den Drachen anheim fiel, verlor alles, auch die innerliche Bindung an jene, die zur Sippe gehörten. Auch das war ein Grund für ihren schnellen Aufbruch gewesen - die Svanir-Jünger hatten einige Tage Vorsprung, den sie wett machen musste. Camra hatte geglaubt, dass die Svanir eine solche Gelegenheit, eine Frau nicht nur zu fangen, sondern eine Dienerin der Tiergeister foltern zu können, groß feiern würden. Ein solcher Triumph über die Geister würde nicht nur eine kleine Gruppe feiern, solcherlei würde groß begangen werden, um möglichst vielen die Macht der Svanir zu zeigen. So hatte sie begonnen, die kleinen, abseits der Handelswege liegenden Hütten abzuklappern und fragte sich auch bei den Freistätten durch, ob dort in der Nähe ungewöhnliche Svanir-Aktivitäten gesichtet worden waren. Doch erst bei Kevachs Gehöft, als sie nach zwei Tagen ergebnisloser Suche und langen Laufwegen schon geglaubt hatte, dem falschen Weg gefolgt zu sein, waren ihr die Geister gnädig gesonnen gewesen.
Die junge Britte, die Tochter des Skalten Stjarna, der sich dort angesiedelt hatte, um die Norn mit seinen Spott- und Trinkliedern zu erfreuen, erzählte Camra nach einigen beruhigenden und ermutigenden Worten eine seltsame Geschichte: Sie war von einem Trupp Svanir aufgegriffen worden, als sie sich vom Gehöft zu weit entfernt hatte - über den Grund hatte sie ein wenig herumgedruckst und so vermutete Camra, dass ein junger Norn damit zu tun haben musste. Doch entgegen aller Erwartungen war ihr nichts geschehen - üblicherweise musste eine Frau mit einer Schändung oder harten Prügeln rechnen, wenn sie den Drachenjüngern in die Hände fiel, die alle weiblichen Wesen abgrundtief hassten. Die Svanir hatten Britte nur genau untersucht, von den hartgesottenen Kriegern war sie gründlich begafft worden und schließlich hatte man sie nach einem Hieb gegen die Schläfe laufen gelassen.
Einer sollte sogar gesagt haben, sie sei nicht die Richtige, bevor die Svanir sich wieder auf den Weg gemacht hatten. Britte konnte sich genausowenig wie ihr Vater erklären, was das Ganze zu bedeuten hatte, doch Camra war es fast sofort klar: Sie hatten Sjór noch nicht gefunden. Auf die Ferne mochte die schlacksige, blonde Britte Eiks Schwester durchaus ähneln, sie trug auch wie diese einen dicken Zopf an der Seite, doch spätestens beim Blick in ihre Augen musste die Wahrheit klar sein: Brittes Augen waren blau, nicht moosgrün wie die Sjórs. Stumm hatte die Jägerin dem Zufall gedackt, dass sie Sjór vor einigen Monaten kennengelernt hatte und wusste, wie diese aussah, sonst hätte sie die Geschichte vielleicht abgetan und deren Wichtigkeit gar nicht erkannt. Leopardin, schütze Deine Tochter Sjór und verbirg sie vor den Augen ihrer Feinde, richtete die Jägerin eine stumme Bitte an den Tiergeist, der ihr Leben so geprägt hatte. Für sich selbst bat sie fast nie um etwas, ihr Vater hatte sie in dem Gedanken aufgezogen, dass man sich selbst helfen müsse und nur die Dinge, die über alle eigenen Kräfte gingen, die Geister bitten dürfe.
Sogleich war sie wieder losgezogen und hatte diesmal gleich die ihr bekannten Lagerstätten der Svanir bespitzelt - auch das hatte Stunden der Geduld erfordert, in denen sie sich weder Schlaf noch ein Feuer hatte leisten können und dürfen. Getrocknetes Fleisch und in der Hand verflüssigter Schnee hatten ausreichen müssen, um keine Aufmerksamkeit zu erregen. Und es hatte sich ausgezahlt: Nicht nur eine kleine Gruppe der Svanir strich über das Land, es waren mehrere, die etwas zu suchen schienen. Es konnte nur eines bedeuten: Sie hatten Sjór noch nicht gefunden, und waren noch immer hinter ihr her. Das war ein Lichtblick, der zusätzlich zu Tuulas Worten die Hoffnung in Camras Herzen wach hielt. Die Norn hatte ihr berichtet, es gäbe eine Bindung zwischen Varda und Eik, die Varda spüren ließe, dass es ihm noch gut ginge. Noch mochte sich Eiks Vater Hoffnungen machen, dass er seinen Sohn auf seine Seite ziehen könnte - solange Sjór unauffindbar blieb. Schneller lief die Jägerin über einen Hügel hinab und betrat die Doppelsporn-Freistatt durch deren weit geöffneten Tore.
Die Feuer dort flackerten verlockend, sie konnte die Wärme derer fast riechen, ihre Haut sehnte sich verzweifelt nach etwas Hitze. Sie versuchte, die Feuer nicht anzublicken, sondern steuerte eine kleine Dolyak-Karawane an, die mit dick gefüllten Beuteln gut beladen war. Die Händlerin Halva, welcher Camra auf einer früheren Reise begegnet war, stand beim Leittier und verhandelte gerade mit einem waffenstarrenden Charr wohl wegen eines weiteren Begleitschutzes. Erst als die Unterhaltung beendet war, näherte sie sich und tauschte mit der breitschultrigen Norn einige belanglose Worte aus. Erst, als sie etwas abseits der umher eilenden Leute standen, vertraute Camra der Händlerin eine Botschaft an, da deren Weg sie nach Hoelbrak führen würde.
"Bitte geh zu Tuula oder Varda, und richte ihnen etwas von mir aus. Sie kennen meinen Namen und werden wissen, was ich damit meine." Halva runzelte die Stirn, der Ernst in der Stimme der Jägerin hatte sie nachdenklich gemacht
"Was ist geschehen? Du bist doch sonst nicht so - und Du siehst müde aus." Camra hob abwehrend die Hände und schüttelte den Kopf.
"Ich kann Dir nicht alles erklären, das werden sie dort tun, sie wissen auch mehr als ich. Aber es ist wichtig, dass Du Dich beeilst. Wenn ich diesen Weg machen muss, verliere ich Zeit und es geht hier im Leben und Tod." Halvas Miene verriet deutlich, wie wenig es ihr gefiel, mit so wenigen Worten abgespeist zu werden, dann nickte sie jedoch.
"Wenn es so wichtig ist, überbringe ich die Nachricht natürlich. Aber wehe, Du erzählst mir bei unserem nächsten Treffen nicht alles ganz genau." Camra nickte nur und sagte:
"Das werde ich .. und ich hoffe, ich kann Dir eine Geschichte mit einem guten Ende erzählen. Bitte sag ihnen, dass die Svanir sie noch nicht gefunden haben. Sie suchen in kleinen Gruppen nach ihr und haben ein Mädchen aufgegriffen und laufen gelassen, das ihr ähnlich sah. Vielleicht wäre es den Kriegern möglich, den Trupps aufzulauern und ein paar von denen ausser Gefecht setzen. Ich werde weiter suchen und hoffen, mehr zu erfahren."
"Und um wen geht es dabei?" hakte Halva nach, doch wieder wehrte die Jägerin mit einem Kopfschütteln ab.
"Je weniger Du weisst, desto weniger kann man aus Dir herauspressen, falls es hart auf hart kommt. Bitte ...frag die Leute vom Rudel. Ich muss jetzt ein wenig schlafen und dann geht es wieder hinaus."
"Aber nur, weil Du es bist, Schneeklaue ... wenn Du Geheimnisse hast, gefällt mir das nicht." Die beiden Frauen trennten sich nach einer herzlichen Umarmung, dann schleppte sich Camra zu einem der überdachten Räume und rollte sich bei einer Feuerstell in ihrem Schlaffell zusammen. Bleierne Müdigkeit griff nach ihr und ließ sie fast sofort in den Schlaf sinken, während sich Halva mit ihrer Karawane und dem Begleitschutz auf den Weg Richtung Hoelbrak machte, um vor der Stadt auch einen Abstecher zu Rekkins Rast anzugehen, wie sie es versprochen hatte. Die Botschaft würde das Rudel erreichen ...
X - Die Schwester (von Sjór)
Knurrend und schnaubend stampften vom Schneesturm gebeutelte Gestalten durch den kniehohen Schnee. Keiner sprach ein Wort, waren doch alle in ihren eigenen, von Wut erfüllten Gedanken versunken. Noch hatten sie das Weib nicht gefunden, obwohl sie seit Tagen die Hügel durchkämmten, hatten keine Geduld mehr sich auf dieses Spiel einzulassen. Ne Göre hatten sie aufgegriffen, doch hatte die die falschen Augen und wenn man's recht überlegte, so im nachhinein, war's auch zu einfach gewesen. Und nun schneite es. Wenn sie Spuren hinterlassen hatte, so waren spätestens jetzt alle weg. Hass loderte auf, begleitete den Trupp auf jedem Schritt, jedem Atemzug. Lange würde dieses Weib nicht mehr durchhalten, da waren sie sich sicher und wenn sie's endlich in die Finger bekommen... Und dann geht ein Ruck durch die kleine Truppe der Brüder, als der Vordermann inne hält und die Augen zusammen kneift. Ein dreckiges Auflachen steigt in das Wirbeln der Flocken empor und als er mit seinen dicken, wurstigen Fingern nach vorne deutet, da erwacht das Fieber der Jagd zu neuem Leben.
Jetzt wussten sie, dass ihr Weg nicht mehr lange dauern würde...
XI - Die Schamanen (von Llarrian)
Hoelbrak. Die Wolfshütte.
Ruhig liegt der Wolf da, über ihm kauert eine dürre Gestalt mit kahlem Kopf. Um die beiden herum ein Kreis aus roter Erde und würzigem Rauch. Eine Flöte bläst rau, Flammen bringen das große Holzbildnis des großen Tiergeistes hoch über den Köpfen zum Zucken und Zähnefletschen.
Die Schamanin hat die Finger tief im Fell des Wolfs vergraben, Stirn an Stirn flüstert sie dem aufmerksamen Tier leise Worte zu. Beide Körper, Fell und Haut, sind überzogen von groben Bildern aus roter Farbe: Die Jagd des Rudels.
Stunde um Stunde verweilen sie im Kreis, während um sie herum Trommeln schlagen und Flöten heulen.
"Vater Wolf, schärfe deine Sinne.
Bruder Wolf, spitze deine Ohren.
Wolf, mein Sohn, erwecke deine Zunge.
Geliebter Wolf, weite deine Nase.
Finde, was verborgen.
Wittere, was verweht.
Sieh, was versteckt.
Höre, was verklungen."
Zur selben Zeit. Irgendwo im Norden, verborgen zwischen Eis und Schnee.
Eine Gestalt kauert in einem Kreis aus rotem Eis und Rauch. Flammen zucken über die vier zerfledderten Leichen von Wolf, Bär, Schneeleopard und Rabe, die dort verteilt liegen. Lange Zeit ist Stille. Dann erhebt sich eine Stimme, kalt und tot und eisig wie die Gletscher.
"Sie suchen nach ihm. Rabe und Schneeleopardin durchstreifen die Hügel. Wolf bereitet sich auf die Suche vor. Sogar Bär schleifen sie mit. Sie werden ihn nicht verloren geben."
Eine dürre Hand, die Finger überzogen mit eisigen Adern, streckt sich und verwischt den Kreis am Boden. Die Gestalt steht auf, drückt mit dem Stiefel achtlos die Rabenleiche zur Seite. Im Weggehen noch erklingen unerbittlich knappe Worte.
"Narren. Schickt eine Warnung."
XII - Rabenflug (von Locce)
Alles war vorbereitet.
Gaertas Gipfel bot schon im Normalfall einen großartigen Aussichtspunkt. Bei gutem Wetter konnte man fast die Bewegungen der Wachen beobachten, die auf den Zinnen der Doppelsporn-Freistatt patrouillierten. Kein Wunder, dass Mabil fast ständig hier oben Ausschau hielt. Lokke nickte der Späherin, die versprochen hatte ein Auge auf ihn zu werfen, lächelnd zu. Ihm würde schon etwas einfallen um sich bei ihr für ihre Hilfe zu revanchieren, und sei es nur, dass er seinen Imbiss mit ihr teilen würde, den er neben den Ritualmaterialien in seiner Tasche hierher mitgeschleppt hatte: Brot, Schinken, Käse, eine herzhafte Mahlzeit um die bevorstehende Erschöpfung zu vertreiben. Und natürlich hatten auch seine beiden neuen Feldflaschen den Weg in die Tasche gefunden, die eine, mit dem Rabenkopf-Verschluss, hatte er mit lieblichem Met gefüllt, da Süßes immer besonders gut half um die Spinnweben aus dem Kopf zu vertreiben, wenn er es mit seinen Kräften etwas übertrieben hatte. Von seinem Freund Lando Stark hatte er erfahren, dass Sheryna von Flammenfels, dessen Verlobte, der er diese Flasche zu verdanken hatte, es genau so hielt. Die andere Flasche, die mit den weiblichen Rundungen, war immer noch mit dem Schnaps befüllt, mit dem er sie erhalten hatte. Er war noch nicht einmal dazu gekommen Eik zu fragen, um welches Zeug aus den dunkelsten Winkeln der Unterwelt es sich diesmal handelte.
Eik. Der frischgebackene Rabenschamane fokussierte seinen Geist wieder auf das Ritual. Schon zeigte sich wieder dieses leichte Glühen in seinen eisblauen Augen, das diese fast aussehen ließ wie kleine Portale in die Nebel. Schnell wurden seine Sinne unscharf, verlagerten sich etwas und als Lokke sich seiner Position wieder bewusst war, saß er einige Schritte weiter am Rand der Klippe, die Augenhöhe viel näher am schneebedeckten Boden, und spürte den Wind an seinem Gefieder zupfen. Der Rabe spürte offenbar, dass ihm sein Körper nicht mehr ganz allein gehörte, flatterte kurz unruhig auf, aber nach diesem kurzen Schreckmoment hatte der große Rabe den kleinen Raben bereits wieder zur Ruhe gebracht. Raben sind kluge Vögel, es wäre ungeschickt sich ihnen aufzudrängen, zumal Lokke selbst, wenn er es gewollt hätte, kaum Nutzen aus dieser Art der Kontrolle hätte ziehen können. Ein Rabe weiß immer noch am besten wie ein Rabe fliegt. So überzeugte der Schamane den Vogel behutsam und mit dem Versprechen auf ein paar Scheiben leckeren Schinkens zur Zusammenarbeit, woraufhin dieser seine Flügel ausbreitete und sich in die Tiefe stürzte.
Lokkes Herz blieb kurz stehen, dann schlug es um so eifriger. Nie zuvor war ihm ein derartiges Gefühl vergönnt gewesen. Fliegen. Kaum hatte sich der Norn damit so weit abgefunden, dass er die Sinne des Rabens dazu nutzen konnte die Umgebung zu sondieren, da hatte dieser auch schon den Halsbrecherpass hinter sich gelassen und der lichte Wald des Taigan-Hains rauschte unter ihm hinweg. Aber er musste noch weiter. Nach Osten. Und nach Norden. Er wusste, wo sich diese Svanirbrut herumtrieb. In den letzten Tagen hatte er viele von ihnen getötet und diese Klarheit, die sein Verstand im Kampf erfuhr, genutzt um über wichtige Dinge nachzudenken. Nun, da diese Dinge vorerst zu seiner Zufriedenheit geregelt waren, konnte er daraus vielleicht sogar Kapital schlagen. Seine Angriffe mussten irgendeine Art von Reaktion provozieren. Es war unwahrscheinlich, dass sie einfach so weitermachen würden wie bisher, wenn ihre Jagdgruppen immer wieder abgeschlachtet werden. Sie würden in größeren Gruppen reisen und sie würden sich auf den Schutz ihrer Anführer konzentrieren, jedenfalls hoffte Lokke dies. Und mit einem Bisschen Glück könnte er aus der Luft vielleicht erkennen, wo sie sich nun herumtrieben, ihre wichtigen Sammelpunkte ausmachen, mögliche Orte lokalisieren, wo man Gefangene festhielt.
Auch, wenn dabei immer noch viele mögliche Orte übrig blieben, aber alles war besser als diese völlige Ahnungslosigkeit, wo man mit der Suche beginnen könnte.
Himmel. Nichts als Himmel.
Ein paar kleine Schneeflocken kitzelten Lokkes Nase. Dann füllte Mabils besorgte Miene sein Sichtfeld. "Alles in Ordnung bei dir, Großer?"
Der Rabenschmane lachte. Es war ein erschöpftes, atemloses Lachen, aber es war aus tiefstem Herzen empfunden. Er hatte seinen ersten Flug hinter sich gebracht. Erfolgreich. Und er hatte interessante Dinge sehen können. Davon, dass die Svanir defensiver wurden, dass sie vornehmlich ihre Anführer und ihre Beute schützten, war nichts zu sehen. Im Gegenteil: Die Gruppen, die ihm in den letzten Tagen immer wieder in die Arme, oder besser ins Schwert, gelaufen waren, waren keine Einzelfälle. Viele solcher kleiner Trupps durchstreiften die Hügel, und das konnte nur bedeuten, dass sie dringend nach etwas suchten. Oder nach jemandem. Sjór.
Noch einmal tief durchatmen. "Wie lang? Wie lang war ich weg?" Mabils Züge hatten inzwischen die Sorge verloren und trugen nun eine glückliche Erleichterung zur Schau. Sie zuckte mit den Schultern. "Knapp drei Stunden würd' ich schätz'n." Lokke stöhnte laut auf. "Hab' völlig das Zeitgefühl verlor'n." Noch im Aufrappeln in eine sitzende Position griff er nach der Feldflasche mit dem Met, schraubte sie auf und genehmigte sich erst einmal einen kräftigen Schluck davon. Seine trockene Kehle machte Jubelsprünge.
Er ließ seinen Blick über den Horizont schweifen. Für einen zweiten Flug war es heute zu spät. Bis er wieder bei Atem und frisch gestärkt wäre, würde schon allmählich die Dunkelheit hereinbrechen. Und morgen sollte er seine Erkenntnisse besser mit dem Rest des Rudels teilen. Aber mit etwas Übung hielte er beim nächsten Mal sogar etwas länger durch oder würde zwei solcher Erkundungsflüge an einem Tag schaffen. Fliegen. Ein großartiges Gefühl! Schon war das listige Funkeln in seinen Augen zurück als er die Späherin aus halb zugekniffenen Augen anlinste. "Der Rabe müsste auch bald wieder da sein, und dann sollte ich besser 'n bisschen Schink'n hier 'rumlieg'n hab'n. Und ehrlich gesagt könnt' ich auch 'n Happen vertrag'n. Wie sieht's bei dir aus? Hunger?"
XIII - Die Wanderung (von Dr.Moe)
((AmbientSound, wer möchte))
Klarer, kalter Nachthimmel erhob sich über dem Norn, als er aus der wohligen Wärme der Rasthütte hinaus in die Dunkelheit trat. Hier gabelte sich also der Weg. Der Rabe mit dem weißen Haupt trennte sich von den anderen. Er sah nicht noch einmal zurück, auch wenn Zweifel an ihm nagten und er mit gemischten Gefühlen ging. Nicht nach Löwenstein, nein…eine Sache gab es noch zu erledigen. Einen letzten schweigsamen Akt um dieses Kapitel abzuschließen und frischen Mutes den Weg zu beschreiten, den Rabe nun für Maurice bestimmte.
Er warf einen prüfenden Blick auf den Inhalt seines Reiserucksacks, obwohl er eigentlich wusste, dass die Rolle sich noch darin befand. Vielleicht wollte er sich einfach noch einmal vergewissern, sich der Situation wirklich bewusst werden. Seine Fingerkuppen glitten über den hölzernen Zylinder und verharrten dort einen Moment. Bald darauf band er die Tasche zu, schulterte sie auf dem Rücken und erhob er sich. Den dicken schwarzen Schal schlang er sich um den Hals und die Kapuze war tief ins Gesicht gezogen als er sich schließlich auf den Weg machte.
Zu fortgeschrittener Stunde ging es oben auf dem großen Hof der Rast noch ordentlich zu. Ab und an vernahm man ein Johlen oder Schreien bis in den umliegenden Wald. Der Geruch von gebratenen Köstlichkeiten hing in der Luft, so der Wind ihn mit sich trug. Bei all der Niedergeschlagenheit, welche die Gäste der Rast mit dem Verschwinden der geliebten Geschwister anheim suchte, der Hof würde nicht zu einem Feld der Trauer verkommen. Im Gegenteil, es schien als stärke das Beisammensein die Norn die sich dort versammelten. Sie teilten nicht nur Speis und Trank, sondern auch Hoffnung und Sorge miteinander und beratschlagten über weitere Vorgehensweisen.
Maurice warf abseits aus einigen Metern Entfernung noch einen Blick auf den vom Lagerfeuer erleuchteten Platz, bevor er einen Trampelpfad den Hügel hinab zu einer kleinen Hütte hinunter stiefelte. Schwaches Licht schien durch die Ritzen der Türe und der Norn klopfte dreimal an. Er würde sein Anliegen vortragen, so absurd es auch klang. Der Hausherr würde sicher nicht nein sagen, solang der Preis stimmte und in Moes Tasche befand sich für solche Zwecke meist ein prall gefüllter Beutel mit klingenden Münzen. Wenn man etwas beim Aufwachsen in Löwenstein lernte, dann dass die meisten bestechlich waren und Geld viele Türen aufschloss.
Der grauhaarige Alte sah den vermummten Norn ungläubig und kopfschüttelnd an. „Dummheit wird nur mit ner großn Portion Glück legendentauglich, Junge. Und Glück….“ –er sann eine Weile über etwas nach – „Davon gibt’s in‘ Hügeln grad nixmehr zu holn.“ Der Griesgram kauerte in seinem Sessel an dem schweren verkratzten Holztisch, nagte auf seiner Pfeife herum und moserte weiter über schlechten Zeiten und jugendlichen Leichtsinn. In dem Kessel über dem kleinen Herd blubberte es träge. Maurice holte tief Luft und kommentierte die Worte des alten Norn mit beharrlich geduldigem Schweigen, bis er dem Mann irgendwann den schweren klimpernden Beutel auf den Tisch warf. „Verkaufst du mir jetzt den Kram, oder nich?“ Sein Gegenüber blickte Moe aus seinen trüben glasigen Augen missmutig an und nickte schließlich widerwillig.
Hier stand der Norn aus dem Westen nun am Fuße einer der höchsten Berge der Wandererhügel. Mächtig erhob sich der Riese, dessen Gipfel man nur erahnen konnte, in den Nachthimmel. Maurice legte den Kopf in den Nacken und blickte hinauf. Das Ganze war wahnwitzig. Aber vielleicht musste es genau deswegen sein. Eispickel, Seile und Gurte, dicke Handschuhe, eine Eisenhacke, zwei Schlaffelle und ein kleines Zelt befanden sich nun in seinem Besitz. Dazu Tee in einem großen Trinkschlauch, Brot, zwei Äpfel, Käse und Räucherschinken als Proviant und einige Überlebensratschläge des alten Nordmanns aus der Hütte. Geschnürt und gestiefelt, die Kletterausrüstung am Gepäck verstaut und eine Laterne mit spärlichem Licht in der Hand, begann Maurice schließlich den langen Weg hinauf ins Ungewisse.
Spärliches Licht nur spendete die Funzel, welche tapfer in dem kleinen Zelt flackerte. Die dicken Felle spendeten zwar geringfügig Wärme, aber die eigentliche Kälte hatte schon längst ihren Weg in Mark und Bein gefunden. Die schweren Stiefel hatte er ausgezogen und knetete die eisigen Fußzehen. Die letzten Meter hinauf zu diesem kleinen Plateau waren ungemein mühselig gewesen. Die Schlitterpartien über das feste Eis, von diversen Stürzen gefolgt, waren nicht das Problem. Viel schlimmer war der Schneerutsch in welchen der Norn geriet, nachdem er in einem unkonzentrierten Moment im Dunkeln auf den falschen Vorsprung getreten war und das Schneerollen losgtreten hatte. Glück im Unglück konnte man sagen, dass die eisige Welle ihn nicht in irgendeiner Felsspalte begrub, doch war es ein anstrengender Kampf sich aus der dicken Schneedecke zu befreien. Viele kostbare Meter die Moe schon erklommen hatte, wurde er durch diesen Vorfall zurückgeworfen. Einen Teil seiner Ausrüstung hatte er auf diesem Weg nach unten ebenfalls eingebüßt.
Eine Weile lang hatte er auch das Gefühl, er würde verfolgt, aber wahrscheinlich war es bloß aufkeimende Paranoia, die er der absoluten Stille hier oben schuldete. Diese eindringliche, ohrenbetäubende Stille. Bis auf das Pfeifen des Windes und den Geräuschen die er selbst beim hinaufkrackseln verursachte, gab es nicht zu hören. Keine Vögel, kein Rauschen eines Gebirgsbaches, nichts. Er schätzte die Ruhe, normalerweise. Hoch oben im „Krähennest“ von Löwenstein hatte er die Abgeschiedenheit, wenn er sie suchte, doch schien das Grundrauschen dieser lebendigen Stadt immer präsent, wenn auch nicht bewusst wahrgenommen. Erst hier, weit ab von der Zivilisation, fiel ihm das Ausbleiben dieser Kulisse auf. Die Präsenz dieser beklemmenden Stille zwang ihn dazu, sich auf den vorliegenden Abschnitt der kommen sollte zu fokussieren. Eigentlich wollte er einfach nur schlafen, Kraft schöpfen. Stundenlang war er nun schon unterwegs, es war mitten in der Nacht, der letzte wirkliche Schlaf lag schon mehr als einen Tag zurück. Die nassen Kleider am Leib und das Gepäck fielen zu Beginn des Aufstiegs nicht ins Gewicht, doch mit dem steten Vorankommen, zurückgeworfen werden, wieder vorankommen, zehrten sie inzwischen auch an des Mannes Kräften. Der letzte Fehltritt, der ihn hinunterwarf, war der ausschlaggebende Punkt der Moe dazu brachte einzulenken, einen passenden Platz für das Zelt zu suchen und zu rasten.
Er öffnete den Rucksack und zog die hölzerne Rolle heraus, wiegte sie einen Moment in den Händen. Schließich öffnete er den Verschluss und schob behutsam den Inhalt nach draußen. Die beiden Blätter lagen auf seinem Schoß und er betrachtete sie im Laternenlicht. Wenn du nichts hast, dass demjenigen gehört, musst du dich deines eigenen Besitzes bedienen. Deiner Erinnerung. Banne sie nach außen, halte sie fest, in welcher Form auch immer. Beobachte! Sieh mit Rabenaugen, versetzt dich in diese Person…denke wie sie! Fühle wie sie! Und dann, nimm alle Eindrücke in dich auf und geb ihr eine Form. Fang an! Mit müden Lächeln entsann er sich der Worte seiner Erzeugerin und der zahlreichen Lehrstunden denen er oftmals nur mit halber Aufmerksamkeit gefolgt war, als er weiter in der Tasche stöberte. Er zog ein ledernes Mäppchen heraus und wickelte es auf. Das scharfkantige Stück einer abgebrochenen schwarzen Klinge blitzte im Laternenlicht auf. Desweiteren enthielt die Mappe eine Schreibfeder und ein kleines Paket, in welchem sich Kreide und Kohlestücke befanden.
Bedacht und langsam zog er mit der schwarzen und weißen Farbe Schutzsymbole über das Papier. Auf die Bedeutung jedes Zeichens fokussierte er sich für diesen Moment, versuchte jedes Detail dass er zeichnete, gleichzeitig zu verinnerlichen. Als er diese Prozedur beendet hatte, griff er nach dem spitzen Klingenstück und machte einen längeren Schnitt in seinen Unterarm. Dicke Tropfen Blut quollen hervor, welche er in einer winzigen Holzschale sammelte. Er tauchte die Schreibfeder hinein und schrieb das Gebet der Hoffnung, welches er zeitgleich vor sich hinsprach, in scharfen dunkelroten Linien auf die Blätter. Zuletzt stippte er zwei Fingerkuppen in das Blut und versiegelte das auf Papier getragene Ritual indem er der Rabenschwingen Gestalt in abstrahierter Form über die Bildnisse zog.
Der Schlaf hatte ihn, ohne dass er sich dessen wirklich erinnern konnte, übermannt. In dem diffusen Traum war es ihm, als habe er Sjors Stimme singen gehört. Der Nachhall eines Kinderlieds folgte ihm noch in den Halbschlaf. Der Norn erwachte und linste hinaus aus dem Zelt. Es war noch dunkel, dämmerte jedoch entfernt. Vage erkannte er ein Hellerwerden des Horizonts durch die dicken Wolkendecken. Plötzlich fühlte er sich überraschend munter und klar im Kopf und machte sich sogleich daran, die Bilder in der Holzröhre zu verstauen und sämtliche Habe zusammenzupacken. Eine kurze Mahlzeit stärkte ihn und er schulterte sein Gepäck auf dem Rücken. Er summte leise die Melodie des Traumes vor sich hin und kletterte den Hang hinauf um von dem Vorsprung aus ein besseres Blickfeld nach oben haben zu können und sah…nichts. Nichts außer diesem dicken Nebelvorhang, der gehässig die Sicht zur Spitze des Berges verschleierte und seinen Mut einen Moment verzagen ließ.
Er hatte keine Ahnung wie lang er sich nun schon durch die Wolken kämpfte. Die dicken weißen Schlieren drückten auf seine Seele. Vergessen geglaubte Urängste fraßen sich gierig ihren Weg in des Mannes Bewusstsein, nagten an seinem Verstand. Sein Herzschlag pochte ihm dem Klang düsterer Trommeln gleich bis in den Kopf. Weiter und weiter hinauf, Schritt für Schritt wurde er langsamer je mehr sich die Zweifel in seinem Herzen ausbreiteten. Die Bilder der letzten Visionen tauchten wieder vor seinem geistigen Auge auf und ließen ihn stürzen. Das Kinderlied hatte er inzwischen beständig in seinem Ohr, verzerrte sich zu bizarren Tönen, je stärker er versuchte diese Melodie aus seinen Gedanken zu vertreiben. Das Gefühl den Verstand zu verlieren ängstigte den Mann und verschlimmerte die ganze Situation zusätzlich. Ihm war nach aufgeben. Es wäre so leicht sich einfach auf die Knie sinken zu lassen und sich zu ergeben. Leise begann der Mann mit kehliger Stimme zu singen. Jedes Wort trug ihn einen Schritt weiter nach oben. Seine Stimme verzagte, er strauchelte und erhob sich wieder, bis der Nebel sich plötzlich lichtete.
Der Atem stockte beim Anblick des Panoramas. Klare Sicht gab den Blick auf die von Nebeln umschlungenen düsteren Giganten frei, die sich gewaltig um ihn herum erhoben. Ergriffen verharrte der Wanderer knietief im Schnee. Wenige Meter trennten den Norn nun noch von dem höchsten Punkt des Berges. Er ließ seinen Rucksack fallen und zog die Rolle heraus, der Zeitpunkt war gekommen. Sein Gebet und seine Bitte würde er nun, da er dem Himmel so nahe war, den Geistern übergeben. Den Geistern, dem Wind, der Sonne, dem Regen, den Wolken, einer jeden Himmelsrichtung. Die Last des Nebelgangs fiel von ihm ab und er erklomm die letzten scheeverwehten Hürden nach oben mit Leichtigkeit. Er öffnete die Rolle, zupfte den Inhalt heraus und im gleichen Augenblick, da er die Blätter vor sich streckte, wurden sie ihm auch schon von einem starken Windstoß aus den Händen gerissen. Ein Schauer durchzuckte den Mann, eisig lief es ihm den Rücken herunter. Dieser Augenblick stellte den absoluten Gipfel spiritueller Berührung dar, den der Norn jemals erfahren hatte. Es war ihm als habe ihn der Flügelschlag von Rabe selbst tief im Inneren berührt. Er taumelte, überwältigt von diesem Gefühl und fiel zurück in den Schnee. Der Moment währte Stunden, Tage, Monate und Sekunden nur zugleich. Mit aller Wucht ergriff ihn eine Erkenntnis, so klar wie Kristall und so scharf wie eine Klinge, die ihn mitten ins Herz traf und einen bitteren Schmerz in des Mannes Brust hinterließ.
XIV - Blut im Schnee (von Camra)
Ihr Unterarm spannte sich um seine Kehle, und sie hielt den immer wieder bockenden Mann in einem eisernen Griff. Ihr auf der Höhe seiner Hoden gegen sein Wams gedrückter Dolch tat sein übriges, allzu motivierte Fluchtversuche zu verhindern. Dennoch ließ Camras Gefangener keinen Zweifel daran, dass er seine Lage zutiefst verabscheute.
Ein paarmal hatte er schon versucht, ihr ins Gesicht zu spucken - bevor sie sich halb hinter ihn gedreht hatte, um genau das vermeiden zu können. Er stank, als hätte er die heißen Quellen seit Wochen nicht besucht, und mit jeder Woge der ekelhaften Mischung aus ungewaschenem, verschwitztem Körper, fettigem Haar und einigen anderen Komponenten, über welche die Jägerin lieber nicht nachdenken wollte, fiel ihr das Atmen schwerer. Sie hatte sich schon schwer genug dazu überwinden müssen, diesen Kerl nicht gleich zu seinen Kumpanen auf die ewige Reise zu schicken, doch sie brauchte Antworten.
"Gar nichts sa'ch Dir, Du dreckiges Weib, Du Hurenfotze!" geiferte der Svanir-Jünger und lachte dreckig. Kaum einer seiner bisherigen Sätze war ohne Flüche ausgekommen, dass er wie alle anderen Frauen verabscheute, zeigte er nur allzu deutlich. "Wirst's eh nich' versteh'n, mit dei'm weich'n Weiberherz'n, das is' 'ne Angeleg'nheit für echte Männer! Für Männer, die wiss'n, wo sie hingehör'n un' was sie tun müss'n, damit hier wieder endlich all's richtig läuft!"
"Was soll denn richtig lauf'n?"presste die Jägerin zwischen den Zähnen hervor. Sie war zwar kräftig, aber durch die Mühen der letzten Tage nicht auf der Höhe ihrer Kraft. Und ihr linker Arm schmerzte von der Wunde, die ihr der Svanir im Kampf beigebracht hatte, bevor sie ihn zu Boden hatte bringen können.
"Verstehste ja doch nich', Blondschopf, dafür biste zu jung un' hast zuviel Titt'n," lachte der Svanir heiser und wand sich erneut in ihren Armen. "Wart' nur, bis meine Brüder komm'n un' Dich erwisch'n, dann wirst Du uns kenn'ler'n ..."
Langsam drückte sie den Dolch deutlicher gegen seine Leibesmitte, was ihn erstarren und leiser werden ließ. Verblendet und fanatisch mochte er sein, aber wie die meisten Männer hing er dann doch am Beweis seines Geschlechts.
"Warum streift ihr hier durch die Gegend, hm? Sag's mir und ich lass Dich lauf'n, dann hast Du wenigstens noch die Chance, irgendwas in Dein'm lausigen Leben richtig zu mach'n!" knurrte sie leise, mit jenem Unterton, der bei einer Leopardin ihr Gegenüber vorsichtig gemacht hätte.
"Von mir wirste nichts erfahr'n, Du jämmerlich's Weib, un' von den ander'n auch nich' - die werd'n Dich nur hernehm'n, wie's ner Fotze wie Dir gebührt un' dann schneid'n 'se Dir die Finger ab, langsam, ein'n nach'm andern, un' wenn'se mit Dir fertig sin', lass'n se Dich lieg'n, damit'de Dein verdammt's Leb'n über leid'n musst!" Wieder erklang sein spöttisches, der normalen Welt so weit entrücktes Lachen, dass sie die Aussichtslosigkeit ihres Versuchs erkannte. Er war jenseits von Gut und Böse, so sehr in seiner Welt des Hasses gefangen, dass nicht einmal ihre Drohung, ihn zu entmannen, etwas ändern würde.
"Der Drache wird mächtig werd'n, Du wirst's schon seh'n, dummes Weib, un' ihr werdet alle untergeh'n, wenn's geschieht ... groß wird's sein un' Macht bring'n ..ha, ihr unwissenden Geisterlecker, ihr werdet's nie versteh'n ..." Seine Stimme wurde undeutlich, er brabbelte immer mehr zusammenhangloses Zeug über Jormag und den Ruhm des Rachen, den ewigen Ruhm der Svanir-Bruderschaft, bis die Jägerin schließlich beschloss, genug gehört zu haben. Der Schnitt ihrer Klinge war schnell und gnädig, gnädiger, als sie es selbst von ihm hätte erwarten können. Glücklicherweise sah es nach Schnee aus. Keuchend schleppte sie die Leichen der beiden anderen seines Trupps herbei und grub ihnen mit bloßen Händen im Schnee eine Kuhle, dann bedeckte sie die leblosen Körper vollständig. Auch wenn sie fehlgegangen waren, ihr ganzes Leben einem Irrsinn gewidmet hatten, der die Welt brennen lassen konnte, gab es doch irgendwo jemanden, der um sie trauern würde. Der vielleicht jetzt schon trauerte. Und vielleicht würden die Geister ihren einstigen Kindern gnädig sein.
Ein Feuer konnte sie nicht riskieren, so musste es ein kaltes Grab tun. Ihr Arm schmerzte, erst jetzt konnte sie sich der Verletzung widmen. Es war ein tückischer Schnitt mit einer gezackten Klinge gewesen, der in ihr Fleisch wie in ein Stück Dolyakmilchkäse geschnitten hatte. Aus einem kleinen, irdenen Töpfchen aus ihrem Reisebündel nahm sie etwas Salbe auf die Finger und rieb die Wunde damit ein, dann verband sie das Ganze notdürftig mit einem langen Streifen Leder. Bei ihrer nächsten Rast würde sie es nähen müssen, worauf sie sich jetzt schon nicht freute.
Das war der Nachteil, wenn man alleine reiste. Es gab niemanden, der einem half, wenn es Not tat - dennoch haderte sie nicht mit diesem Gedanken. Sie würde später Schutz bei einer der abseits gelegenen Dolyakzüchterhütten suchen und hoffte dort auf Hilfe. Schweigend ließ sie den Blick über den aufgewühlten Boden schweifen. Wo sie sich mit dem Svanir gewälzt hatte, war Blut im Schnee, leuchtete grell gegen das unschuldige Weiß. Auch dies musste sie bedecken, schaufelte langsam mit beiden Händen Schnee über die Flecken, bis das rot nicht mehr durchschimmerte. Wenn der neue Schnee kam, würde die Stelle des Kampfes verborgen bleiben.
Die ersten beiden Svanir zu töten war leicht gewesen. Zwei gut gezielte Schüsse mit dem Bogen, durch die Luft zischendes Unheil in Pfeilform, zwei Treffer, zwei Tode. Den dritten hatte sie verfehlt, und dieser hatte erstaunliche Schnelligkeit entwickelt, um ihr Versteck im Schatten der Bäume zu erreichen. Ihn hatte sie nur verwunden wollen, jetzt war sie verwundet. Camra biss sich auf die Lippen und blickte in den Himmel. Schon waren die Wolken zusammengezogen und als die ersten Flocken herab rieselten, atmete sie auf. Wenigstens das Wetter schien heute auf ihrer Seite zu sein. Und die Zeit - sie suchten schließlich immernoch.
Hätten sie Sjór schon, gäbe es die Suchtrupps nicht mehr. Die Vermutungen des Rastrudels schienen zu stimmen, bei den Svanir gärte etwas, und wenn es so groß wäre, wie der Svanir es angedeutet hatte, behielt auch die Jägerin Recht. Sie würden nicht mehr suchen, sie würden sich zusammenrotten und feiern. Grimmig stieß sie den Atem aus und folgte den in der kalten Luft zerfasernden Wolke warmer Atemluft mit dem Blick. Leopardin, schütze Deine Tochter Sjór und verbirg sie vor den Augen ihrer Feinde, flüsterte Camra stumm. Bisher hatte die Jungschamanin Glück gehabt, oder ihre Spuren gut verwischt. Aber Camra wusste, dass Glieder irgendwann müde wurden, das Handeln nachlässig. Und Glück konnte einen verlassen, meist dann, wenn es am wenigsten zu brauchen war.
Andere hatten sich nicht so viel Mühe gegeben, ihren Kampf gegen die Svanir zu verbergen. Sie war auf Tote gestoßen, die von einer Urgewalt vernichtet zu worden schienen. Die Kampfspuren deuteten auf einen mächtigen Hammer und einen Krieger hin, der damit umzugehen wusste. Es hatte ihr eine vage Genugtuung verschafft zu wissen, dass es nun ein paar Svanir weniger gab. Aber es waren noch immer zu viele, und sie suchten noch immer. Der wirbelnde Schnee ließ die Umrisse der Umgebung vor Camras Augen verschwimmen, ihr Blick verlor sich im Himmel, in dieser Mischung aus grau und blau, den kunstvoll geformten Wolken. Ein Punkt am Himmel ließ sie kurz stutzen, dann erkannte sie den eilig fliegenden Raben.
Seltsam getröstet lächelte sie. In der Einsamkeit der Schneeweiten, im Feindesland, war ihr die Erinnerung an die Nähe der Geister willkommen, erwärmte ihr Herz für einige flüchtige Momente. Der Rabe zog zielstrebig über ihr seine Bahn und war alsbald im Schneegewirbel verschwunden, dann richtete sich auch Camra wieder auf. Schon begannen die Kampfspuren unter dem Schnee zu verwischen, und die Jägerin nutzte die günstige Gelegenheit, dass der neue Schnee auch ihre Spuren verwischen würde, wenn sie sich nun auf den Weg machte. Wieder auf die Suche, wieder hinaus. Ihre Aufgabe war noch nicht beendet ...
XV - Kalte Angst (von Camra)
Die Spuren sprachen eine eindeutige Sprache. Selten waren sie auf Camras Suche so eindeutig gewesen wie an diesem Tag, und doch gefiel ihr nicht, was sie sah. Unterschiedliche Fußabdrücke im weichen Schnee, manche gar mit einem krustigen, harten Schneerand umgeben, der verriet, dass es hier mehrere Stunden nicht geschneit hatte, die klare Sonne etwas Schnee um die Spuren geschmolzen hatte, der sofort wieder gefroren war.
Im Klartext: Es waren alte Spuren, die unter den frischeren oft verschwunden waren, doch mit geübtem Auge waren sie noch zu entdecken. Auch diese Spuren führten in eine Richtung, die sich an anderen Orten bereits angedeutet hatte. Reglos verharrte sie in der Hocke, über die Spuren geneigt, als könnte mehr Geduld das unerwünschte Ergebnis in irgendeiner Weise verändern. Doch noch immer prangten vor den goldenen Augen der Jägerin die unbestreitbaren Tatsachen.
Mehrere Tage lang war sie den einzelnen Svanir-Gruppen gefolgt, hatte ihre Suche beobachtet. Wirklich koordiniert waren die Svanir-Jünger nicht vorgegangen, aber das hatte sie in den Tiefen ihres Herzens auch nicht erwartet. Jormags Anhänger gaben sich ihren wilden Emotionen, ihrem Hass hin. Wer sich zu sehr von seinen Gefühlen bestimmen ließ, plante nicht mehr sorgfältig. Und der Hass auf den Rest der Welt trieb die Drachenknutscher genug an, um eine so lange Suche durchzuhalten. Es ging rauh unter den Männern zu. Am vorangegangenen Abend hatte sie sich an eine Gruppe Svanir herangepirscht, die unter einem Felsvorsprung gelagert hatte. Die Gesprächsthemen, welche sie den zu ihr dringenden Wortfetzen hatte entnehmen können, waren erschreckend banal.
Manches hätte auch unter den Männern und Frauen von Camras eigener Sippe ausgetauscht worden sein, sie rissen Witze, machten sich gegenseitig 'runter. Aber dann, urplötzlich, hatte sich eine wilde Prügelei entwickelt, als einer der Jüngeren es gewagt hatte, gegen einen älteren Svanir zu sprechen. Das Recht des Stärkeren wurde unter ihnen mit eiserner Faust durchgesetzt. Der scharfe Geruch frischen Bluts war sogar bis zu Camra gedrungen, die sich unter ihr Fell verkrochen hatte.
Doch wirklich beuhruhigt schienen die Svanir nicht zu sein - sie hatten zwar einen unwilligen Wachposten aufgestellt, aber die Umgebung ihres Rastplatzes nicht abgesucht, bevor sie sich niedergelassen hatten. Ein Vorteil, den die Jägerin sofort für sich ausgenutzt hatte. Dennoch hatte sie Abstand halten müssen, um nicht durch einen zufälligen Blick eines müßigen Mannes entlarvt zu werden, und so konnte sie die gewünschten Informationen nur sehr mühselig sammeln. Sehr früh am Morgen war die gähnende Truppe wieder aufgebrochen und sie hatte sie ziehen lassen. Es gab noch andere, denen sie folgen konnte, und etwa bis Mittag waren die Wege der einzelnen Gruppen genauso verlaufen wie an den vorherigen Tagen.
Nach einem kargen Mittagsmahl aus getrocknetem Fleisch und etwas Schlaf im Schutz einer alten Jägerhöhle trieb Camra die nächste Svanirgruppe im Lauf des Nachmittags auf, doch dieses Mal hatte sich etwas verändert. Die Haltung der Männer schien sicherer, fast erfreut. Manche lachten lauthals, als müssten sie keinen Zuhörer befürchten. So sicher, so siegesgewiss. Kalte Krallen der Angst begannen, nach dem Herz der Jägerin zu greifen, als sich die Gruppe in die entgegen gesetzte Richtung der anderen vom Morgen zu bewegen begann. Sie zogen über die Schneeweiten, und als sie sich auf die Ferne konzentrierte, konnte sie zwei weitere Gruppen erspähen, die dasselbe taten.
Während die Sonne am Himmel in Richtung Abend ihre Bahn zog, steigerte die Jägerin ihr Tempo. Sie musste sich sicher sein, dass sie sich nicht täuschte. Dass der Eindruck, den die Bewegungen machten, der richtige war. Und die Spuren vermittelten eine eindeutige Sprache. Nicht nur diese drei Gruppen schienen mit einem Mal ein klar umrissenes Ziel zu haben, nein, es waren vor ihnen bereits andere unterwegs gewesen. Alte und neue Spuren, vom Wetter für Camra konserviert - und alle anderen, die bereit waren, darauf zu achten. Das Wäldchen in der Nähe gab ihr genug Deckung, dass sie nicht nur gehen, sondern laufen konnte, so schnell es das Unterholz und der Schnee zuließen.
Binnen der nächsten Stunde gönnte sie sich keine Pause, sondern hetzte ihrem Ziel entgegen, als sei sie die Beute, nicht Sjór. Erst als sie den nächsten Bergzug erreicht hatte, hielt sie inne, ließ sich Zeit, um wieder zu Atem zu kommen, und kletterte schließlich langsam empor, die bessere Aussichtsposition nutzend. Auch von diesem Beobachtungspunkt aus zeigte sich im Licht der beginnenden Dämmerung das erschreckende Bild, welches ihr die Spuren bereits gesagt hatten: kleine Gruppen, die zielstrebig in die gleiche Richtung zogen. Sie mussten Sjór gefunden haben, die Suche war zuende. Jetzt galt es, das Ziel ausfindig zu machen, dem sie zustrebten. Tief durchatmend verabschiedete sich Camra vom Gedanken an Schlaf und an ein Lagerfeuer. Inzwischen fühlte sie sich, als könnte sie eine ganze Woche lang schlafen, doch noch immer war ihre Aufgabe nicht beendet...
XVI - Blutspuren (von Lokke)
Lokke fluchte.
Es war ein ungewöhnlich langer Fluch, der diverse unansehnliche Körperteile besonders unansehnlicher Tiere beinhaltete. Leise schimpfend stapfte er durch den Schnee, zurück auf das Eis des Frusenfellbachs. Wie hatte er nur so dumm sein können? Natürlich gab es Umstände, die ihn entlasteten. Die Vision, die er hatte, kam plötzlich und heftig. Es brauchte einen Moment bis er wieder klar im Kopf war. Dazu waren sie alle aufgekratzt durch Eiks Verschwinden, und die Spur aus Holzperlen, die sie gefunden hatten, war ihr erster Lichtblick überhaupt. Sie alle waren nervös, fürchteten, dass sie bereits zu viel Aufmerksamkeit auf sich und ihre Suche gezogen hatten. Was, wenn Eik dafür büßen musste? Und nun, da die Trupps der Söhne Svanirs sich zurückgezogen hatten, mussten sie auch noch damit rechnen, dass sie Sjór in ihrer Gewalt hatten, Eiks Schwester. Selbst wenn es tatsächlich Eiks Vater war, der hinter all dem steckte und er etwas mit Eik vorhatte, Sjór hatte als Frau nur einen Wert für ihn: als Druckmittel gegen Eik.
Trotzdem.
Die Spur brach nach nur drei von fünf Perlen ab. Hatten sie die anderen beiden lediglich übersehen? Frostfang, der Wolf, der nur durch Wolfs besonderen Segen die Spur überhaupt hatte aufnehmen können, hatte genau an diesem einen Ort die Spur verloren und sie auch nicht wieder aufnehmen können, an dem ihn, den Rabenschamanen, diese Vision grenzenlosen Hasses überwältigt hatte. Und dann war da diese Blutlache auf dem Eis, ganz in der Nähe von einem Gehöft, in dem sie niemanden vorgefunden hatten, dem ersten, an dem der Weg der Entführer vorbeiführte. Und dennoch brauchte es erst Arkadias Versuch einer Vision, die genau an der selben Stelle abbrach, bis ihm klar wurde, dass auch die Svanirbrut einen Schamanen auf ihrer Seite hatte. Natürlich hatten sie einen. Und natürlich würde der versuchen ihre mystischen Spuren, ihre rituelle Signatur sozusagen, zu verwischen, so wie sie auch mit großem Erfolg versucht hatten ihre weltlichen Spuren zu verwischen.
Diese vergleichsweise einfache Schlussfolgerung hätte ihm eine Reise ersparen können, wenn er eher darauf gekommen wäre. Er schaute kurz zu dem kleinen Einmachglas in seiner Hand. Er würde etwas von dem festgefrorenen Blut mitnehmen, wenn er am Abend nach Löwenstein ging. Für Lothyr. Der würde Bescheid wissen, schließlich wusste er immer Bescheid, wenn es um Blut ging. Und sei es auch nur um seinen Verdacht zu überprüfen, dass es zwischen dem Blut, dem Ritual, das dort sehr wahrscheinlich stattgefunden hatte, und dem nahen, verlassenen Gehöft einen Zusammenhang gab.
Lokke selbst würde den Ort noch einmal ganz genau untersuchen, seine magischen Fühler ausstrecken, nach Schwachpunkten suchen. Es musste eine Möglichkeit geben diese Barriere zu überwinden. Ein Reinigungsritual vielleicht. Der Rabe kniete sich auf das Eis, wischte den frisch gefallenen Schnee beiseite. Rot. Das war die Stelle.
"Zwei sehr unterschiedliche Norn, hm? Hier, das Blut hat sich vollständig getrennt, ja?"
"Aye, hattest gestern schon sowas gesagt." Lokke besah sich die Phiolen noch einmal, die sein Freund Lothyr, der große hellgrau-weiße Charr mit den mächtigen Steinbock-Hörnern in seinen Klauen hielt. Der Nekromant hatte schon am Vorabend, als Lokke sich gerade seine schwere Rüstung in eine dem Löwensteiner Klima angemessenere Kleidung tauschte, einige Versuche mit dem Blut durchgeführt. Eine merkwürdige Apparatur hatte er aufgebaut, bei dem das Blut aus einer Vertiefung in der Mitte mittels Blutmagie über eine Art Kanalsystem in andere Vertiefungen geflossen war. Danach war völlig klar gewesen, dass es sich um zwei Sorten Blut handelte. Er hatte dieses Ergebnis vorhergesagt, seine Zunge war offenbar besonders empfindlich und taugte in dieser Hinsicht als magisches Werkzeug. Nach Abschluss der Tests hatte sich die eine Sorte als künstlich verdorben herausgestellt. Es wirkte fahl, ohne eigene Kraft. War das das Blut von jemandem, der sich ganz dem Drachen hingegeben hatte? War dies das Blut ihres Schamanen? Das andere Blut "schmeckte" nach Wolf, wie der Charr sagte, wirkte dabei sehr natürlich und strotzte nur vor Lebenskraft. Das klang nach Eik. Sehr sogar. Hatten sie so dafür gesorgt, dass jede Spur an diesem Ort endete? Hatten sie ihn so vor den Augen der Geister verborgen?
"Beide waren Teil eines schamanistischen Rituals, hm? Würde zu deiner Vermutung passen, ja? Der Schamane und Eik, ja?" Die grollende Stimme des Blutmagiers bestätigte in der Tat alles, was Aanika, Tuula und er selbst an Vermutungen hatten.
Lokke nickte. "Ich lass' mir was einfall'n um das andere Ritual auszutricks'n. Wir hab'n Vardas Blutsverbindung. Das muss sich doch nutz'n lass'n. Werd'n uns das morg'n nochmal anseh'n da. Wir hab'n Varda und wir hab'n Eiks Blut... Wär' ja gelacht, wenn wir da kein'n Weg drum herum find'n würd'n."
"Hmm, dann nehm ich die hier noch einmal mit, ja?" Lothyr wedelte leicht mit den Blutphiolen. "Treffen uns heute Abend wieder, ja? Wahrscheinlich habe ich dann etwas, was dir vielleicht helfen könnte. Nur vielleicht, hm?"
Der Rabenschamane war schon auf dem Weg nach draußen. "Ich werd' noch ein paar Sach'n besorg'n müss'n. Wir seh'n uns."
XVII - Intermezzo: "MEIN Botschafter?" (von Sheryna)
Folgendes Gespräch ergab sich gestern, ausgelöst durch weiße Schokoladencreme, die Lothyr Lando gebracht hatte, damit der Ärmste nicht verhungert:
L: Wir hatten noch kurz geredet (gemeint ist mit Lothyr), ehe Skretch kam. Hatte wohl noch eine Verabredung mit Lokke. Es geht irgendwie um diese Eik-Entführung.
Sheryna versucht gerade, Landos Lippen mit der Creme zu garnieren, zuckt zusammen und Lando bekommt einen schönen Schokostrich über die Wange: "Eik-Entführung?!?"
L: Mhm. Lothyr meint, mit dem Blut wäre ganz klar, daß ein von Jormag korrumpierter Svanir-Schamane dabei war. Aber irgendwie soll Eiks Vater da wohl auch mit drin hängen. Lokke und die anderen sind jedenfalls in heller Aufregung und wollen morgen wohl irgendein Ritual durchführen.
Sheryna faßt Lando an den Schultern und versucht ihn zu schütteln. Immerhin schleckt sie vorher noch ihre Finger sauber* Wie, was, wo? Seit wann ist Eik entführt? Und .. welches Blut? Wir .. müssen los und ihn suchen gehen! *aufgeregt hin und herrutschend*
Lando wirkt nur leicht geschüttelt, aber immerhin auch etwas gerührt.
L: Sheryna. Sein Rudel sucht nach ihm, schon über eine Woche. Die kennen sich da aus. Und die haben eine Blutlache gefunden, wo wohl Ritualmagie gewirkt wurde. Mit dem Blut des Schamanen. Und dem von Eik. Ich wüßte nicht, an welcher Stelle da jetzt Granaten und brennende Blumen nützlich sein könnten.
S: Ich gebe dir gleiche "brennende Blumen"! Wir können doch nicht einfach so herumsitzen, während Eik vermißt wird! Wir müssen etwas unternehmen. Irgendwas! Ich.. ich werde über diesen Svanir-Schamanen kommen, wie .. wie ein Feuersturm! Der wird sich noch an die Stelle eines Ebers wünschen, der über offenem Feuer geröstet wird! Eik zu entführen. MEINEN BOTSCHAFTER!
L. Wenn ich das richtig verstanden habe, dann ist erst einmal das _FINDEN_ das Problem. Dein Feuersturm würde also höchstens zu einer großen Schneeschmelze und vielen Norn mit nassen Füßen führen. Hab einfach ein bisschen Vertrauen. Die werden ihn schon finden. Und befreien.
Sheryna macht mehrmals einen Ansatz, aufzuspringen und bumpert immer wieder mit dem Hinterteil zurück, hin- und hergerissen* Ich .. ich kann doch nicht einfach herumsitzen, wenn ein Freund in Gefahr ist! *sieht Lando unglücklich an*
Lando greift nach einer Erdbeere und verhapst sie: Doch, doch. Können wir.
S: Wie kannst du in Ruhe Erdbeeren essen! Während Eik irgendwo gefangen gehalten wird und vermutlich hungert?!?
Lando hebt eine Augenbraue: "Es würde Eik überhaupt nicht helfen, wenn diese frischen Erdbeeren und diese leckere Schokoladencreme schlecht werden. Und ich vertraue Lokke und seinen Freunden. Die haben eine Chance Eik zu finden, die um ein Vielfaches größer ist als .. daß ich hungrig einfach über ihn stolpere.
Sheryna schaut zwischen Schokoladenschale und Landos Kopf hin und her.* Aber.. aber, aber.. Ach bei Balthasars feuriger Lanze, Lando. Wie kannst du so verdammich vernünftig sein?
Lando greift schmunzelnd nach einer weiteren Erdbeere, tunkt diese in die Creme und bietet sie Sheryna an.* Weil _EINER_von uns beiden das hin und wieder sein sollte. Jetzt bin ich gerade dran.
Ach pfeif drauf! *Sheryna schnappt etwas hastig mit den Zähnen nach der Erdbeere* Ich muß mich während der Arbeit die meiste Zeit vernünftig und zurückhaltend benehmen. Jetzt habe ich Freizeit und ... grrrr... ich hasse es, untätig herumzusitzen, nichts tun zu können, wenn ein Freund Hilfe braucht
Lando lacht leise und nimmt die Weingläser auf, bietet eines davon Sheryna an* Wenn sie Hilfe brauchen, werden sie sich schon melden, hm? Dann kannst du immer noch Feuer auf Irgendjemanden regnen lassen.
Aber .. *Sheryna nimmt das Glas mit einem Ruck aus seiner Hand, viel zu hippelig gerade, um es ruhiger angehen zu lassen. Prompt schwappt der Inhalt über* .. uh.. aber wenn sie gar nicht daran denken, daß wir helfen könnten? Weil sie vor Sorge gar nicht richtig denken können?
L: Selbst wenn Lokke mal nicht richtig denken kann, ist er immer noch schlauer, als die meisten Leute, die hier in Götterfels herumrennen. Und das wird nur zum Teil durch Varda wieder ausgeglichen. Es sollte jedenfalls reichen, daß er sich noch an seine Freunde erinnern kann, sonst hätte er ja auch Lothyr nicht um Hilfe gebeten, wo der helfen konnte.
S: Aber.. aber.. Lothyr! Warum dann mich dann nicht? Eik... _MEIN_Botschafter! *empört, wie sich das Jemand überhaupt erdreisten kann*.
Lando schmunzelt* Ernsthaft? Wenn er Blut untersucht haben will, wendet sich Lokke schon besser an Lothyr, hm? Wir beide sind dann dran, wenn etwas verbrannt gehört oder so. Langsam glaube ich, daß _Lokke_ derjenige ist, um dessen gesundes Denkvermögen ich mir gerade am wenigsten Sorgen machen muß. Ah, und Prosit! *prostet Sheryna zu*.
S: Mhm, Prost. *wohl nur mit einem viertel Ohr zuhörend, was vermutlich für Landos Gesundheit gut ist, und an ihrem Wein nippend* Aber! *hah, doch noch einen Einwand gefunden, ja ja* Warum hat mich dann nicht irgendwer informiert? Ich wäre doch sooofort los und hätte mitgeholfen. Beim Suchen, beim .. Verhören.. bei.. irgendwas!
Lando blinzelt Sheryna an und trinkt dann einen Schluck* Erstens: genau deswegen. Und zweitens: Wer hätte dich denn informieren sollen? Der Norn-Botschafter?
S: Ja, natürlich! Dafür ist der doch d... *blinzelt und sackt in sich zusammen* Menno!
(Durch die geschickte Diskussionsführung seitens eines Ratsherren sowie ein nachfolgendes nicht minder geschicktes Ablenkungsmanöver konnte so verhindert werden, daß ein wütender, um einen Freund besorgter Rotschopf plan- und ziellos durch die Zittergipfel irrt. Lauthals ihre Versprechen an alle Svanir, die es hören mögen oder auch nicht, in die Nacht hinausrufend, was sie alles mit ihnen anzustellen gedenkt, wenn sie nicht SOFORT _IHREN_Botschafter herausrücken.)